Paula von Preradović
Pave und Pero
Paula von Preradović

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Südfahrt

Auf dem Tisch des Speisezimmers standen die Reste des Frühstücks, die Betten waren in Unordnung, so wie jeder sie verlassen hatte; Santa, die ein schwarzes, im Nacken geknüpftes Kopftuch und einen dreieckig gefalteten dicken und langen schwarzwollenen Umhang trug, saß wartend im Kinderzimmer und hielt den ebenfalls warm vermachten Duschan im Arm. Die kleinen Mädchen liefen aufgeregt von einem Zimmer ins andere, für eine winterliche Reise aufs beste ausstaffierte Puppen mit sich zerrend.

Bleich und verwacht trat Pave im schwarzen Pelerinenmantel, ein kleines in die Stirn gedrücktes Hütchen auf der dunklen Lockenfrisur, aus der Tür des Schlafzimmers. Der Major, der soeben, nach etwa vergessenen Dingen spähend, durch die Räume geeilt war, blieb überrascht stehen. »Wie schön du in dem neuen Mantel bist«, sagte er leise zu seiner Frau, »komm noch einen Augenblick hier herein, wir wollen Abschied nehmen.«

Er zog sie in den kleinen Salon, führte sie zum Fenster und nahm ihre Hände in seine.

»Ist es nicht schon spät?« fragte sie ängstlich.

»Nein, wir haben Zeit, der Wagen ist noch nicht da.« Er legte seine Hände an ihre Wangen, schaute ihr in die Augen und wollte sie auf den Mund küssen.

»Nicht!« rief sie. »Bei meinem Husten! Auf die Augen küsse mich.«

»Ich will dich aber auf den Mund küssen«, sagte der Mann heftig. »Wer weiß, wann wir uns wiedersehen.« Und Pero küßte Pave viele Male auf den kleinen Mund. Sie lehnte ihren Kopf an das blaue Tuch des Waffenrockes, der von ihren Tränen naß wurde. Die blanken Uniformknöpfe kühlten ihr Wange und Schläfe. 102

»Pave!« sagte der Major eindringlich und streichelte ihre Schulter, »Pave! Gibt acht auf dich! Und gib acht auf die Kinder! Auf Duschan! Auf die Mädchen! Auf Cotia, auf meine Cotia!«

»Ja, ich gebe gewiß acht«, schluchzte sie fassungslos.

»Der Wagen ist da!« rief Miliza freudig zur Tür herein. Nun ergriff Aufregung und Eile das ganze Haus. Nochmals wurden prüfende Blicke umhergeworfen, ob nichts vergessen worden sei. Pave faßte Miliza an der Hand, der Major setzte sich Cotia auf den Arm, Santa schritt mit Duschan vorsichtig voran, während Netti mit Hilfe des Kutschers das Gepäck die runde Treppe hinabschleppte. Pave warf keinen Blick zurück. Sie hatte dieses Quartier, obwohl ihr Sohn darin geboren worden war, nicht geliebt, und nur daß Pero darin zurückbleiben mußte, stimmte sie milder gegen diese schwer heizbaren Räume, die ihr in den vier Monaten ihres Aufenthaltes um nichts vertrauter geworden waren.

Ein ungefüger Landauer, der breit im Novembernebel stand, nahm die Familie auf. Pave saß im Fond, neben ihr die Amme mit Duschan, auf dem geräumigen Rücksitz nahm der Major Pave gegenüber Platz und zog Cotia auf ein Knie, während Miliza den Sitz neben ihm erkletterte. Der Kutscher bestieg den Bock, was alle Insassen des Wagens als deutliche Erschütterung verspürten, und das schwerfällige Gefährt begann die Florianigasse hinab dem Glacis zuzurollen.

Pave lehnte sich in den mit grauem Tuch verkleideten Grund des Wagens zurück. Der kleine modische Hut, den sie nach dem Vorbild des Hütchens der Gräfin Strassoldo nebst dem schwarzen Pelerinenmantel noch in den letzten Tagen besorgt hatte, stand ihrem zarten Gesicht gut, sie sah elegant und fast ein wenig leichtfertig darin aus, was Pero fortgesetzt beglückte. Wie ein wanderndes Haus umschloß der kleine Raum die Familie. »Wann werden wir alle wieder vereint sein? dachte Pave, und ihre Gedanken bohrten sich gequält in die dunkle Zukunft. Wohl fuhr sie zu ihrer Schwester, wohl kam 103 sie in ein Land, wo ihre Muttersprache gesprochen wurde. Aber Pero! Pero blieb zurück. Sie würde seinen Rat, seine Hilfe, seinen männlich lebendigen Zuspruch entbehren müssen, alle Verantwortung für die Kinder würde auf ihr allein lasten, das Beisammenwohnen der Menschen, die zueinander gehörten, die heilige Verwachsenheit der Familie würde abermals zerrissen sein. Und wieder stieß ihr Herz den lautlosen, verzweifelten Schrei aus, der nachgerade zu seiner gewohntesten Sprache geworden war: Friede! Friede! Gott, laß mich in Geborgenheit mit den Meinen leben! Gott, mehr erbitte ich nicht, nur dieses gib mir, sonst vermag ich dieses Dasein nicht zu meistern!

Pero hielt Cotia an sich gedrückt und erzählte ihr von der Eisenbahnfahrt, die ihr bevorstand. Er raunte ihr ins Ohr, daß die Lokomotive Sch-Sch-Sch machen, daß Cotia durchs Fenster schauen und viele Pferdchen, Kühe und Hündlein würde springen sehen, daß auf dem Berg, über den sie fahren müßten, vielleicht weißer, weißer Schnee liegen würde. Daß Cotia heute abend ebenso wie Miliza zu Laibach in einem großen, fremden Bett schlafen würde, ganz wie eine erwachsene Dame, und daß der Kellner kommen, sich verbeugen und fragen würde: »Was befiehlt das Fräulein Cotia?« Das gefiel Cotia sehr, obwohl sie nicht wußte, was ein Kellner war; sie lachte, bohrte ihr rosiges Gesicht so fest in den Arm des Vaters, daß die blaue Schutenhaube nach rückwärts glitt und das Haar in Unordnung geriet, und wollte wissen, ob der Kellner sich auch vor Duschan verbeugen würde, was der Vater nachdrücklich verneinte. Denn Duschan sei allzu klein und könne noch nicht auf seinen Beinchen stehen. »Aber ich kann es«, rief Cotia und wollte vom Knie des Vaters hinabrutschen, »ich kann es, und Miliza kann es, und vor uns wird der Kellner sich so verbeugen!« Sie versuchte, in der Umklammerung der väterlichen Arme und Knie eine grotesk tiefe Verbeugung zu vollführen, wobei sie unbändig lachen mußte. 104

