Paula von Preradović
Pave und Pero
Paula von Preradović

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Pero

Wie ein Riesenbaum, an dessen Ästen und Zweigen bis an die feinsten Spitzen und bis hinauf in den unabsehbaren Gipfel anstatt der Blüten unzählige Sterne prangen, spannte sich in gleichmütiger Herrlichkeit die Mainacht funkelnd über den beiden Männern. Aus den Gärten duftete ein wilder Frühling, die Stadt lag in tiefem Schlafe, und es war nichts zu hören als das leise Rauschen des Monticano und das Davonrollen des Wagens, dem sie soeben entstiegen waren und der sich durch das Trevisanische Tor entfernte.

Pero und Toni standen vor dem Loroschen Hause und blickten an der Fassade empor, ob etwa irgendwo noch ein Lichtschein zu entdecken wäre. Doch alles war dunkel. Toni läutete bei dem unteren der beiden Klingelzüge an, und umstäubt vom zugleich leidenschaftlichen und doch gelassenen Sternlicht standen die Männer und lauschten.

»Wie fest sie schlafen. Wußten sie denn nicht, daß wir kommen würden?« Pero sah blaß und verfallen aus. Ein kleiner Koffer stand neben ihm auf der Schwelle.

»Vielleicht ist der Klingelzug nicht in Ordnung. Man könnte versuchen, die Amme zu wecken. Sie schläft nach vorne hinaus.«

Toni trat ein wenig vom Hause fort, um die Fenster besser übersehen zu können, da kamen hallende Schritte die Straße herunter, und ein Herr näherte sich von der Brücke her. Er war hochgewachsen und trug seinen auffallend schmalen Kopf mit stolzer Haltung auf den sehr geraden Schultern.

Als er die beiden Offiziere vor dem Hause stehen sah, näherte er sich, ohne zu überlegen, stellte sich als Bruder der Hausfrau vor, drückte in höflichen Worten sein Beileid an dem schweren Verlust aus und machte sich 328 erbötig, seine Schwester herunterzuläuten, bei der er noch vor einer halben Stunde geweilt habe und die, obgleich nicht viel auf Mitternacht fehle, gewiß noch nicht zu Bett gegangen sei. Er zog kräftig an dem oberen Klingelzug, und in der Tat erschien alsbald an einem der Fenster Licht, wanderte nieder, und die Haustür wurde von innen geöffnet.

Herr Antonio Loro richtete einige erklärende Worte an seine Schwester und verabschiedete sich von den Herren; Toni begrüßte Frau Biba ehrerbietig, stellte seinen Schwager vor und bat mit gedämpften Worten um Vergebung wegen der Störung.

Frau Biba wehrte kopfschüttelnd ab. »Kommen Sie nur zu mir herauf. Wir wollen gleich sehen, wie wir den Herrn Doktor oder die Vizza wach bekommen. Nehmen Sie aber zu allererst eine Tasse Kaffee bei mir. Ich habe vorhin für meinen Bruder welchen gekocht, er wird Ihnen nach der langen Fahrt wohltun.«

Die alte Frau ging geschäftig voraus und vermied es, mit Pero ins Gespräch zu kommen. Als dieser im Vorzimmer seinen Mantel ablegte, zog sie Toni in die Stube und fragte hastig: »Was weiß er?«

»Daß sie tot ist, aber nicht, wie sie gestorben ist«, flüsterte Toni. Sie ging nun abermals ins Vorzimmer und bat Pero einzutreten.

»Ein trauriger Anlaß, der Sie herführt, Herr Major. Ein tieftrauriger Anlaß. Ich habe Ihre Frau und Ihr Töchterchen herzlich lieb gehabt.« Und Biba, die harte Frau, trocknete sich die Augen. Als sie aus einer Silberkanne, über die eine wollene Haube gezogen war, Kaffee eingoß, bebte ihre Hand.

»Er ist noch warm, er wird Ihnen gut tun.«

Pero vermochte nicht zu sprechen. Er biß sich auf die Unterlippe, und alle Muskeln seines Gesichtes zitterten. Nach einer Weile ergriff er die Tasse und tat ein paar Schlucke, und Toni sagte leise zu Frau Biba: »Er hat es ja erst heute abend gehört.«

»Wir trauern alle mit Ihnen, Herr Major«, sagte die 329 Padrona di Casa, und als Pero etwas entgegnen wollte, fügte sie hinzu: »Sie brauchen nicht zu sprechen, ich kann mir denken, wie Ihnen zumute ist. Herr Hauptmann, wollen Sie vielleicht jetzt versuchen, ob Sie unten jemand wecken können. Ihr Schwager muß zur Ruhe kommen.«

»Ja. Es ist die dritte Nacht, die ich unterwegs bin«, gab Pero leise zu. Als Toni sich eben erhoben hatte, wurde draußen geklopft, und er eilte hinaus. Es war Miho. Die Schwäger standen in dem finstern Zannonerschen Vorzimmer dicht beisammen.

»Seid ihr es also? Ich hörte jemand die Treppe hinaufgehen.« Und dann tat er die gleiche Frage wie Frau Biba: »Wieviel hast du ihm gesagt?«

»In Udine, gleich als er mich beim Posthaus traf, fragte er, wie es Pave gehe, und ich sagte: ›Sehr schlecht. Wir zweifeln an ihrem Aufkommen.‹ Da hat er nur sehr tief geseufzt und ganz leise den Kopf geschüttelt. Als wir dann Udine schon hinter uns hatten und durch die lange Allee zu fahren begannen, hat er mich beim Arm gepackt und gefragt: ›Toni, sag mir die Wahrheit. Lebt Pave noch?‹ Da konnte ich nicht anders, ich mußte weinen und habe ihm gesagt, daß sie an Gehirnentzündung gestorben und schon begraben ist.«

»Und wie hat er es aufgenommen?«

»Er hat bitterlich zu schluchzen angefangen und konnte sich lange nicht beruhigen. Aber als er wieder imstande war zu sprechen, hat er gesagt: ›Ich habe es ja gewußt. Mihos Brief war deutlich genug!‹ Er hat wenig geredet, war ganz vernichtet und sehr müde. In Codroipo hat er dann etwas gegessen. Da er noch gehofft hatte, Pave am Leben zu finden, war er schnell und ohne Aufenthalt gereist und hatte den ganzen Tag über kaum etwas zu sich genommen. Nun sagte er: ›Jetzt habe ich ja keine Eile mehr.‹ Er hat schweigend gegessen, vor sich hingeschaut und nur immer den Kopf geschüttelt. In San Vito haben wir Wagen und Pferde gewechselt.«

Miho stand im Finstern, fröstelnd vor Erregung: »Und das Schlimmste steht ihm noch bevor.« 330

»Sage es ihm heute nicht mehr!« bat Toni. »Er muß jetzt schlafen.«

»Wie es mich davor schaudert, ihn zu sehen!« sagte Miho, ehe er die Tür zu Frau Bibas Stube öffnete.

Schweigend und in tiefem Ernste umarmten die beiden Männer einander, schweigend grüßten sie Frau Biba, und die drei Schwäger gingen die Treppe hinab. Durch das Fenster des Treppenhauses, daraus Pave so oft fallenden Regen und prangenden Sonnenuntergang gesehen hatte, schaute sternenstrahlend die Maiennacht.

*

Die kleine Miliza lag glückselig im Bett bei ihrem Vater. Als Pero nach tiefem, totenähnlichem Erschöpfungsschlaf am hellen Morgen erwacht war, hatte er darum gebeten, man möge ihm sein Töchterchen bringen, und Santa hatte das kleine Mädchen, das noch im Nachthemdchen war, aus Bepis und Mihos Schlafzimmer herübergetragen.

Mit beiden Armen griff Pero nach dem hübschen, zarten Kind, das ihm jauchzend entgegenstrebte und sich nun zärtlich lachend an den Vater schmiegte. Pero wandte sein Gesicht auf dem Kissen dem ihren zu, betrachtete mit wehen, bohrenden Blicken ihre wohlgebildete Stirn, die schelmisch lachenden Augen, die zarte, gerade Nase und den schönen, kleinen Mund. Er strich ihr über das Lockenhaar und die festen Wangen, er küßte und liebkoste sie lange, ohne ein Wort zu sagen. Das Kind lächelte, aber das Schweigen des Vaters wurde ihm endlich unheimlich.

»Bist du in der Nacht mit dem Wagen gekommen, Miu?« fragte es leise.

»Ja, mein Kind, ja, meine kleine Miliza«, sagte er, und seine Stimme klang rauh. »Ich bin in der Nacht mit dem Wagen zu meiner kleinen Miliza gekommen.« Dann lag er wieder lange still, spürte die süße Wärme des kleinen Kinderkörpers an dem seinen, suchte mit stummem 331 Forschen Paves und Cotias Züge aus dem ahnungslosen Gesichtchen herauszufinden, streichelte und küßte es. Santa hatte auch den kleinen Duschan hereingebracht, der Knabe jedoch, der sich in der Zwischenzeit sehr verändert hatte, war dem Vater fremd erschienen und hatte keine Erinnerung in ihm geweckt. Da der Kleine überdies beim Anblick des unbekannten Männergesichtes zu weinen begonnen hatte, war Pero zufrieden gewesen, als Santa ihren Pflegling wieder hinaustrug.

Nun hörte Miliza wieder die Stimme des Vaters dicht an ihrem Ohr: »Sag mir, Miliza, wo ist denn die Mau?«

Das kleine Mädchen, stolz, daß es Auskunft geben konnte, richtete sich ein wenig auf dem Ellenbogen auf: »Die Mau ist nach Wien gefahren.«

»Und die Cotia?« fragte der Vater weiter.