»Cotietta mia, sitze doch ruhig! der arme Miu kann dich sonst nicht halten«, schmeichelte der Major seinem Töchterchen, und dabei traf es ihn neuerdings als ein scharfer, stechender Schmerz, daß er dies süße, inbrünstig geliebte Kind nun wieder würde entbehren müssen. Ja, er fühlte plötzlich, daß es in der allgemeinen Bitternis des Abschiedes keinen schlimmeren Stachel gab als diesen, Cotia nicht mehr sehen, ihren weichen, geschmeidigen Kinderkörper nicht mehr halten, tragen und herzen, ihr glockenhelles, sanftes und doch übermütiges Lachen nicht mehr hören zu können. Nicht Pave, seine schöne, kranke Frau, nicht Miliza, die Erstgeborene, noch Duschan, seinen Sohn, würde er am meisten vermissen, sondern diese hier, die er im Arm hielt, Cotia, seine honigsüße Biene, sein gottgeschenktes Engelchen.

Wo waren alle Sorgen des gequälten Familienvaters, wo Mühe und Ärger des Dienstes, ja, wo waren selbst die Träume und Räusche seines Dichterherzens, wenn Cotia lachte, wenn sie schelmisch und doch zärtlich Miu rief, wenn sie ihm zierlich und wild wie eine kleine Waldvila entgegensprang, danach dürstend, vom Vater hoch in die Luft geschwungen zu werden!

Seit es Cotia gab, seit Paves gesegneter Leib sie zum Lichte entlassen hatte, war Pero einer geheimnisvollen Verbundenheit mit diesem Kinde gewahr geworden, einer verpflichtenden Dienstbarkeit, eines verantwortungsschweren Hüteramtes. So sehr er die hübsche, wohlgeratene Miliza liebte, und um Duschans, des Sohnes, Leben und Gedeihen tiefe und nie rastende Sorge trug, Cotia gegenüber fühlte er sich am stärksten Vater. Diese höchste der im Weltenplan vorgesehenen menschlichen Würden, nie krönte sie ihn leuchtender, als wenn Cotia ihr Köpfchen an seiner Schulter rasten ließ, nie überfiel ihn würgendere Angst als beim Gedanken, Cotia könnte erkranken oder sonst von einem Unheil getroffen werden. Mitunter suchten lächerliche Furchtbilder ihn heim, er sah Cotia von Zigeunern gestohlen, von schweren 105 Wagen gerädert, von fremden, bösen Hunden gebissen, und es war mehrmals geschehen, daß er frühzeitig vom Amte heimgekehrt oder des Nachts jählings aufgefahren war, weil plötzliche und grundlose Sorge um Cotia ihn verstört hatte. Mitunter fühlte er fast etwas wie eine Schuld Miliza gegenüber, denn dieses sachte und willige Kind liebte den Miu mit rührender Hingegebenheit. Es schien die leidenschaftlichere Neigung des Vaters zur kleineren Schwester zu fühlen und sie mit echt weiblicher, in ihrem zarten Alter freilich fast unbegreiflicher Entsagungskraft und mit gleich großer Liebe zu ihm wie zu Cotia gutzuheißen.

Der Wagen war in dichtem Nebel übers Glacis gerattert, ins Burgtor eingebogen und strebte jetzt durch die enge Augustinerstraße dem Kärntnertor zu.

Der Major zog seine Uhr. Noch immer erhellte kein Tagesstrahl die Gassen, neumodische Gasflammen kochten in großen Laternen, und nur wenige Menschen waren unterwegs.

»Es ist sechs Uhr, um sieben geht der Zug«, sagte Pero. »Heute abends werdet ihr in Laibach gut schlafen, morgen heißt es dann wieder früh aufstehen, die Post wird gewiß sehr zeitig fahren.«

»Miu, kommst du denn nicht mit uns?« fragte die kleine Miliza erschrocken.

»Der Miu kommt bald nach. Er muß noch ins Büro gehen«, beruhigte Pave das kleine Mädchen, dieses aber stieß hervor: »Der Miu bleibt da. Der Miu fährt nicht mit uns!« und brach in Tränen aus.

Pero strich ihr gerührt über die Wangen und versprach ihr, sehr bald nach Motta zu kommen, er müsse nur noch mit dem strengen General etwas ordnen, dann reise er gleich und bleibe bei ihnen allen, um nicht mehr fortzugehen.

Endlich war das Kärntnertor durchquert, das Glacis und die Wiedner Vorstadt durchfahren, und der Wagen hielt vor einem gewaltigen weißen Gebäude, vor dessen großem Tor sich mehrere Männer in Zwilchjacken und 106 mit Schirmkappen wartend herumtrieben. Einer von ihnen begann mit dem Kutscher das Gepäck vom Dach herunterzuräumen, während der Major zuerst Pave und der Amme beim Aussteigen half und sodann den Kutscher entlohnte.

Hierauf ging es breite Treppen hinauf, einen kalten und kahlen dämmerigen Gang entlang, und endlich führte der Major, der mit einem blau uniformierten Mann einige Worte gewechselt hatte, von diesem angewiesen seine Gesellschaft in einen großen Raum, darin der Blaue eine Gasflamme entzündete.