Auch diese Frage wußte Miliza zu beantworten: »Die Cotia ist im Himmel!«

Pero sah sie lange an: »So hat der Miu also nur mehr seine Miliza«, sagte er leise.

»Ja, und den Duschan und den Miro und die Tante Bepi und den Onkel Miho und den Onkel Toni und die Santa und die Vizza.« Mit unerschütterlicher Geläufigkeit zählte Miliza alle Hausgenossen auf.

»Ja, mein gutes Kind, mein armes Kind!« hörte sie ihren Vater wieder sprechen. »So viele sind da, aber zwei sind nicht mehr da. Die brave Miliza aber wird beim Miu bleiben, wie?«

»Ja, die Miliza bleibt immer beim Miu?« schmeichelte das Kind und drängte sich an den Vater. Dieser schloß es in die Arme, drückte und küßte es leidenschaftlich, dabei gedachte er der frühen Zeiten seiner Ehe, da diese selbe Miliza ein lallendes Kind gewesen war und Pave sie mitunter zwischen sich und ihren Gatten in das Ehebett gehoben hatte. Was für ein Zwitschern und Lachen, ein Necken und Kichern war das gewesen in der fernen, fernen Zeit! Er sah Pave vor sich in ihrer prangenden Jugend, das edle Gesicht von dunklen Locken umrahmt, ein duftiges Nachtgewand über den weißen 332 Schultern. Ja, mitunter hatte sie sehr froh sein können, mitunter hatte sie es verstanden, ihn auf eine unbeschreiblich süße Art zu locken und zu reizen, so daß er gemeint hatte, vor Liebe zu ihr vergehen zu müssen. Mitunter hatte er nichts, rein gar nichts von der trüben Trauer, die sie oft übermannte, an ihr verspürt, und sie war die Schönste, die Froheste, die Leichteste und Lichteste von allen Frauen dieser Welt gewesen.

Miliza hörte ihren Vater tief seufzen und sah mit Schrecken, daß Tränen aus seinen Augen kamen. Der Miu weinte! Nie, nie hatte sie etwas so Beängstigendes und Bedrückendes gesehen, sie wagte nicht, ihn anzublicken und zog die Decke über die Augen. Da aber hörte sie schon wieder seine Stimme ganz ruhig sagen: »Nun müssen wir aber aufstehen.« Sogleich auch fühlte sie sich von Santa ergriffen und in die Kammer zu Duschan getragen, wo die Amme sie wusch und ankleidete, während man den Vater nebenan herumgehen und im Wasser plätschern hörte.

Bepi hatte in dem dunklen Gefühl, daß man an diesem schweren Tage Pero kaum durch etwas anderes beistehen konnte als durch treue Fürsorge, den Frühstückstisch reichlicher als sonst bestellt. »Ihr müßt ja hungrig sein, ihr Armen!« sagte sie zu Pero und Toni. Miho war schon zu seiner Praxis gegangen, doch hatte er versprochen, bald nach dem Frühstück wiederzukommen. Bepi hatte Pero mit großer Bewegtheit und Erschütterung begrüßt, ihn schluchzend umarmt, wortlos den Kopf an seiner Schulter geborgen und seinen Ärmel gestreichelt; ein unheimlich süßes Gefühl, als sei es Pave, die an ihm lehne, hatte ihn beschlichen, um so heftiger, als Bepis durch die Schwangerschaft verschmälertes Gesicht ihn beim ersten Anblick in erschütternder Weise an die Verstorbene erinnert hatte.

Pero saß am Tisch und sah mit seltsam ängstlichen und ratlosen Blicken umher, während Bepi ihn umsorgte, Kaffee eingoß, Butterbrote strich und Honig darauf träufelte, und Toni mit traurig versonnenem Gesicht 333 stumm sein Frühstück verzehrte. Noch hatte eigentlich niemand das Gespräch auf die beiden Todesfälle gebracht; man hatte sich so verhalten, als sei Pero ohnedies von allem unterrichtet und als gelte es jetzt einzig, ihn zu stützen, zu umhegen und ihm seine Trauer erträglicher zu machen.

Pero stellte seine Tasse nieder, sah Toni mit einem verlorenen Blick an und sagte mit kläglichem und verzerrtem Lächeln, wobei der eine Mundwinkel wie durch einen Krampf nach abwärts gezogen wurde:

»Das Unbegreifliche ist, daß man so Entsetzliches erleben kann wie ich, und daß man doch noch ißt und trinkt, als wäre nichts geschehen. Wenn mir jemand vorhergesagt hätte, ich würde an einem gedeckten Tisch sitzen und Honigbrot essen . . .« Er vollendete den Satz nicht, sondern sah starr vor sich hin und schüttelte wieder langsam den Kopf.

»Gott sei Dank, daß du essen, trinken und schlafen kannst!« sagte Bepi eifrig. »Das eben war das Unglück bei der armen Pave, daß sie sich völlig ihrem Schmerz hingegeben hat; daran ist sie zugrunde gegangen.« Sie war wieder emsig bemüht, Brote zu streichen, diesmal für Toni, und sah Pero nicht an. Dieser blickte hilflos von einem Gesicht zum andern, seine Augen flehten darum, man möge ihm die traurigen Umstände offenbaren, ohne daß er danach zu fragen brauchte, aber niemand schien seiner Bitte gewahr zu werden, so daß er sich endlich entschloß, mit jener gepreßten und vorsichtigen Stimme sich vernehmlich zu machen, mit der man Fragen stellt, die man schon stunden- oder tagelang auf der Zunge hat und von denen man glaubt, daß niemand gern auf sie antworten wird: »Wie hat Paves Krankheit denn eigentlich angefangen?«

Nun aber ging es den Geschwistern nicht anders, als es Pave ergangen war. Sie suchten immer neue Vorwände, um die schreckliche Mitteilung hinauszuzögern.

Toni zeigte sich sehr beschäftigt, die von Bepi gestrichenen Brote zu verzehren, und er sah verstohlen nach 334 ihr hin; sie jedoch hatte bemerkt, daß ein dicker Tropfen Honig auf das Tischtuch gefallen war, und während sie aufmerksam bemüht war, ihn mit einem Messer fortzuschaben, sagte sie: »Sie hat sich so schrecklich gekränkt. Und da sie doch schon vorher nicht gesund war, ist es eben so bös gekommen.«

Pero saß sehr blaß und ohne sich zu bewegen auf seinem Stuhl und richtete wieder seine fragenden Augen auf die Geschwister. »Ja, so ist der Ausbruch der Krankheit wohl zu erklären«, sagte er. »Aber wie hat sie sich zuerst geäußert?«

Toni, den Peros Blick getroffen hatte, murmelte: »Ich war nicht dabei. Miho hat mir erst geschrieben, als es schon zu Ende gegangen war.« Und Bepi sagte: »Du mußt Miho um alles dieses fragen, er wird dir die beste Auskunft geben. Was weiß man denn als Laie von einer solchen Krankheit.«

Und nun war Toni plötzlich sehr besorgt wegen des Klingelzuges und ermahnte Bepi, ihn durch den Spengler untersuchen zu lassen, denn er habe nicht funktioniert, als sie gekommen waren, und es könnte doch jemand Miho bei Nacht holen wollen. Bepi war aufgestanden, deckte eifrig den Tisch ab, rief Vizza und gab ihr Anweisungen, und Pero fand lange nicht die Möglichkeit, die nächste Frage zu stellen, die ihm auf der Seele brannte: »Wie waren die letzten Stunden? Hat sie jemand erkannt?«

»Alles ist sehr schnell gegangen«, sagte Bepi, die aber gerade in diesem Augenblick Duschan aus dem Nebenzimmer weinen hörte und mit dem Ausruf: »Wo bleibt nur wieder die Amme!« davoneilte.

Toni sah ihr nach: »Sie ist so besorgt um deine Kinder, Pero, als wären es ihre eigenen.«

»Das mag ein Trost sein, mein lieber Toni, aber du mußt mir verzeihen, wenn ich heute noch nicht das richtige Verständnis dafür aufbringen kann.« Und plötzlich brach es mit bitterer Klage aus Pero: »Ist es denn nicht furchtbar, daß diese armen kleinen Kinder nun 335 mutterlos sind!« Er stützte die Stirn in die Hand, und Toni sah an der krampfhaften Bewegung seiner Schultern, daß er weinte.

Nach einer Weile begann Pero wieder zu sprechen:

»Wenn ich mich erinnere, wie sie im November aus Wien abgereist sind! Damals im Wagen, auf der Fahrt zur Bahn, waren wir also zum letztenmal alle beisammen, Pave und Cotia und wir andern, die wir geblieben sind. Ach, Toni, wie soll ich denn die armen Kinder nun aufziehen, ich, ein Offizier, immer auf dem Sprung und noch dazu in diesen unruhigen Zeiten!«

»Sei ruhig, Pero«, sagte Toni und machte eine ungeschickte Bewegung nach dem Schwager, als wollte er seine Hand ergreifen, »wir Geschwister der Pave werden deine Kinder nicht verlassen.«

Pero sah ihn mit schwachem Lächeln an: »Es kommt viel über mich in diesen Tagen. Heut haben wir den sechzehnten, am dreizehnten habe ich erfahren, daß Cotia gestorben und Pave schwer erkrankt ist, gestern, am fünfzehnten, hast du mir gesagt, Pave sei hoffnungslos krank, und eine Stunde später, sie sei tot. Wenn ich mir vorstelle, wie seelenruhig ich heute vor einer Woche gewesen bin! Was wird denn heute und morgen und übermorgen noch über mich hereinbrechen?«

Toni sah Pero bange an, ohne jedoch ein Trosteswort über die Lippen zu bringen, und er empfand es als bedeutende Erleichterung, als er von draußen Mihos Stimme vernahm. Dieser betrat gleich darauf das Zimmer und ließ seine Blicke sofort fragend und ängstlich auf Toni ruhen. Dann begrüßte er Pero sehr herzlich, aber mit einer gewissen vorsichtigen Gehemmtheit, und dieser bat ihn, sich nun zu ihm und Toni zu setzen, damit er im Zusammenhang alles über die beiden Todesfälle erfahren könne. »Bepi sagt mir, über Paves Krankheit könntest nur du mir Auskunft geben. Wie waren die letzten Stunden? Du mußt es mir genau sagen, ebenso wie von Cotia!« Als er aber die beiden Schwäger stumm vor sich hinstarren sah, sagte er heftig: »Ich habe soviel verloren. 336 Begreift ihr denn nicht, daß ich wenigstens alles wissen muß? Nicht einmal das Datum der Tage, an denen meine Lieben gestorben sind, habe ich bisher erfahren können!«

Miho machte eine unruhige Bewegung, er runzelte die Stirn und schien sprechen zu wollen. Da aber legte Toni die Hand auf Peros Arm und sagte mit zitternder, aber nicht klangloser Stimme: »Lieber Pero, was nützt es? Wir müssen dir die Wahrheit sagen. Die arme Pave ist ertrunken.«

Es gab Pero einen Ruck, er riß die Augen in großem Schrecken auf und hielt sich mit beiden Händen an der Tischkante fest. »Was soll das nun wieder sein? Sie war doch krank?« fragte er fassungslos. Toni, der seinen Arm nicht losließ, sah ihn nun voll an und sagte beschwörend: »Pero, es ist sehr schwer, auch für mich, denn sie war meine Schwester. Pave hat diesen Tod gesucht. Sie hat sich selbst . . .!« Hier vermochte er nicht weiter zu reden.

Pero saß wie versteinert, die Augen sprangen ihm in sprachlosem Entsetzen hervor, wie tiefe Striemen liefen die Furchen von der Nase zu den wie im Krampf tief hinabgebogenen Mundwinkeln nieder. Ein Zittern befiel ihn, und aus seinem Munde kamen in sekundenlangen Pausen langgezogene, unartikulierte Laute abgründiger Qual. Miho sah ihn tief erschrocken und betroffen an und ergriff sein Handgelenk: »O Gott, dieser arme Pero! Komm, willst du dich niederlegen? Nimm einen Schluck Wein! Der Puls ist gut. Pero, sei ein Mann! Ja, es ist fürchterlich, aber sie hat es jetzt überstanden.« Er hatte alle diese Sätze nacheinander herausgestoßen in der Hoffnung, den Schwager dadurch aus seiner Verkrampfung zu wecken, was ihm auch gelang. Peros starre Haltung löste sich, sein Blick gewann wieder Leben, er befreite seine Hände und sagte, indem er noch stärker als zuvor den Kopf schüttelte: »Sie hat es selbst getan! Pave hat es selbst getan! Ja, du lieber Himmel, warum denn? Warum denn?« Als niemand sprach, fuhr er heftig fort: »Könnt ihr es euch erklären? So redet doch! Warum kann sie es getan haben? Wegen Cotia?« 337

»Wegen Cotia, gewiß«, sagte Miho, »aber noch aus andern Gründen wohl. Wir denken doch Tag und Nacht darüber nach, seit es geschehen ist.«

In Pero kam nun Leben: »Ich muß alles wissen, alles, alles muß ich wissen, von Anfang an, von Cotias Tode an. Das ist ja furchtbar! Man wird verrückt über solchen Rätseln!«

In der Tür erschien Bepi und sagte, nachdem sie einen Augenblick zugehört hatte: »Du weißt es also, Pero?«

Pero wandte sich zu ihr und sagte in so jammervollem Ton, daß es allen ins Herz schnitt: »Ja, Bepi, jetzt weiß ich es. Aber ihr müßt mir nun alles, alles sagen. Alles müssen wir ergründen. Setze dich auch zu uns, Bepi, du bist ja wohl am meisten mit ihr gewesen.«

Man sah es Bepi an, daß sie diesem Gespräch lieber ferngeblieben wäre, aber Miho gab ihr einen Wink mit den Augen, und so ließ sie sich neben Toni auf dem Sofa nieder: »Hier, an Tonis Platz ist sie gesessen und hat mir beim Nähen der Vorhänge geholfen, bevor sie fortgegangen ist, um das Schreckliche zu tun.« Bepi stieß einen stöhnenden Laut aus und bedeckte das Gesicht mit den Händen.

»Wann war das, Bepi? Wann, ganz genau?«

»Das war am vierten dieses Monats, am Vormittag.«

»Solange schon!! Und wann ist Cotia gestorben?«

»Cotia? Am 23. März.«

»April, meinst du wohl?«

»Nein, März.«

Nun kommt das Allerschlimmste, dachte Bepi, und ihr Gatte und ihr Bruder dachten dasselbe.

»Das ist doch nicht möglich«, sagte Pero, und sein Gesicht wurde ganz rot. »Pave hat mir doch den ganzen April über durchaus vergnügte Briefe geschrieben. Niemand hat mir etwas mitgeteilt. Was liegt denn hier vor? Was habt ihr denn getan, ihr alle hier?« Er stützte sich plötzlich mit den Händen auf den Tisch, erhob sich halb und sah mit sprachlos entsetztem, zornigem Gesicht von einem zum andern. 338

Miho seufzte, hob die Schultern und sah Pero sehr bekümmert, aber ruhig an. »Ja, Pero, das alles sieht sich sonderbar an, das begreife ich; es ist hier eine Kette von Unglück zusammengekommen, und auch Schuld ist dabei, aber nicht so, Pero, hörst du, wie du es vielleicht jetzt denkst.«

»Das müßt ihr mir erklären. Ich fasse es nicht. Ich begreife es nicht. Am 23. März soll das Kind gestorben sein! Habt ihr einen Totenschein?«

»Ja, Pero, selbstverständlich haben wir den. Höre mich an, du sollst alles wissen, soweit es uns selbst bekannt ist. Denn sie, die alle Rätsel lösen könnte, ist ja nicht mehr bei uns.«

Und in langsam qualvollem Forschen, Fragen und Reden erfuhr Pero nun die ganze traurige Folge von Paves unstillbarem Kummer um Cotia und dem Wunsche, den sie wahrscheinlich gehegt, dem geliebten Gatten diesen Kummer zu ersparen; von den kleinen Mißverständnissen und Unterlassungen, von Mihos Überanstrengung durch die Epidemie, die seinen natürlichen Widerwillen gegen das Briefschreiben verstärkt hatte, um so mehr als er glauben mußte, Pave habe Pero längst verständigt. Bepi erzählte von Paves Entrüstung, als sie einen Kondolenzbrief habe schreiben wollen, von Paves Reizbarkeit und Traurigkeit, die alles Fragen und Zureden unmöglich gemacht habe, um so mehr, als sie selbst unpäßlich und schonungsbedürftig gewesen sei.

Pero hörte schweigend zu und stellte nur da und dort eine Frage. Er saß zusammengesunken und mit hängendem Kopfe da und blickte grüblerisch von einem der Sprechenden zum andern.

Vizza hatte längst den Tisch für das Mittagessen gedeckt, die Speisen auf- und wieder abgetragen. Miho war zuweilen fortgegangen, doch stets bald wiedergekehrt, aber immer noch, bis in den sinkenden Nachmittag, saß die Frau mit den beiden Männern um den Unglücklichen, und sie erzählten ihm die Geschichte seiner Heimsuchung. Frau Biba hatte Miro und Miliza für den ganzen Tag zu 339 sich hinaufgenommen. »Was heute geredet wird, ist nichts für diese jungen Ohren. Kinder verstehen oft mehr als man denkt«, hatte sie gesagt, sie beide an der Hand genommen und in ihre hellen Stuben hinaufgeführt.

Wieder und wieder ließ Pero sich alle Geschehnisse von Paves Todestag erzählen. Wie sie mit heimlichen Tränen dagesessen und an den Vorhängen genäht, wie sie Miliza zuerst fortgewiesen, sodann aber doch mit ihr ein Versteck gesucht hatte. Wie sie in ihr Zimmer gegangen, lange ausgeblieben und endlich in Hut und Schleier und mit etwas hervorhängenden Haaren wiedergekommen war. Wie sie Miliza geküßt und versprochen hatte, Fräulein Marietta zu grüßen. Von den letzten Begegnungen und Gesprächen erzählte Bepi, die ihnen berichtet worden waren, und von sich selbst, wie sie unterdessen emsig weitergenäht hatte und weniger und weniger habe begreifen können, was Pave so lange bei der alten Jungfer tue. Daß sie schließlich sehr unruhig geworden sei und sich nur mit der Annahme getröstet habe, Pave sei wohl zum Friedhof San Giovanni gegangen und werde mit Miho zurückkommen.