»Hier ist der Wartesaal«, erklärte Pero und lud Pave ein, sich auf der schönen, neuen Lederbank, die an allen Wänden entlanglief, niederzulassen und ein wenig zu warten, bis er sich wegen guter Plätze im Zug umgesehen haben würde. Wie ein Häuflein Schiffbrüchiger saßen die beiden Frauen mit den Kindern neben dem Gepäcksberg, den der Mann in der Zwilchjacke gleichfalls hier abgelagert hatte. Pave war kurz nach vier Uhr aufgestanden, sie war übernächtig, müde und tief verzagt; ein dicker, rauher Geruch von Kohlenstaub und Rauch, etwas beklemmend Erstickendes, wie sie es nie im Leben gerochen hatte, verlegte ihr den Atem. Auch die Munterkeit der Mädchen war verflogen; der dämmerige große Raum mit der flackernden Flamme beängstigte sie um so mehr, als der Vater lange ausblieb und die Mutter immer wieder ängstlich zur Amme äußerte, sie hoffe nur, es würde sich Platz finden, sonst müßte man am Ende mit Sack und Pack wieder nach Hause zurückkehren.

Aus dem Saale führte eine große versperrte Tür mit Glasscheiben in eine zwielichtige Weite hinaus, wo mitunter Lichter aufblitzten, Pfiffe ertönten und merkwürdige schiebende, rollende, ja dröhnende Geräusche sich vernehmen ließen. Doch war etwas Deutliches nicht zu unterscheiden.

»Dort ist die Eisenbahn«, belehrte Santa, die sich der übrigen Gesellschaft deutlich überlegen fühlte, da sie die 107 Fahrt mit der neugebauten Bahn vor wenigen Wochen zurückgelegt hatte, worauf nicht nur die kleinen Mädchen, sondern auch Pave sie ob ihrer Eingeweihtheit mit scheuer Anerkennung anblickten.

Duschan, der das einlullende Fahren vermißte, erwachte und begann alsbald zu schreien, worauf Santa mit ihm in dem düsteren, kalten Raum auf und nieder zu wandern anfing, wobei sie ihn durch kleine, wiegende und schupfende Armbewegungen und durch ein leise gesungenes Lied zu beruhigen trachtete. Als er sich jedoch nicht besänftigen ließ, wollte die Amme sich, von Pave dazu gemahnt, eben anschicken, dem Kinde die Brust zu geben, als die geheimnisvolle Glastür mit viel Gerassel von außen geöffnet wurde und der Major in Begleitung eines Herrn in goldverzierter Uniform und eines Blauen, ähnlich jenem von vorhin, den Saal betrat. Auch der Träger war nun wieder zur Stelle und belud sich mit dem Gepäck.

In Gesellschaft des Inspektors, der mit seinen Goldlitzen, wohlrasiert und mit schneeweißen Handschuhen prächtiger aussah als der schönste General, begab sich die Reisekarawane durch die Glastür in die fröstelnde Frühe des Novembertages hinaus. Trotz des hochgewölbten Daches erfüllte feiner Nebel die Halle, die Pave unermeßlich dünkte, die Lichter der großen Lampen verschwammen in der milchigen Luft, und Pave bemerkte mit Bangen den Zug, der schon wartend dastand. Ein Waggon gliederte sich an den andern an, und ganz vorne, dort, wohin man nicht sehen konnte, gab es etwas, das fauchte und lärmte, schnob und spie, und wovon Pave vermutete, daß es das furchtbare Dampfroß sein müsse, das den Zug über Berge und Täler ziehen würde. Blauuniformierte in Kappen und mit Laternen liefen die Wagen entlang, Reisende, warm vermummt und eilig, strömten herbei, und Träger schleppten schwere Koffer.

Pero hatte Cotia auf den Arm genommen, um sie vor dem Getümmel zu schützen, und Pave führte Miliza an 108 der Hand. Duschan in seiner Pelzmütze, von dem ungewohnten Wesen ringsum eingeschüchtert, lag so still wie ein Mäuschen und blickte aufmerksam umher. Der Inspektor, der voranging, hielt bei einem Waggon an, rief einen schnauzbärtigen Kondukteur herbei, der, eine Tasche umgehängt, in der Nähe stand, und hieß ihn aufsperren. Durch die geöffnete Tür erblickte Pave ein von einer Lampe schön erhelltes Zimmerchen, an dessen längeren Querwänden schwarze Ledersofas hinliefen, während sich an den ganz kurzen Längswänden Türen mit Glasfenstern befanden.

Der Träger kletterte als erster in den Wagen, verstaute in unter der Decke angebrachten Netzen das Gepäck, dann sprang Pero hinein, hob Miliza und Cotia hinauf, nahm der Amme den Säugling ab, hielt ihn, bis sie die hohen Holztritte erklommen hatte, und reichte schließlich Pave die Hand.

Sie stand oben und sah sich um. Ein ähnlicher Geruch wie der im Wartesaal beklemmte sie und machte ihr fast übel.

»Heiß ist es hier in diesem Kämmerchen!« sagte sie beängstigt und ergriff Peros Hand.

»Das Kämmerchen nennt man Coupé!« erklärte Pero. »Wenn es euch zu heiß ist, müßt ihr ein Fenster öffnen.« Und er zeigte ihr, wie man vermittelst eines breiten, gewebten Riemens, ähnlich dem Bande eines Glockenzuges, die schwere Fensterscheibe hinaufziehen und herunterlassen konnte.

Der Inspektor hatte sich nun auch heraufgeschwungen. Da es ihm klargeworden war, daß Pave zum erstenmal mit der Eisenbahn reiste, warnte er sie nachdrücklich, sie müsse gewärtig sein, daß in den Stationen möglicherweise die Türen geöffnet werden würden. Während der Fahrt seien sie fest verschlossen. Er stellte zwar in Aussicht, der Kondukteur würde dafür sorgen, daß die gnädige Frau Majorin mit ihrer Gesellschaft allein bleibe, bei großem Zustrom von Reisenden würde es sich aber doch nicht vermeiden lassen, daß noch jemand dazukäme. 109 Ferner schärfte er Pave ein, in welchen Stationen der Zug einen längeren Aufenthalt nehmen würde, so daß es Pave möglich sein würde, in der Bahnhofwirtschaft etwas Warmes zu genießen oder ein paar Schritte zu gehen, um sich von der Enge zu erholen. Dann empfahl er sich mit ritterlichem Handkuß und verließ, von Pero gefolgt, das Coupé. Dieser entlohnte nun, in der feinen Nebelluft unter den Dahinhastenden stehend, den Träger und drückte dem stattlichen Kondukteur ein Geldstück in die Hand.