»Es war schon halb zwei Uhr, als ich endlich Mihos Wagen hörte«, erzählte Bepi. »Ich war sicher, daß Pave mit ihm heraufkommen würde, aber leider kam Miho allein und gleichzeitig mit ihm der Tapezierer. Da ich einen Teil der Vorhänge schon morgens in Paves Zimmer gelegt hatte, ging ich dorthin, um sie zu holen. Sogleich sah ich auf der Kommode einen Brief, der aufgestellt an einer Schachtel lehnte, und daneben eine Haarsträhne. Ich wollte mir zuerst nicht eingestehen, daß ich augenblicklich alles begriff. Ich stürzte hin, las die Aufschrift ›An Pepi und Miho‹, riß den Brief auf und muß geschrien haben, denn Miho war gleich bei mir und nahm mir den Brief aus der Hand.«

»Ich fand Bepi ganz außer sich«, fiel ihr Miho ins Wort, »ich durchflog den Brief und stürzte davon.« Bepi schaltete ein: »Dabei hat er immerfort gerufen: ›Wo soll ich sie nur suchen? Wo soll ich sie nur suchen.‹« 340

»Unten«, fuhr nun Miho fort, »sagten mir verschiedene in der Nähe wohnende Leute auf meine Fragen, sie hätten Pave vor geraumer Zeit gegen die Brücke gehen sehen. Ich lief also zum Monticano, Titta, der Schneider Saccon, der Maler Carlo Satti, und viele andere Leute schlossen sich mir an. Wir fanden gegenüber dem Wäldchen des Franziskanerklosters ihre Mantille und ihren Hut. Titta stürzte sich ins Wasser, doch war es so trüb, daß das Suchen sehr schwer war. Ein Kahn wurde gebracht und mit Stangen weitergesucht, aber vergeblich. – Dem Maler Carlo Satti habe ich manches abzubitten. Wir hatten ihn alle für einen eitlen und kindischen Menschen gehalten, nun widmete er sich der Rettungsaktion mit soviel Mut und Eifer, er stellte sich so umsichtig dabei an, daß ich ihm die Leitung überließ, während ich wieder nach Hause lief, um mich nach Bepi umzusehen, um deren Zustand ich in großer Sorge war. Unterdessen war ein zweiter Kahn gebracht worden, man suchte weiter und hat die arme Pave endlich etwa achtzehn Schritte flußabwärts von der Stelle, wo sie Hut und Mantille hingelegt hatte, unterhalb eines kleinen Ulmenbäumchens gefunden. Das war gegen drei Uhr, also etwas mehr als eine Stunde, nachdem wir mit dem Suchen begonnen hatten. Man brachte sie sofort in ein Haus am Ufer und stellte alle Arten von Wiederbelebungsversuchen an, aber sie ließ sich nicht mehr zurückrufen.«

Miho stöhnte. »Du kannst dir nicht denken, Pero, was das für mich bedeutet, dir diesen Bericht geben zu müssen. Ich habe deiner Familie mein Haus geöffnet, und statt Heil ist Unheil daraus entstanden. Wir hatten alle den besten Willen, aber ein Unstern war über uns. Trag es uns nicht nach!«

»Wie sollte ich euch etwas nachtragen«, sagte Pero und suchte sich zu straffen und aufzurichten. »Nein, euch trage ich nichts nach!«

Ohne Übergang erhob er sich und äußerte die Absicht, auf den Friedhof zu gehen und die Gräber zu suchen.

»Soll ich mit dir kommen?« fragte Toni. 341

»Zeige mir den Weg und dann laß mich allein gehen!«

Als die beiden durch das Trevisanische Tor und über den Hauptplatz zum Dom gekommen waren, fragte Pero plötzlich leise: »Ihr habt mir noch nicht gesagt, wie es möglich war, daß man Pave das kirchliche Begräbnis zugebilligt hat. Es war ja doch ein Selbstmord.« Er sprach das furchtbare Wort zögernd und ohne Toni anzublicken.

»Der alte Dompfarrer, dort – siehst du? – gegenüber der Kirche ist sein Pfarrhaus – soll tief erschüttert über den Fall gewesen sein. Er ließ sich alles genau erzählen und entschied, daß eine so gute Frau, wie Pave es gewesen war, eine solche Tat nur in Sinnesverwirrung begangen haben konnte. Er schien sie zu kennen, vielleicht hatte sie bei ihm gebeichtet. Er soll auch einmal bei Bepi gewesen sein und sich sehr besorgt nach Pave erkundigt haben. Leider war sie selbst damals nicht zu Hause.«

Pero hörte schweigend und sehr aufmerksam zu und sah sich noch einmal nach dem Pfarrhause um.

»Und das sage ich dir, Pero: diese ganze Sache scheint rätselhaft. Aber ich bin ganz sicher, daß Pave nur in dem liebevollen, aber abwegigen Bestreben, dich zu schonen, in dieses Elend hineingeraten ist. Sie war auch so übergewissenhaft, vielleicht glaubte sie, sich wegen irgendeines Versehens bei der Pflege Vorwürfe machen zu müssen. Miho aber schwört, daß sie Tag und Nacht nicht vom Bett des Kindes gewichen und die beste, treueste Pflegerin gewesen ist.«

Sie waren nun außerhalb der Stadt. »Geh den Weg hier, Pero, dann kommst du zu der langen Allee und kannst nicht mehr fehlgehen. Paves Grab ist an der Mauer, rechts vom Tor; Cotietta liegt neben der Tür zum Campanile.«

Pero ging langsam zwischen den Büschen und Hecken dahin, denselben Büschen und Hecken, durch die Cotias Särglein geführt worden war, durch die Pave in ihrer armen Qual rastlos gewandert und durch die vor elf Tagen ihre Leiche zur Ruhe gebracht worden war. Auf allen Feldern standen Mais und Weizen hoch und 342 wiegten sich im Wind, der Sauerklee blühte und sammelte summende Bienenvölker über sich, jubelnde Lerchen trillerten zu Häupten des einsam Schreitenden. Er aber ahnte nicht, wie oft diese seligen Vögel Paves gramvolles Wandern mit ihrem jauchzenden Gesang begleitet hatten, er ahnte nicht, wie schleppend ihr armer Fuß den Boden berührt, ein wie schweres Herz sie durch den lachenden Frühling der venezianischen Ebene getragen hatte.

Während er durch die friedlich-fruchtbaren Felder ging, vorbei an den hell grünenden Weinstöcken, zwischen denen die Maulbeerbäume ihr dunkleres Laub breiteten; während die überschwänglich heitere Üppigkeit einer gesegneten Landschaft ihn umduftete und umschwirrte, meinte er, auf einem Meer von Schmerz und bittersten Rätseln dahinzutreiben, und die Frage nach dem Sinn seines fürchterlichen Schicksals hielt sein Herz wie in eisernen Klammern fest. Ein fressendes Weh begann sich in ihm auszubreiten wie ein finsterer Qualm, wenn er bedachte, wie elend Pave gelitten hatte, wie heldenhaft töricht ihr Schweigen gewesen war und wie leicht er ihr hätte helfen können. Je weiter er ging, je länger die Bäume der Allee ihn begleiteten, desto verzweifelter wurde er über die Unlösbarkeit aller dieser Fragen. Sollten aus einer Fülle von Mißverständnissen und kleinen Versäumnissen heraus sein Heim, das Heil seiner Kinder, die heilige Gemeinschaft seiner Ehe zertrümmert worden sein? Warum, warum hatte Pave ihm das getan? Warum hatte sie, aus Liebe, wie Toni sagte, ihn so unwiederbringlich beraubt und, um ihm ein Leid zu ersparen, das zu tragen er stark genug gewesen wäre, ihm das tausendfach schwerere ihres Verlustes zugefügt?

In seinem Herzen stieg es auf wie Zorn. Warum hatte sie ihm nicht vertraut? Hatte sie ihn denn für so schwach gehalten? Warum hatte sie ihn belogen, ihn nicht herbeigerufen, ihm nicht gesagt: Hilf mir! Warum hatte sie aus hoffnungsloser Angst ihrer aller Leben zerstört?

Der Totengräber, der gegenüber dem Friedhof in einem kleinen Häuschen wohnte und dessen muntere 343 Kinderschar den trübe blickenden fremden Offizier mit heiterem Staunen umkreiste, bezeichnete ihm die beiden Gräber, und Pero betrat mit einem eigentümlichen Gefühl von trauriger Neugier den Totenacker. »Hier also ist es!« war das einzige, was er zunächst zu denken vermochte, und erst als er zwischen den fremden Gräbern hindurch zu Paves frischem Hügel trat, packte ihn wieder die übermächtige Verzweiflung. Man hatte Pave nahe dem Eingang an der niederen Mauer beerdigt, eben dort, wo sie den Blick in die Allee freiließ, durch die er eben gekommen war. Er schaute auf die frische Erde ihres Grabes nieder, auf dem einige Kränze lagen; dabei fiel ihm ein, daß er seinen beiden Toten keine einzige Blume gebracht hatte. Da bückte er sich mit herb verkrampftem Gesicht, pflückte am Rand von Paves Grab, wo der Totengräber seinen Spaten nicht hatte walten lassen, ein paar unscheinbare kleine Gänseblümchen, die harmlos dort standen, und trug sie zu Cotias Hügel, auf den er sie niederstreute. Neben Cotias Grab aber fand sich keine einzige Blüte, so riß er etwas Gras vom Boden ab und legte es zwischen die verwesenden Kränze bei Pave. Dies alles tat er mit bitterem Munde, in seinen Zügen lag in diesem Augenblick nicht Trauer, sondern Ingrimm. Als er, seine Kappe in der Hand und den Radmantel über die Schulter geschlagen, wieder an Paves Hügel stand, meldete sich keine Regung liebender Trauer in seinem Herzen. Das anklagende: »Warum hast du uns das getan?« klang als einziger Laut in ihm wieder, es hallte und dröhnte und erweckte ein schauerliches Echo im Raume seiner Seele, der gänzlich leer schien vor übergroßer Qual. Durch sein Stehen auf diesem ländlichen Kirchhof schien all das Viele besiegelt, das er heute aus den endlosen Berichten wie eine fremde Mär in sich aufgenommen hatte, fast als etwas, das sich vielleicht noch als Phantasiegespinst herausstellen würde und widerrufen werden konnte.