Pave hielt sich am Rahmen der offenen Tür und neigte sich zu Pero hinab. Wie sie so stand, war sie hinreißend schön, mädchenhaft biegsam und schlank unter dem modischen schwarzen Mantel und doch mütterlich in der rührenden Besorgtheit ihres süßen Angesichtes.

Jungfrau, Mutter, Königin! fuhr es Pero durch den Sinn. War die zarte Pave nicht jungfräulich in der Reine ihres Herzens, war ihr nicht Mutterschmerz und Mutterglück, Muttersorge und Mutterwürde wie ein Rosen- und Dornenkranz ums Haupt gewunden? Zur Königin freilich fehlten ihr Sicherheit und Stolz, Selbstbewußtsein und die Lust zu herrschen.

»Pavetta mia!« flüsterte Pero zu ihr empor, und sie erwiderte ihm mit einem schwimmenden Blick und einem Lächeln von so banger Traurigkeit, daß sein leidgewohntes Herz sich zusammenzog in einem Schmerz, der aus noch unbetretenen, völlig ungeahnten Breiten auswegloser Qual zu stammen schien, aus einem dunklen Reiche, dessen Tore wachsame Engel bisher für ihn geschlossen gehalten hatten.

Warum bin ich so traurig? dachte er entsetzt. Diese Trennung wird vorbeigehen, wie schon viele vorbeigegangen sind. Zu Paves Heil wird diese Reise unternommen. Wenn ich sie im Frühjahr heimhole, wird sie gesund sein, unser Sohn erstarkt, die Mädchen holder denn je. Warum also bin ich so traurig auf eine Art, die meiner Seele bis heute fremd war? Droht mir eine Prüfung, eine Gefahr, ein Verlust, oder ist dieser 110 plötzliche marternde Schmerz die Strafe dafür, daß ich, im Besitze eines kostbaren, still leuchtenden Juwels, wie Pave es ist, mitunter nach fremden, grelleren Schätzen geblickt, ja sogar gelangt habe? Ihr wißt es, ihr ewigen Mächte, daß meinem innersten Herzen nichts teurer ist als Pave, meine Frau, und die Kinder, die sie mir geboren hat, und daß alles andre Begehren nur flüchtige Wellen waren, die die ungestümen Schläge meines wilden Herzens in den ruhenden Wasserspiegel meiner Seele hinein gewölbt und gewühlt haben. Du hast mir dieses Herz gegeben, o Gott, du hast mir die vervielfachte Qual verliehen, die vertiefte Lust, das tanzende Blut, das nie rastende Wittern und Suchen auf deiner großen, verborgenen Spur. Zwang und Vermögen hast du mir gegeben, alles dieses herauszusagen, es den andern, den Ruhigen, den Stummen, den Gehemmten zuzuschreien, zuzujauchzen, zuzuweinen. Du weißt es, o Gott, der du Himmel und Erde und auch mein Herz geschaffen hast, daß die Lieder, die zu singen mein Teil ist, nur der aufgewühlten Seele sich entschwingen können, daß, was ich bisweilen in abwegiger Lust begehre und erringe, nur der unbändigen Liebe zu deiner Schöpfung entstammt. Strafe mich nicht für diese Flammenglut, strafe vor allem nicht sie, die die Meinen sind, und die ich, großmächtiger Gott, deiner Huld und Sorgfalt anempfehle!

Pave lächelte noch immer ihr schmerzliches Lächeln auf Pero hinab, der im Nebelmorgen unter eilenden Abreisenden und stoßenden Trägern dastand und mit rätselvollem Blick zu ihr hinaufsah; sie verstand nicht, was dieser Blick enthielt, und sie wußte nichts von dem leidenschaftlichen Gebet, das seine Seele zu Gott emporgeschleudert hatte.

Während dieses kurzen, trauervollen Augenblicks, da Pave, von der Türöffnung umrahmt, dastand, und Pero zu ihr emporblickte, ging sehr eilig und von einem Gepäckträger geleitet ein brünetter Mann in modischer, ja stutzerhafter Zivilkleidung den Zug entlang. Er mußte Pero ausweichen, der ihm den Rücken zuwandte, und 111 warf einen Blick auf das abschiednehmende Paar. Der Mann war ziemlich jung, sein regelmäßiges und volles Gesicht war so bleich, daß es aussah, als sei es gepudert. Dunkles, gescheiteltes Haar quoll voll und bauschig unter dem geschweiften Zylinder hervor und lag auf einer weißen niederen Stirn. Trotz seiner Jugend neigte der Fremde bereits zu leichter Fülle. Sein langschößiger Wintermantel war eng in die Taille geschnitten und erweckte den Eindruck, als sei der Herr geschnürt.

Als er Pave gewahrte, öffnete er stumm, aber doch so rasch und ruckweise, als wollte er einen Schrei ausstoßen, den Mund und riß mit überwältigter Miene die Augen auf. Auch schien es, als wollte er stehenbleiben. Doch sein Träger lief ihm voran und rief ihn zu einem weiter vorn gelegenen Coupé. Pave war, trotz ihrer Traurigkeit, das ungewöhnliche Gehaben des exzentrischen Fremden aufgefallen, doch entschwand ihr der seltsame Eindruck sogleich wieder.

Die kleinen Mädchen hatten sich mittlerweile in der ungewohnten Behausung ihre Plätze ausgesucht und waren vor allem bestrebt gewesen, die geliebten Puppen ihrer winterlichen Hüllen zu entledigen und aufs beste zu betten. Dabei entfiel Cotias kleinen Händen die rosenrote Schute, die das Lockenhaupt ihrer Puppe Maddalena bekleidet hatte; das auf Draht gespannte Gebilde rollte wie ein Rad unter den Sitz, und Cotia sah sich genötigt, von der Lederbank herabzuklettern und in der Finsternis, die darunter herrschte, nach der abhanden gekommenen seidenen Pracht zu tasten. Als sie Maddalenas Paradehütchen endlich gefunden und zutage gefördert hatte, erwies es sich leider als vom Kohlenstaub arg beschmutzt, und vor allem waren Cotias Hände über und über geschwärzt. Da Pave sich dem Innern des Coupés zuwandte, sah sie mit Schrecken, daß Cotias Gesichtchen allenthalben die schwarzen Spuren ihrer beschmutzten Hände trug. Wangen, Stirne, Nase und Kinn waren dunkel verschmiert, und nirgends gab es Wasser, um sie zu reinigen. 112

Der Augenblick der Abfahrt schien endlich gekommen. Pero war eilig und nervös. Er sprang nochmals ins Coupé, um die Kinder zu umarmen. Er empfahl Santa, wohl auf Duschan zu achten und der gnädigen Frau auf der Reise behilflich zu sein, dann hob er Miliza hoch, der es erst jetzt wieder zu Bewußtsein kam, daß der Miu nicht mitfahren würde, und die in neuerliches bitterliches Weinen ausbrach. Als er Cotias geschwärztes Gesicht sah, wurde er trotz der Abschiedsstunde ärgerlich. »Meine Cotia, wie sieht sie aus? Ein so schmutziges Gesicht kann der Miu doch nicht küssen!« Nun weinte auch Cotia, und der Vater küßte sie dennoch seitlich neben dem Ohr. Draußen hörte man zum Einsteigen rufen, eine klingende Glocke wurde am Zug entlang getragen, Pero umarmte Pave schnell und flüchtig, denn es war höchste Zeit für ihn, das Coupé zu verlassen. Der Kondukteur schlug die Tür zu, und der Zug setzte sich langsam und ächzend in Bewegung. Pave stand am Fenster und hatte sich auf jeden Arm eines der kleinen Mädchen gesetzt. Sie lächelte und nickte zu Pero hinunter, da sie zum Winken keine Hand frei hatte, die Mädchen schwangen weiße Taschentücher. Pero stand im hechtgrauen Majorsmantel einsam da, er winkte mit der schwarzen, steifen Offizierskappe, seine Augen bohrten sich in das Bild der Drei hinter dem Coupéfenster, und was er dachte, war: »Süße Pave!« Doch da er sich umwandte, um vom davonrollenden Zug fort dem Bahnhofsausgang zuzugehen, peinigte ein Gedanke sein Herz: »Warum mußte ich meine Cotia zum Abschied mit diesen schwarzen Flecken sehen!«

Pave drehte ihr übernächtiges Gesicht der Scheibe zu, hinter der das Bahnhofsgebäude nun zurückblieb, von trostlosen, immer anderen, immer fremderen Vorstadtgassen trübselig abgelöst. Jetzt erst fühlte Pave den Schmerz sie völlig überwältigen, doch da sie Miliza fassungslos um den Miu schluchzen hörte, vermochte sie der eigenen Trauer Herr zu werden. Sie nahm das zärtliche kleine Mädchen auf die Knie, versprach ihr fest, daß der Vater bald nach Motta nachkommen, und daß 113 Miliza ihn dann von der Poststation abholen würde; sie scherzte mit den Kindern, nahm die Puppen in genauen Augenschein, richtete den kleinen Mädchen in der einen Ecke des Coupés einen behaglichen Spielwinkel ein, nahm der Amme, die ihr Stillgeschäft wieder einmal beendet hatte, den Säugling ab und wies sie an, für ihn ein Lager aus Kissen und Decken auf der Lederbank zu bereiten. Als aber Duschan zufrieden an seinem Daumen saugend, von reinlichem Weiß umgeben, dalag, wurde dem Vorratskörbchen eine Flasche entnommen, und Pave versuchte, so gut es ging, Cotia zu reinigen. Dann entledigte sie sich ihres Hutes, den sie sorgfältig im Netz verstaute. Aufatmend setzte sie sich zurecht. So wie sie sich vor wenigen Wochen in die Krankheit hineinbegeben hatte wie in ein nicht unwillkommenes Fergenboot, das sie den Ufern der Genesung zutragen sollte, und wie sie, da alles sich entschieden hatte, minder elend gewesen war als zuvor, so fühlte sie nun, da der Abschied vollzogen und mit jedem Augenblick wachsende Ferne zwischen Pero und sie gelegt war, etwas wie Erleichterung ihr Herz entlasten. Hatte damals das Fieber sie getragen und eingelullt, so schläferte sie nun das Stampfen des Dampfrosses, das gleichmäßig rauhe, rollende Lied der Räder barmherzig ein, und das verweinte dunkle Haupt an die schwarze Lederpolsterung gelehnt schlief sie, während der Zug die nebelverhüllten Weingelände südlich von Wien durchfuhr.

Ein Ruck ließ sie auffahren. Der Zug blieb vor einem Bahnhofsgebäude stehen, sie sah viele Menschen im helleren Morgenlicht hin und her laufen und hörte die Schaffner überlaut einen Namen ausrufen, den sie dennoch nicht verstand. Doch entdeckte sie auf einer weißen Mauer, dicht vor sich, in riesigen Buchstaben die Aufschrift Wiener Neustadt. Nun ließ sie eilig mit Hilfe der Griffe, die Pero sie noch gelehrt hatte, das Fenster herunter, denn zum ersten hoffte sie, sich hinauslehnend, vielleicht das Gebäude der Theresianischen Militärakademie entdecken zu können, in der Pero hier seine 114 Knaben- und Jünglingszeit verbracht hatte, zum andern aber war sie bestrebt, einen Mann heranzurufen, der mit dampfenden Tassen voll Milchkaffee den Zug entlang ging.