Hier lag seine Frau, hier hatte man ihren vom Wasser aufgeschwemmten Körper eingesenkt und aus besonderer 344 Güte und Nachsicht hatte man ihr diesen Platz innerhalb der geweihten Umfriedung gewährt. Er sah finster auf das unordentliche Gewirr der Kränze nieder und wie Blasen vom Grunde eines Gewässers stieg nur immer wieder die Frage in ihm auf: »Wie konntest du das tun?« Da er aber länger und länger mit gesenktem Haupte stand, schien es ihm plötzlich, als sickere wie ein lichter Nebel Paves Qual aus der Erde empor; sie stieg ihm bis zu den Hüften, sie rührte an sein Herz, sie hüllte ihn ein und Pero erkannte mit einem Male, was die Frau gelitten hatte in ihrer unberatenen Verlassenheit, in ihrem blutenden Muttertum, beim rührend-unseligen Versuch, noch in ihrer Hilflosigkeit ihm zu helfen. Er sah sie ihr schönes, verzweifeltes Gesicht durch die Schwärze dieser Wochen tragen, er sah sie kämpfen, irren und untergehen. – Sein bitterer Mund senkte sich, seine Augen, trocken seit dem Morgen, vergossen wieder Tränen, und sein Herz fand das Wort, das über diesem Grabe einzig am Platze war: Arme Pave!

Mit leisen Schritten trat er sodann zu Cotias Grab neben der Tür zum Campanile. Es befand sich noch keinerlei Kreuz oder Schrift darauf, doch lagen auch hier verdorrte Kränze auf dem kleinen Hügel und obenauf mehrere große Margueritensträuße in verschiedenen Stadien des Verwelkens.

»Ob noch Pave diese Margueriten hierhergelegt hat?« dachte er und ihm graute.

Dann aber grüßte er sein Kind mit tiefer Zärtlichkeit.

»Meine Cotia! Meine kleine Cotia! Nie habe ich irgend etwas auf dieser Welt mehr als dich geliebt. Und dennoch hätte ich deinen Tod ertragen, wie man alles auf dieser Welt ertragen muß. Warum aber hast du deine Mutter mit hinabgezogen? Warum hast du dem Miu das angetan? Warum habt ihr mir das getan, ihr beiden, daß ich jetzt so elend verlassen bin? Wollt ihr auch mich hinabziehen, ihr grausam süßen Gesichter, ihr lockenden Augen, ihr winkenden Hände? Bin ich nicht jetzt im Tode fester beheimatet als im Leben, da Pave tot ist und 345 du, Cotia, mein Liebling? Bist du so stark, Cotia, daß du die Macht hattest, deine Mutter zu rufen, bis sie gekommen ist, bist du um so vieles stärker als ich, daß der Gedanke an mich und meinen Gram sie nicht im Leben zurückzuhalten vermochte? Wirst du auch mich solange rufen, bis ich dir Folge geleistet habe? Bist du eine solche Zauberin, du Kleine, du Süße, daß man zu dir kommen muß, wenn du es willst? Die Welt ist mir öde und schal geworden ohne dich, meine holde Vila, und ohne Pave, die bei dir ist. Willst du mir eine Stätte bereiten, so will ich kommen und mit dir spielen und alles verlassen, was mein ist.«

Die weiße Kirche mit ihrem Campanile lag rosig angehaucht vom Abendschein; die Tür nach dem Heiligtum stand offen, aber Pero betrat es nicht. Wie eine Giftblume von betörender Schöne war bestrickende Todeslockung in seinem Herzen aufgegangen, während er am Grabe seines Kindes gestanden hatte. Er überblickte den Kirchhof, der, von hohen Bäumen und Feldern umgeben, friedlich in der Landschaft lag, er bemerkte mancherlei gemeißelte, alte Gruftplatten und bunte, blumengeschmückte Grabstätten und er fand, daß dies ein schöner Ort war. Eine fremdartig weiche, hingegebene Stimmung hatte ihn erfaßt und nichts wollte ihm zu dieser Stunde wünschenswerter erscheinen, als sich neben Cotias kleinem Grabe niederzulegen und nie wieder aufzustehen. Was hätte er verlassen? Seine Kinder? Andre würden sich ihrer annehmen. Sein Dichtertum? Andre würden statt seiner singen und die Menschen dieser Zeit aufrufen. Sein Volk? Hatte es nicht bessere Söhne als ihn? Seine Soldatenpflicht? Standen im Armeeschematismus nicht Hunderte von Majoren, die ihn für Kaiser und Reich entbehrlich machten? War nicht alles eitel neben dem Glück, an diesem Friedensorte an Cotias Seite zu rasten, über sich das sanft wehende Gras der Hügel, rötliche Abendwolken und die trillernden Lieder der Lerchen?

Während Pero in wehmütig seliger Verlorenheit auf 346 Cotias Grab niederlächelte, schlug es vom Campanile sieben Uhr. Er erschrak und erinnerte sich des weiten Weges, den er zurückzugehen hatte. Er durfte die Armen, die wahrlich genug Leid und Schrecken erduldet hatten, nicht in Angst versetzen. Er grüßte die beiden Gräber mit den Augen und eilte durch die Allee der Stadt zu. Auf seinem Gesicht lag ein sehnsüchtiger, jenseitiger Ausdruck, die Starre des Vorwurfs war daraus gewichen, aber Toni erschrak vor der krankhaften Fremdheit seines Blickes, als er ins Zimmer trat.

Bepi kam rasch herein: »Ist er da? Gottlob!« Sie war sehr blaß. »Die Miliza weint, sie hat gefürchtet, der Miu sei wieder nach Wien gefahren.«

Da fiel die unterirdische Lockung, die süße Sehnsucht, sich gleich Pave fortzustehlen und neben Cotia von aller Qual auszurasten, im gleichen Augenblick von Pero ab. »Wo ist meine Miliza?« rief er. »Der Miu ist hier. Er bleibt hier. Der Miu und die Miliza gehören zusammen.«

Und er nahm das schluchzende kleine Mädchen in die Arme und küßte es viele Male.

*

Später, als die Kinder zu Bett gegangen waren, nahm Bepi ein weißes Blatt aus ihrem Nähkorb und fragte Pero befangen, ob er Paves Abschiedsbrief zu sehen wünsche. Er ergriff den in hastigen Schriftzeichen auf ziemlich steifes, arg zerknittertes weißes Papier geschriebenen Brief und las mit Grauen Paves letzte Botschaft.

»Meine Lieben! Da ich dieses unglückselige Leben nicht mehr ertragen kann, will ich es zerstören, und ich bin sicher, daß niemand, der mich kennt, meinen Schritt verdammen wird. Du, Bepi, sei die Mutter meiner Kinder, denen ich als einziges ein kurzes Leben wünsche. Wenn sie alt genug sind, um es zu verstehen, und wenn sie irgendeine Erinnerung an ihre Mutter haben sollten, so gib ihnen diese meine armseligen 347 Haare, auf daß sie einige Tränen darauf fallen lassen mögen, deren ich sehr bedarf. Tröstet meinen Pero, dieses geliebte Wesen, und bittet ihn, mir zu verzeihen. Nochmals lebt wohl! Es sendet Euch den letzten Gruß die unglückselige

Pave.«

Beide schwiegen lange. Pero hielt den Brief in der Hand und drehte ihn hin und her.

»Auf die Kommode hat sie ihn gestellt?«

»Ja, so sah ich ihn gleich. Ach, warum bin ich nicht früher in ihr Zimmer gegangen?!«

»Bepi, wenn sie sterben wollte! Wenn sie nicht die Kraft hatte, zu leben! . . . Wobei wurde der Brief so zerknittert?«

»Miho riß ihn mir aus der Hand und warf ihn dann fort, weil er wegeilte, um sie zu suchen. Wahrscheinlich ist es dabei geschehen.«

Pero stand auf und wanderte unruhig im Zimmer auf und ab.

»Ja, Bepi, ich habe nun noch mancherlei Wege zu machen, um alle diese Dinge genau aufzuklären und festzustellen. Bis Ende Mai möchte ich bei euch und den Kindern bleiben und dann nach Zara fahren, um Valerio und den andern Geschwistern den traurigen Sachverhalt genau mitzuteilen. Der erste meiner Wege wird es jetzt sein, die Stelle ihres Todes aufzusuchen.« . . .

Paves Todesweg am Ufer des Monticano auszuschreiten, schien Pero fast noch schwerer, als es gestern gewesen war, an ihrem Grab zu stehen. Miho zeigte ihm alle Plätze, an denen das bittere und rätselhafte Geschehen sich abgespielt hatte: die Stelle, wo der Maler Satti ihr begegnet war, das Ulmenbäumchen, dessen ins Wasser reichende Wurzeln ihren wohl schon entseelten Körper aufgehalten, den Grasfleck, wo Hut und Mantel gelegen waren. Pero ging mit verschlossenem und gespanntem Gesicht hinter dem Schwager her, er stellte nur die notwendigsten Fragen, und Miho achtete sein Schweigen. Der strahlende Maitag, der schon ein heißer 348 Sommertag war, lag in unsäglicher Bläue über dem Flußlauf mit seinen heiter grünen Ufern, ein paar harmlose Menschen kamen ihnen entgegen, die sie allerdings im Vorbeigehen neugierig betrachteten und wispernd die Köpfe zusammensteckten.

An der Stelle, wo man die Sachen gefunden hatte, ließ Pero sich ins Gras nieder und sah in die Wellen hinab, die mit kleinen Wirbeln und Stromschnellen lustig dahintanzten. Weiße Schmetterlinge hielten sich über der Wasserfläche.

»Was sie gedacht haben mag, als sie sich hinabließ?« sagte er leise, aber er erwartete keine Antwort, und Miho gab auch keine.

*

Im Pfarrhaus wurde Pero durch eine alte Frau mit steilen Gesichtszügen unter dem schwarzen Kopftuch geöffnet. Der steingepflasterte Vorraum, in den er trat, enthielt wenige glatte und schöne Möbel aus der Zeit des Ersten Napoleon, gelbe Schränke, die sich in edler Rundung wölbten, eine lange, rohrgeflochtene Bank mit ebenso gelben Holzrahmen, an der Wand ein paar Stiche.

Was der Herr wünsche?

Ob der Herr Pfarrer Don Raffaello zu sprechen sei.

Sie wolle einmal sehen.

Sie öffnete eine zur Linken gelegene Tür, und Pero hörte zuerst schwere und schlapfende Schritte und sodann eine tiefe und gequetschte Altmännerstimme »Eh?« sagen, worauf die Frau etwas erwiderte und wieder erschien. Der Herr möge ein wenig Platz nehmen, forderte sie Pero auf, verschwand eilig im Hintergrunde und kam mit einem Paar großmächtiger schwarzer Schaftstiefel wieder, die sie vor Pero zu verbergen suchte, was ihr jedoch nur unvollkommen gelang. Ersichtlicherweise war der Herr Pfarrer in Pantoffeln gewesen und wünschte sein Schuhwerk zu wechseln, bevor er den Gast empfing.

Alsbald jedoch ging die Tür wieder auf, und Pero erblickte einen großen und dicken alten Mann in grünlich 349 schillernder Lüstersoutane. Aus einem faltigen und tiefgefurchten Gesicht blickten ihn über einer schief und wild vorspringenden Nase sehr freundliche graue Augen an. »Bequemen Sie sich, Herr Oberst! Hier herein, wenn's gefällig ist!« Pero gelangte nun in ein Zimmer, wo auf einem großen Mitteltisch vielerlei Schreibereien ausgebreitet waren, ein Papagei in einem Käfig saß und ständig »Papagallo d'or! Papagallo d'or!« schrie, worauf sein Herr ein löchriges grünes Tuch über den Käfig warf. Eine Katze schnurrte, und in einem offenen Schrank waren Stöße von Papier, von gebundenen Schreibbüchern und Faszikeln zu sehen. Die Schreibereien auf dem Tisch schob der Pfarrer zusammen, den Schrank schloß er, die Katze jagte er aus dem Zimmer, obwohl sie sich vollkommen ruhig verhalten hatte, dem Papagei jedoch reichte er ein Stück Zucker in seine Verfinsterung hinein, ehe er Pero aufforderte, Platz zu nehmen. Es war ersichtlich, daß dem geistlichen Herrn bange war vor dem Gespräch, das folgen mußte, und daß er es darum durch so vielfache Hantierungen ein wenig hinausschieben wollte.

»Der Herr Oberst aus Wien, vermute ich«, begann Don Raffaello die Unterhaltung.

Pero nannte seinen Namen und fügte hinzu, daß er nur Major sei.

»Ach was, Oberst, Major, das bleibt sich gleich«, polterte der Pfarrer. »Sie kommen wegen dieser traurigen Geschichte, wie?«

Pero räusperte sich. »Sie haben sich in der schrecklichen Angelegenheit sehr gütig verhalten, Herr Pfarrer, ich möchte Ihnen danken . . .«

»Zu danken ist da gar nichts, Herr Major, gar nichts. Die arme Frau war ihrer ganz gewiß nicht mächtig, als sie das tat. Was glauben Sie denn? Das war doch eine gute Frau, eine tugendhafte Frau, eine liebende Mutter, eine getreue Gattin. Aus irgendeiner Angst, wie sie manchmal die Frauen packt, hat sie das Unglückselige getan. Der Tod des kleinen Mädchens hat sie krank 350 gemacht. So jemandem werden wir doch nicht ein ordentliches Begräbnis verweigern! Nein, nein, nein! Da kennen Sie den Don Raffaello schlecht.«

Der Pfarrer fuhr mit dem Arm auf dem Tisch herum, er schob das große Tintenfaß und den Streusandbehälter von rechts nach links, er sammelte die losen weißen Blätter und häufte sie auf einen Stoß und schließlich kam es ihm in den Sinn, den Schreibkiel, der strohtrocken auf dem Tintenzeug lag, mit einem tuchenen Tintenwischer umständlich zu putzen.

Pero hatte sich stumm und dankend verneigt und brachte nun die Bitte vor, ob der Herr Pfarrer ein Requiem für die Verunglückte zu feiern sich bereit finden würde.

»Ein Requiem, freilich, freilich, darüber reden wir nachher. Werde nachschauen, wann wir's machen können. Aber etwas anderes wollte ich Sie fragen, Herr Major. Bin froh, daß Sie zu mir gekommen sind. Hören Sie, ich hoffe, daß Sie Ihrer Frau verziehen haben, daß Sie ihr nichts nachtragen, wie?«

Pero fühlte sich zunächst etwas verletzt über diese Frage, sie schien ihm indiskret und anmaßend. Aber gleich darauf empfand er sie fast als Wohltat.

Er sah den grotesken alten Mann, der ihm in der schäbigen Soutane rastlos wetzend gegenübersaß, mit seinen übernächtigen, gequälten Augen an und faßte ein kindliches Zutrauen zu dieser schlichten, kauzigen Ehrlichkeit. Tat es nicht gut, daß er zu jemandem von der Schauerlichkeit seines Erlebnisses reden durfte, der wie ein treuer Vater daran teilzunehmen schien? »Ob ihr ich verziehen habe, Herr Pfarrer? Ach, sie hat mich doch mit meinen armen kleinen Kindern allein gelassen. Unser aller Leben hat sie zerstört! Warum, warum hat sie das getan!« Pero schwieg, überwältigt von dieser Frage, die ihn weder bei Tag noch bei Nacht losließ.

Der Pfarrer machte ein wildes Gesicht, er stemmte die Arme auf den Tisch, schob den Kopf vor und glotzte Pero entrüstet an. 351

»Warum sie es getan hat? Mein lieber Herr, zu ihrem Vergnügen nicht! Wissen Sie, warum? Aus Liebe und Herzensangst! Fragen Sie doch nur den Signor Miho und seine Frau Gemahlin, wie die Arme sich gequält hat! Glauben Sie mir: aus Liebe zu Ihnen ist sie so unglücklich geworden.«

Pero dachte an Tonis Worte vom gestrigen Nachmittag. Aber die Bitterkeit in seinem Herzen wollte nicht abnehmen. War es denn nicht fast noch schlimmer, wenn man das Gute wollte und das Böse tat, wenn so entsetzlich ausfiel, was man gut gemeint hatte? Er schwieg und biß sich auf die Lippe.

Der Pfarrer wartete sichtlich auf eine Antwort. Als keine erfolgte, nickte er schwer, stützte sich noch breiter auf seine Arme, streckte Pero sein zerpflügtes, schluchtenreiches, großnäsiges Gesicht entgegen und sagte tiefernst: »Mein lieber Herr Major, ich will Ihnen etwas sagen: es gibt schauerlich viel Leid auf der Welt. Ein alter Priester wie ich weiß das. Wenn wir da immer ›Warum‹ fragen wollten! Tragen müssen wir's und punktum. Wollen Sie vielleicht vor lauter Warum-Fragerei auch in den Monticano gehen, damit Ihre Kinder ganz allein dasitzen? – Na also!«

Im Vorzimmer wurde ein Gescharre von schweren Füßen hörbar.

»Madonna benedetta, kommen die schon wegen der Taufe? Also das Requiem, warten Sie, übermorgen, den 19. Mai, um neun Uhr, paßt Ihnen das?«

Er drückte Pero kräftig die Hand, und dieser fühlte sich an einer bäurischen Taufgesellschaft mit einem krähenden Säugling vorbei zur Tür hinausgeschoben.

*

Die Orgel donnerte und dröhnte.

Wie brandendes Wintermeer, wie heulende Böen, wie das Schreien der Möven im Borasturm fuhr es daher und füllte Sansovinos helle Kirche mit den Schaudern des 352 Jüngsten Gerichtes, während das Licht des Maienmorgens durch die hohen Fenster fiel. Posaunen kündeten das Unabwendbare, Fagotte klagten und bäumten sich auf, und die hellen Töne der Geigen flehten jammernd um Barmherzigkeit.

Menschenstimmen aber, hohe und tiefe, Stimmen von Männern und Stimmen von Frauen, sangen das uralte Lied von Gottes Rachetag:

Dies irae, dies illa
Solvet saeclum in favilla
Teste David cum Sibylla.

Pero kniete, und der furchtbare Gesang drang auf ihn ein wie Sturzseen sich auf das Deck eines irrenden Bootes ergießen, und wie jäh aufspringender Wind sich im zu spät gerefften Segel fängt. Hilflos kniete er, er sah Don Raffaello nicht, der im schwarzen Ornat das Traueramt zelebrierte, er sah nicht seine Verwandten neben sich in der schwarz verhüllten Bank und nicht die Menschen, die das Schiff der Kirche füllten.