Der diensteifrige Kondukteur erschien, öffnete mit elegantem Schwung die Tür und versicherte Pave, sie habe reichlich Zeit, um auszusteigen und in Ruhe zu frühstücken. Sie kletterte nun mit einiger Freude an der erleichternden Veränderung die Holztritte hinab, ließ Santa eine Tasse hineinreichen und leerte vor der offenen Coupétür stehend mit Wohlbehagen die dickwandige weiße Porzellanschale. Dann rief sie die Mädchen, half ihnen beim Aussteigen und ließ sie abwechselnd eine dritte Portion des süßen und würzigen Trankes, auf dessen Oberfläche schöner Milchschaum stand, ausschlürfen. Während sie sich zu den Kindern niederbeugte, die dunkeln Locken ihr in die Wangen hingen und ihre handschuhlose Hand aus der Pelerine des schwarzen Mantels heraus die Kaffeetasse bald Miliza, bald Cotia zum Munde führte, sie freundlich ermahnend, nicht zu schnell zu trinken und sich nicht zu verschlucken, kam langsamen Schrittes der brünette Fremde vorbei, der sich in Wien bei Paves Anblick so seltsam betragen hatte. Er schien ebenfalls Verlangen nach einem warmen Morgentrunk zu hegen, denn er blieb bei der kleinen Gruppe stehen, sagte aber nichts, sondern blickte Pave wieder mit aufgerissenen Augen an, bis der Verkäufer sich mit der Frage an ihn wandte, ob auch er Kaffee wünsche, eine einfache und selbstverständliche Anrede, die den eleganten Mann jedoch in eine unerklärliche Verwirrung versetzte. Er holte seinen Blick wie aus weiter Ferne zurück, starrte den weißrockigen Kaffeeausträger an, würgte hervor: »Kaffee? Was? Kaffee? Ja, geben Sie mir, geben Sie mir!« Machte aber dann wieder einige unruhige Schritte fort und mußte von dem um seine Kundschaft besorgten Verkäufer zurückgerufen werden. Die Kinder hatten unterdessen die Tasse leer getrunken, Pave bezahlte den Mann und nahm ihre Töchterchen an der 115 Hand, um einige Schritte mit ihnen auf und nieder zu gehen. Sie wandte sich an den Kondukteur, der ihr mit solchem Eifer zu Diensten stand, daß sie annehmen mußte, Pero habe ihm mindestens einen Gulden gegeben, wenn nicht sogar zwei, mit der Frage, ob es möglich sei, vom Bahnhof aus die Militärakademie zu erblicken. Der beflissene Mann verstand ihre in mühsamem Deutsch gestellte Frage nicht sofort; der stutzerhafte Fremde jedoch, mochte er nun seinen Kaffee getrunken haben oder nicht, war wieder in der Nähe, er mußte aus der Haltung der Fragestellerin und der des Befragten entnommen haben, daß es hier an Verständnis mangelte, und er wandte sich in italienisch gefärbtem Deutsch an den Kondukteur mit der Frage, was die Dame wünsche und ob er vermitteln könne. Pave war wenig erbaut. Nichts war ihr so verhaßt wie Zudringlichkeit von fremden Herren, ja nichts war so sehr angetan, ihr Selbstbewußtsein herabzumindern. Wie unansehnlich, arm, heimatlos und hergelaufen mußte sie wirken, da ein Herr, der ihr nicht vorgestellt war, es wagte, ihre Bekanntschaft zu suchen! Sie warf dem Brünetten einen abweisenden und zornigen Blick zu, nahm die Mädchen an der Hand und kehrte zu ihrem Coupé zurück.

»Nun haben wir die Schule nicht gesehen, in die der Miu gegangen ist, wie er ein kleiner Bub war!« sagte sie bedauernd zu Miliza, als der Zug die Stadt hinter sich ließ. Das gute Kind war voll leidenschaftlichen Interesses, preßte das Gesicht ans Fensterglas und wollte durchaus doch noch Mius Schule sehen. Allein es waren keine Häuser mehr zu erblicken. Der Nebel hatte sich gehoben und schwebte als lockerer Wolkenzug über der Landschaft, die sich allmählich veränderte.

In ziemlicher Entfernung, von Nebel und Wolken teilweise bedeckt und umlagert, aber doch immer wieder sichtbar, erhob sich bläuliches Gebirge, die Bauart der Häuser nahm einen bäuerlichen Charakter an, die regelmäßigen Nadelgehölze blieben zurück, und schöne, weit ausholende Buchen, deren Laub freilich zumeist als ein 116 rostbrauner Teppich unter sie hingebreitet lag, standen untermischt mit mächtigen dunklen Tannen und Fichten. Die Berge rückten näher heran, und Pave sah sich mit herzklopfendem Entzücken in eine fremde, zauberhafte Welt versetzt, wie sie eine ähnliche nur einmal, vor fünf Jahren, erblickt hatte, als sie, von Ragusa kommend und nach Agram reisend, das bezwingend schöne Bergland des Gorski Kotar im Reisewagen durchquert hatte. Damals jedoch war sie zum erstenmal schwanger gewesen, und die Reise hatte ihr arge Beschwerden und Übelkeiten verursacht, so daß sie der fremden Schönheit nicht froh zu werden vermochte.

Heute sah Pave entzückt auf das sich höher türmende Gebirge, auf die Felsen, die nun schon da und dort nackt der Erde entbrachen, auf das Gewirre ihr unbekannter niederer Stauden und kleinblätteriger Farren und Moose. Obwohl nun gebräunt oder vergilbt, ohne Blüten und Früchte, erschienen sie ihr doch, wie sie unter dem Schutz mächtiger Bäume bis dicht an die Eisenspur der Bahn heran den Waldboden bedeckten, als so lieblich und lockend, daß sie den heftigen Wunsch empfand, trotz des feuchten Novembertages auszusteigen und inmitten dieser holden, heimlichen Pflanzenwelt stille und lange Stunden zu verweilen.

Sie sah mit Rührung das nackte Geäst der Bäume, und es war ihr, als ob hier im kalten Norden, wo jeder Baum vor Winters sein welkendes Kleid abwerfen durfte, seine Seele noch besser zu erkennen sei als im Süden, wo das hartblätterige, widerstandsfähige Laubgewand niemals die Zweige entblößte. Wie rufende, sehnende Seelen schienen diese nackten Baumgestalten ihre Äste zu breiten; heldisch und fest die mächtigen Eichen, erhaben in der gewundenen Vielfalt ihrer Zweige ruhend; still der Erhörung harrend die graurindigen Buchen, während die Ebereschen, die da und dort noch Reste ihrer vom Reif dunkelrot gebrannten Früchte trugen, wie in wildem Hilfeschrei ihre Arme zum Himmel warfen. Am rührendsten aber schienen ihr die zarten weißstämmigen Birken. 117 Frommen Tänzerinnen gleich breiteten sie in herzbezwingender Anmut ihr spitzenfeines Geäste, als sprächen sie zu einem entgegenkommenden Geliebten: »Hier bin ich!« Oder war Gott dieser Geliebte, und glichen sie jenen Seelen, deren Inbrunst Pave ein mit Neid betrachtetes unfaßbares Rätsel schien, und deren einzige Seligkeit es war, sich völlig Gott anheimzugeben?