Einsam und preisgegeben vernahm er die großartige Anklage, den Aufruf, der jedes Widerspruchs spottete, die schauerliche Verkündigung der Rache und des Zornes.

Quantus tremor est futurus.

»Zittern und Beben wird sein, erscheint der allwissende Richter, für den keine Finsternis finster ist.«

Nichts wird verborgen bleiben, keine Schuld wird dem Auge des Richters entgehen, Tod und Leben werden schaudernd Zeuge sein, wie alle Kreatur aufsteht zu letzter Rechenschaft.

In Worten, die ihre Donnergewalt aus ihrer schlichten, kindlichen Unbedingtheit nahmen, ward das Letzte und Äußerste an Gefahr angedroht, die Vergeblichkeit verkündet, vor solchem Stuhle das Geringste verbergen zu können, ward angeklagt und schuldig gesprochen. 353

Wer ward hier angeklagt? Wem ward gedroht? Wer ward gerichtet und abgetan?

Galt Pave all dies Donnern und Dröhnen, ihr, für die dies Requiem gesungen wurde?

War es ihr Verschweigen und Verhüllen, ihr Verzweifeln an Gottes Barmherzigkeit und an seiner, Peros, Liebe, war es ihr freventlich vorweggenommener Tod und das Leid, das sie Mann und Kindern getan, die hier vor das Angesicht des Richters gerufen wurden?

War sie es, deren Schuld gewogen, deren Sünden gezählt, deren Versagen verewigt werden sollte?

Würde Gott Qual häufen auf ihre Qual und sie nicht als gerechtfertigt ansehen, die über das Maß ihrer schwachen Kraft hinaus gelitten hatte? Würde er mit seinem Zorn zermalmen, die um ohnmächtiger Liebe willen untergegangen war?

Quid sum miser tunc dicturus?

Wehe, Pero, und was wirst du sagen? Gilt dies Lied nicht dir mehr als der Toten, dir, der du lebst, der du große Kraft und Gnade empfangen hast, der du berufen warst, die zu stützen, die schwach und gefährdet war? Du sagst, sie habe dich nun alleingelassen, und du klagst sie bitter an. Aber hast nicht vielmehr du sie alleingelassen? Hast du ihr nicht seltene und kurze Briefe geschrieben, so daß sie in ihrer hilflosen Angst wieder und wieder meinte, die Seuche habe dich ergriffen? Warum bist du nicht gekommen und hast sie besucht? Weil du ein armer Offizier warst und kaum das Geld dafür aufbringen konntest, die Deinen in der Fremde zu unterhalten? Das Geld für diese Reise hätte sich noch auftreiben lassen, Pero, glaubst du nicht? Pero, Pero, sie war schwach, sie war nicht geschaffen, ihren Mutterboden zu verlassen. Du hast sie fortgeführt, und sie war fremd unter Fremden. Hast du sie, die deine schöne, liebevolle und getreue Frau war, nicht entgelten lassen, daß sie nicht stark und leichtgeflügelt war, mit dir bis zu den Sternen deiner Sehnsucht zu fliegen? Kannst du 354 es wissen, ob das Leid, das du ihr zugefügt hast, wenn du dich von heiteren und klugen Frauen fesseln ließest, ihr Herz nicht so fressend versehrt hat, daß es für immer verwundet blieb? Du sagst, daß du ein Dichter bist, daß du der frohen Gefährtenschaft, des begeisterten Gleichklangs der Herzen bedurftest und daß sie schwer und erdgebunden war, trotz der Zartheit ihres Leibes. Wärest du bereit gewesen, zu sterben, um ihr Leid zu ersparen? Hast du dein Dichtertum nicht höher geachtet als das heilige Bündnis zwischen Mann und Frau? Hast du ein Recht, die zu verurteilen, die schwach und mutlos, aber rein und lodernd von Liebe war?

Peros Kopf sank tiefer und tiefer. War er es, dessen Requiem hier gesungen wurde? War er es, der hier angeklagt, zur Rechenschaft gezogen und verurteilt werden sollte?

Weh, was werd ich Armer sagen?
Welchen Anwalt mir erfragen,
Wenn selbst die Gerechten zagen?

Zornig dröhnte die Orgel, wie schwere Brandung an unbeschirmtem Gestade rannte der Gesang ihn an, und sein Herz wußte nicht, wohin es flüchten sollte. Ich bin schuldig, schuldig, schuldig, schrie es. Ich habe mich vermessen, Anklage zu erheben. Das Leben hat uns beide schuldig werden lassen; wie aber durfte ich es wagen, mich zum Richter über eine zu erheben, die Leid im Übermaß getragen hat!

Da war es plötzlich, als sei der schauerliche Wintersturm einer linden Luft gewichen und als hätten die Posaunen des Gerichtes sich in Flöten der Versöhnung verwandelt. Milder und leiser scholl es nieder:

Recordare, Jesu pie,
Quod sum causa tuae viae
Ne me perdas illa die.

So wie der Himmelsrand heller wird, wenn der Sturm sich zu verziehen beginnt, so leuchteten sanftere Noten 355 und versöhnlichere Töne aus der verdammenden Strenge. Flehentliche Bitte um Gnade ward angestimmt, ein Wimpel der Zuversicht gehißt, ein Segel der Hoffnung neu eingesetzt, und in die Bitte, allen möge die ewige Ruhe beschieden sein, klang der große Gesang vom Gerichte aus:

Dona eis requiem. Amen.

Ja, Herr, gib ihr den Frieden und gib mir den Frieden! Verzeih ihr und verzeihe mir! Und weil du willst, daß ich noch weitergehe, weil du mir vielfache Aufgaben und Lasten auferlegt hast, so gib mir gnädig Kraft, Demut und Zuversicht, großer, gewaltiger Gott der Stürme und der Windstille, der Brandung und der glatten, spiegelnden Flut!

O Herr, du hast in meiner Seele Gipfel aufgehöht, von denen ich deine Größe erblicken kann, und du hast Abgründe darin aufgerissen, wo Drachen und Schlangen wohnen. Du hast auf meine Zunge den Gesang gelegt und ließest mich ihn mehr als alles lieben. Und dennoch weißt du es, o Herr, Richter vor dem aufgeschlagenen Buche, du weißt es, daß ich Pave, die holde Gefährtin meiner Jugend, die mütterliche Mutter meiner Kinder, mit wahrer Liebe geliebt habe und daß ich nichts andres wußte und wollte, als an ihrer Seite das lange und schwere Leben zu leben und dereinst den Tod zu sterben.

Sie ist mir vorausgegangen, sie hat mich allein gelassen, aber siehe, o Gott, ich habe es ihr verziehen. Verzeihe nun du uns Sündern! . . .

Die Posaunen schwiegen, und Don Raffaello stimmte vorne am Altar das Evangelium an vom Glauben der Martha an die Auferstehung der Toten.

*

Es war der letzte Abend. Pero saß an Paves Fenstertisch, er beschrieb mit eiliger Feder große Blätter steifen 356 und dicken Papiers, das er durch einen Bug entzweigeteilt hatte und dessen linke Hälfte er freiließ. Er schrieb emsig mit tief gesammeltem Gesicht, wobei er die Brauen etwas zusammenzog und die Lippen fest geschlossen hielt. Seine Augen überflogen immer wieder das Geschriebene, mitunter blätterte er zurück und las, was auf einer der früheren Seiten stand. Auf einem kleinen Stühlchen in seiner Nähe saß Miliza. Sie hielt ihre Puppe Emma im Arm, saß regungslos und wendete kein Auge vom Vater, außer wenn sie einer der großen Fliegen nachsah, die brummend umherflogen. Endlich hielt sie es nicht mehr aus und fragte etwas weinerlich:

»Miu, bist du noch nicht fertig?«

Pero sah auf: »Gleich, Miliza; wenn du noch fünf Minuten so brav bist, dann ist der Miu fertig und wir werden uns unterhalten.«

Miliza drohte ihrer Puppe, so, als bestünde Gefahr, daß dem Vater von dieser Seite Störung erwachse. Der Major wandte ein Blatt um.

»Jetzt?« fragte das Kind, bereit aufzustehen.

»Nur noch diese Seite, mein Herz.«

»Ach, noch eine Seite?« Miliza war tief enttäuscht, sie seufzte hörbar und schnitt ein Gesicht. Endlich konnte sie es sich nicht versagen, dem Vater etwas mitzuteilen.

»Miu«, sagte sie, »an diesem Tisch hat die Mau immer die Briefe an dich geschrieben und dann haben wir auch keinen Lärm machen dürfen. Damals war die Cotietta noch da. Aber die Cotietta war immer brav, nur ich war manchmal schlimm.«

Pero sah wieder auf: »War die Mau dann böse?«

»Nein«, sagte Miliza, »sie hat nur immer gesagt, daß sie dir keinen schönen Brief schreiben kann, wenn wir Lärm machen, und daß du dann keine Freude hast. Bevor die Mau den Brief zusammengelegt hat, haben wir immer einen Kuß darauf gegeben. Hast du die Küsse gesehen, Miu?«

»Komm her, Miliza«, sagte Pero, und als das kleine Mädchen neben ihm stand, küßte er es so heftig auf den 357 Mund, daß dem Kind der Atem ausging und es sich lachend wehrte. Doch es bekam keine Antwort auf seine Frage. Miliza aber war nun nicht mehr aufgelegt zu schweigen.

»Bleibt die Mau noch lang in Wien, Miu?« fragte sie.

»Ja, Miliza, noch ziemlich lang. Aber du bist ja gern bei der Tante Bepi, nicht?«

»O ja, sehr gern. Mit dem Miro spielen ist sehr lustig, weil er viele Spiele weiß. Gewöhnlich sind wir Tiere und gehen auf die Weide. Das wollte die Cotietta nie spielen. Sie hat geweint, wenn sie eine Ziege sein sollte. Ich bin sehr gern eine Ziege. Und dann fahre ich schrecklich gern mit dem Wagen vom Onkel Miho. Der Miro will immer auf dem Bock sitzen, aber ich sitze bei der Tante Bepi.«

Pero schrieb eifrig, doch Miliza konnte nun nicht mehr still sein.

»Miu, fährst du morgen auch nach Wien zur Mau?«

»Nein, ich fahre jetzt nach Zara zum Onkel Valerio. Du weißt ja, in Zara hat die Mau gewohnt, wie sie klein war.«

»Ich möchte auch nach Zara fahren, Miu.«

»Gewiß, du wirst einmal nach Zara fahren. Dort ist es sehr schön. Dort ist eine Insel mit einem feinen Haus und einem großen Garten. Zu dieser Insel fährt man mit einem Segelboot. Das wird der Miliza gefallen. – Und jetzt bin ich fertig.«

Als letztes unter dem kleingeschriebenen Text stand über die ganze Breite der Seite:

Geschrieben zu Motta in den Unglückstagen des Monats Mai 1855.

Dann setzte Pero seinen Namen darunter.

Santa trat ein. Sie trug Duschan auf dem Arm, der mit nackten Beinchen dem Vater entgegenzappelte. »Ecco, der Duschan, der dem Papa gute Nacht sagen will«, rief sie freudestrahlend. Der Knabe hatte sich an den Vater gewöhnt und pflegte ihn mit Jubel zu begrüßen, wann immer er ihn erblickte. Miliza sprang auf und machte 358 dem Brüderchen ein oft erprobtes, kompliziertes Spiel mit den Fingern ihrer kleinen Hände vor, worauf es entzückt zu lachen begann.

»Nun, kleines Söhnchen, weißt du auch schon, was lustig ist?« sagte Pero und setzte sich den Knaben auf die Schulter. »Jetzt ist der Papa ein Hottopferd, und der Duschan ist der Reiter.«

»Das versteht er noch nicht, Miu«, mischte Miliza sich ein. »Er weiß noch nicht, was ein Hottopferd ist.«

»Laß ihn doch«, erboste sich Santa, »er reitet doch gern auf dem Herrn Papa.«

Pero wandte sich nun an die Amme. »Sie können also bis August bleiben?« fragte er sie ernst. »Sie werden nicht wieder davonlaufen? Meine Schwägerin braucht Ihre Hilfe bei meinen Kindern.«

»O Signor Padrone, ich werde bleiben, ich werde bleiben. Die armen Kinder werde ich nicht verlassen, nicht meinen Duschan, meinen Coccolo, und auch nicht die Miliza.« –

Ein letztes Mal saß Pero mit Bepi und ihrem Mann am Abendtisch. Toni war schon vor einer Woche nach Mailand zurückgekehrt.

»Könnt ihr euch denken, wer das gewesen ist?« fragte Pero und zog einen Zettel aus der Tasche. »Als ich heute früh zum Friedhof ging, begegnete ich in der langen Allee einem Herrn, der mich höflich und eigentümlich befangen grüßte. Er war ziemlich dick, aber dünn um die Taille, er hatte ein bleiches Gesicht und war sehr à la mode gekleidet. Er kam mir bekannt vor, aber ich erinnere mich nicht, wo er mir untergekommen sein könnte. Denkt euch aber, als ich an Paves Grab trat, bemerkte ich, daß auf die Mauer dahinter Verse geschrieben waren. Ich war gerührt, daß jemand der armen Pave gedacht hatte, und habe sie mir abgeschrieben.«

»Lies vor!« bat Bepi.

»Die Verse sind nichts Besonderes, aber ich war dankbar für die freundliche Gesinnung.« Und Pero las das kurze Gedicht vor: 359

»Die Parze hat dem jungen grünen Leben
Den Faden abgeschnitten. Und wir bringen
Der Tränen bittres Naß, Beneidenswerte, dir
Zur Pilgerzehrung, die wir traurig stehen
Und ewig dein gedenken, Paolina.«

»Nachher, als ich fortging, gab ich dem Totengräber Geld zur Instandhaltung der Gräber und fragte ihn bei dieser Gelegenheit, ob er etwa wisse, wer das Gedicht an die Friedhofsmauer geschrieben hat. Da sagte er, freilich wisse er das: der Herr, der eben hier gewesen sei; ich müsse ihn getroffen haben.«

Miho schüttelte den Kopf, aber Bepi rief lebhaft:

»Das muß der Sänger Lorenzoni gewesen sein. Er ist hier, Frau Biba hat es mir heute erzählt.«

Pero dachte nach: »Ein Tenor Lorenzoni hat doch im Frühling in Wien gesungen, ›Rigoletto‹, ›Rosa de Chamonix‹ und so weiter. Kann es der sein?«

»Das war er«, sagte Miho, »ich weiß, daß er in Wien war. Darum wird er dir bekannt vorgekommen sein.« Und sie erzählten Pero vom Auftreten des Tenors in Motta und von seiner offensichtlichen Schwärmerei für Pave. »Seltsam, daß sie davon gar nicht geschrieben hat.« »Aber du weißt ja«, sagte Bepi, »wie Pave war. Für sie gab es keinen anderen Mann auf der Welt als dich. Ein einziges Mal haben wir Lorenzoni bei Frau Biba getroffen, da hat er Pave eifrig den Hof gemacht. Aber du kannst dir vorstellen, wie wenig Wert sie darauf gelegt hat.«

»Die arme Pave! Hätte sie nur etwas mehr Fähigkeit gehabt, dem Leben seine heiteren Seiten abzugewinnen.«

»Und dabei haben alle Menschen sie so verehrt.«

Bepi erhob sich und brachte ein kleines Päckchen, das sie vor Pero auf den Tisch legte. »Dies hat mir Frau Biba für dich gegeben, oder vielmehr für die Kinder. Ihre Tochter Bianca hat es geschickt. Du mußt wissen, Bianca hat Pave sehr lieb gehabt; sie ist ganz verzweifelt über ihren Tod, sagt Frau Biba. Es scheint auch, daß sie ihr aus irgendeinem Grund sehr dankbar ist.« 360

Sie öffneten das Päckchen, es enthielt ein ziemlich wertvolles, mit kleinen Perlen und Diamanten besetztes Armband für Miliza und eine goldene Krawattennadel für Duschan. Bepi rief entzückt und höchst belustigt: »Ach, seht nur! Stellt euch den Duschan mit einer Krawatte vor! Armer Kleiner!«

»Noch etwas hätte ich ja fast vergessen, Pero«, fuhr sie fort, »zwei Tage nach Paves Tod, gerade am Morgen nach ihrem Begräbnis ist eine Dame aus Udine in einer Kutsche angekommen und wollte Pave besuchen und zu sich einladen. Ich habe mit ihr gesprochen, es war eine Gräfin Strassoldo, eine wirklich sympathische Frau. Auch sie war vollkommen außer sich, als sie von dem Unglück hörte. War sie mit Pave sehr befreundet gewesen?«

»Die Gräfin Strassoldo war da? Nein, befreundet war sie mit Pave nicht; sie hatten sich ein einziges Mal gesehen. Aber sie ist eine sehr kluge Frau, und Pave hat sie sehr bewundert. Wer weiß, wenn sie früher gekommen wäre . . .«

»Ach, Pero, es hätte auch nichts genützt. Wir haben uns doch hier alle solche Mühe mit Pave gegeben.«

»Du hast wohl recht, Bepi, aber es ist nur menschlich, wenn wir unablässig darüber nachdenken, wie das Schreckliche hätte verhütet werden können. – Dies wollte ich euch noch sagen«, fing Pero nach einer kleinen Weile wieder an, »ich habe den ganzen traurigen Verlauf der Dinge zu Papier gebracht, damit Miliza und Duschan später einen sicheren Bericht über den Tod ihrer Mutter besitzen. Die Sache ist so rätselhaft und unglaublich, daß sich mit der Zeit allerhand Legenden und unwahres Geschwätz daran knüpfen könnten. Ich will, daß Paves Kinder das Bild ihrer Mutter so schön und rein bewahren, wie es der Wahrheit entspricht. Wollt ihr es noch lesen? Ich reise ja erst morgen am Nachmittag.«

Er legte das Schriftstück vor sie hin; Miho nahm es an sich und begann darin zu blättern. Biancas Geschenke, die Visitenkarte der Gräfin und Lorenzonis Verse waren auf dem Tisch liegengeblieben, Bepi blickte versonnen darauf 361 nieder und sprach leise vor sich hin: »Und dabei hat sie immer gesagt, niemand habe sie lieb.«

Nach einer Weile sah Miho auf und fragte: »Hast du vor, bald wieder etwas Neues zu schreiben? Eine Dichtung, meine ich.« Und Bepi setzte schüchtern und eifrig hinzu: »Ja, erzähle uns davon, Pero!«

»Meine Lieben«, entgegnete Pero, »da gibt es kein Planen. Ich habe so Schmerzliches erlebt, ich habe den Tod gesehen und hinter dem Tod einen Größeren. Wenn der mich nicht verwirft, wird mir aus diesen Elends- und Tränentagen Saat keimen und aufwachsen. Aber wann sie reif sein wird zum Schnitt, das kann niemand wissen.«

Sie sahen ihn mit staunenden Augen an und wagten kein Wort. 365

 


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