Pave erinnerte sich ihrer eigenen Heimat, der stacheligen immergrünen Sträucher, der Ölbäume, Pinien und Zypressen, des fischreichen, von Segelbooten durchfurchten salzigen Meeres, der sanften Inselrücken, der Muscheln, Melonen und Trauben. Nie verließ sie die brennende Liebe zu der ihr angestammten Meerwelt. Wann immer sie die Augen schloß, vermochte sie sich den Pinienwald hinter dem Haus in Lukoran, den süßen, bienenlockenden Duft des Oleanders, das herzerschütternde Erblühen der Myrte, das dem Aufflammen eines weißen Lichtes glich, wachzurufen. Sie glaubte, das Meer zu riechen, sein Salz auf ihren Lippen zu schmecken, den nächtlichen Ruf der Fischer zu hören, der so langgezogen und urweltlich klang und mit keinem andern Laut auf der Welt zu vergleichen war. Sie vermeinte die Bora zu spüren, wie sie sich vom fernen Velebitgebirge herniederschwang, dem sie den ganzen langen Kamm entlang helle Mützen aufgesetzt hatte, wie sie in den Lüften sauste, das Meer zu unzähligen lustigen Wellen mit weißen Schaumkronen aufpeitschte und prickelnd auf der Haut der Menschen brannte. Und sie begriff plötzlich beim Anblick dieses vorbeifliegenden, sie so seltsam rührenden schlichten Waldbodens, daß jede Landschaft ihre eigene unverwechselbare, lebendige Seele hat, die sich dem Menschen, der ihrem Grund entsprossen ist, auf ewig einprägt, sofern der Adelsname Mensch überhaupt auf ihn Anwendung finden darf. Sie verstand, daß der dichte Wald aus schwarzen Fichten und im Winter entlaubten Buchen und Eichen, daß das mannigfaltige, schluchtenreiche Gebirge, der strömende Bach, das vielfache Leben der Wiesen und Hänge, die nun in einem braunen 118 Winterschlaf zu liegen schienen, daß all dies für die Menschen dieser Breiten berauschende, nie genug zu liebende, tief eingewurzelte Heimat war; Heimat, nach der man in der Fremde weint, von der man in den Nächten träumt, für die man sein Blut vergießt. Und zum erstenmal, seit sie ihren eigenen Mutterboden verlassen, seit sie, eine Unbehauste, Nirgend-Erkannte, in immer wechselnden Städten und Ländern gewohnt hatte, ergriff sie Liebe zu fremder Erde, gerührte Zärtlichkeit, Verstehen und der heiße Wunsch, verweilen, besser erkennen und tiefer lieben zu dürfen.

An einer Station, wo würzige, kalte Luft durchs Fenster hereingeströmt war, hatte der Kondukteur ihr zugerufen, daß hier zur besseren Bewältigung der Gebirgsstrecke eine zweite Lokomotive angekoppelt werde. Sie hatte den bleichen Herrn im geschweiften Zylinder vorbeischreiten und ihr Fenster mit dem Blick absuchen sehen; doch war ihr Zorn verraucht, und sie hatte des beharrlich Zudringlichen überhaupt nicht geachtet; sie hatte weder Santa noch die noch immer eifrig spielenden Mädchen angeredet, sondern, da der Zug sich wieder in Bewegung setzte, mit einer Freude und Erregung, wie sie ihr selten oder vielleicht nie widerfahren waren, in atemloser Erwartung rastlos hinausgespäht und kommender Wunder geharrt. Sie hatte bald darauf durch das andre Fenster, wo Duschan schlafend lag und Santa ihm schweigend gegenübersaß, für kurz einen überwältigenden Blick auf ein ihr großartig scheinendes, langgestrecktes Gebirge erhascht, auf dessen mächtigem Rücken Schnee lag, wie Pave mit Herzklopfen festzustellen glaubte. Zwischen den Bäumen eröffnete sich immer wieder der Ausblick auf ein weites, bergumstandenes Tal, in dem mehrere große Ortschaften mit Kirchen und Schlössern zu sehen waren.

Pave atmete tief und faltete unwillkürlich die Hände. Wohl waren auch die alle Segelschiffe überholenden Dampfer wunderbare Dinge; sie hatte ganz wohl begriffen, was Pero und die Brüder ihr über den von den 119 Menschen so klug ausgenützten unbändigen Ausdehnungswillen des Dampfes erklärt hatten. Doch schien es ihr sicher, daß einen schwer lastenden Eisenbahnzug ohne alle Pferde- und Ochsenkraft über ein hohes Gebirge fahren zu machen, eine noch größere Tat, ein noch unbegreiflicheres Werk bedeuten mußte als die stolzen Raddampfer. Mit Schaudern und Bewunderung sah sie auf die kühne Untermauerung des Bahnkörpers, sie konnte es nicht fassen, wie es den Arbeitern möglich gewesen war, all diese Stützen und Brücken, ja die schauerlichen Löcher durch den Berg, die man Tunnels nannte, aufzuführen. Sie begriff nun erst das große Wesen, das vor einigen Monaten, als man diese Bahnstrecke eröffnet hatte, allenthalben davon gemacht worden war.

Krampfende Sehnsucht erfaßte sie, all diese Herrlichkeiten mit Pero zu schauen, das Aufflammen seines Auges zu sehen, wenn es die Gewalt von Natur- und Menschenkraft gewahrte, den Druck seiner Hand spüren zu dürfen, wenn sein Herz vor Bewunderung überwallte. Aber mehr als nach all diesem verlangte es sie danach, ihn Zeuge ihrer eignen Entflammtheit sein, ihn fühlen zu lassen, daß sie doch noch, nach allem Kleinmut, aller Verzagtheit, fähig war, sich über ein Ding außerhalb ihrer selbst und des engsten häuslichen Kreises so sehr zu freuen, daß sie vermeinte, es sprenge ihr die Brust. Ja, gemeinsame Freude, das war es, was Pero und sie nötig gehabt hätten, was mit einem hellen, schmetternden Jauchzen manche geheime Wunde geheilt, manche Fremdheit zurechtgerückt hätte. Pave wußte wohl, wie tief seine Enttäuschung zu sein pflegte, wenn sie auf seine dringliche, liebevolle Zumutung, sich mit ihm in einen jener Feuerbrände der Freude mit hineinreißen zu lassen, die sein Wesen mitunter funkensprühend erfaßten, nur lahmes Lächeln, kühl erstaunte Ablehnung, müden Hinweis auf die Schwere der täglichen Dinge bereit hatte. Heute und hier aber wäre sie mit ihm zu den Himmeln geflogen, in den feurigen Kern der Erde wäre sie mit ihm getaucht, sie hätte Gott, von dem er um so vieles mehr und mit so 120 viel stärkerer Inbrunst wußte als sie, mit ihm ins Angesicht gesehen.

Immer höher schraubte sich der Zug, immer häufiger trat die unheimliche, im Coupé von einem kleinen Öllämpchen, das der Schaffner entzündet hatte, notdürftig gebannte Verfinsterung der Tunnels ein, die Miliza und Cotia jedoch, anstatt sie zu erschrecken, zu unbändigem Lachen reizte, während Santa, trotz ihrer Reiseerfahrenheit, jedesmal wenn der Zug in eines der schwarzen Tore hineinbrauste, nicht versäumte, ein Kreuz zu schlagen und »O mamma mia!« zu murmeln. In immer unfaßbarerer Tiefe lag unten das enge Tal, von weißer Straße durchlaufen, immer höher gipfelten die Berge auf, immer breiter schatteten die Tannen, auf deren Ästen nun dünner Schnee wie die zarte Überzuckerung eines Kuchens lag. Je höher Pave den gegenüberliegenden Berghang hinanblickte, desto dichter sah sie den Schnee liegen. Nun rief sie doch die Kinder ans Fenster; waren sie auch noch klein, so würde dieser fremde Anblick dennoch ihr Herz entzücken. Wieder, wie am Morgen, da sie dem Vater Abschied gewunken hatten, nahm sie auf jeden Arm eines der Mädchen und zeigte ihnen das weiße Wunder. Ihre scherzhafte Zumutung, daß dies Zucker sei, den Gott und die Heiligen auf die Bäume gestreut hätten, fiel auf fruchtbaren Boden, endlos und immer wieder warfen die kleinen Mädchen dies Wort vom Zucker einem Ball gleich einander zu, konnten des Lachens kein Ende finden, prusteten heraus, tippten mit den Fingern an die Scheibe und jauchzten: »Ecco il zucchero! Ecco il zucchero!«

Mit Herzklopfen sah Pave nun in geringer Ferne eine mächtige, lange Steinbrücke mit berghohen, gemauerten Stützen in kühnem und herrlichem Schwung eine weite Talschlucht überqueren. Unmöglich schien es ihr, daß der schwere und lange Zug von den zierlich wirkenden Bogen würde getragen werden können, daß sie alle heil am jenseitigen Hange anlangen würden. Alsbald aber rollten die Wagen dröhnend über das ragende 121 Wunderwerk dahin, eine Fern- und Tiefsicht, wie sie sie so überwältigend selbst am heutigen Tage noch nicht genossen zu haben glaubte, riß sich unter ihnen auf, nun sah Pave auch an manchen Stellen des versunkenen Talgrundes Schnee liegen, steile und zerrissene Felsen überragten allenthalben das Tannicht, Berg erhob sich hinter Berg, Schluchten überschnitten einander, Wasser stürzte, und unendlich fern und klein zogen Menschen tief unten des Weges. Es war ein Anblick von so hinreißender Mannigfaltigkeit, der dennoch majestätisch in sich ruhte, daß Pave vermeinte, so Schönes nicht länger allein ertragen zu können. Sie riß die Gesichter der Kinder an sich, küßte sie stürmisch und immer wieder und sagte, von unsäglichem innerem Sturm gepreßt, in die glühende Haut ihrer Wangen, die Reiseverwirrtheit ihrer Locken hinein:

»Ach, wie schön ist dies! wie schön ist dies! Kinder, merkt ihr, wie wunderbar dies ist! Warum kann der Miu es nicht mit uns sehen!«

»Der Miu hat doch ins Büro gehen müssen«, entgegnete Miliza belehrend; dies war ihr morgens beim Abschied so nachdrücklich erklärt worden, daß sie sich wohl befugt fühlte, es der so unvernünftig fragenden und heischenden Mutter zu entgegnen.

Abermals verschlang Nacht die Herrlichkeit der Erde, abermals stampfte und dröhnte der Zug durch den Leib des Berges, drang Kohlenstaub scharf und erstickend durch die Fugen der Fenster. Und abermals wandelte sich die Schwärze vor den Scheiben allmählich in verheißungsvolles Grau, wölbte sich ein Torbogen, der ins Licht zurückführte, und umwuchs rührend und tröstlich kleines Gebüsch das schauerliche Tor des Tunnels.

An einer größeren Station wurde längere Zeit gehalten. Der Kondukteur sah herein, fragte, ob alles in Ordnung sei, und teilte mit, man sei auf dem Semmering, nun komme der längste Tunnel, und es gehe ins Steirische hinunter. Ob die Fenster gut geschlossen seien?

Der Brünette patrouillierte spähend vorbei und wurde 122 von Santa bemerkt, die einen blitzschnellen, schlauen Blick von ihm zu ihrer Herrin gleiten ließ. Pave jedoch wurde seiner nicht gewahr. Schnee hatte zu fallen begonnen, und sie suchte, beim gegenüberliegenden Fenster vom Getriebe der Station abgewandt, mit Miliza und Cotia den Weg der einzelnen Flocken zu verfolgen, wie sie sich aus dem grauen Himmel loslösten, in einem langsamen Tanz niederglitten und auf der harten winterlichen Erde, unter ihresgleichen nicht mehr feststellbar, verschwanden.

Als nun der längste Tunnel durchmessen wurde, war es den rascheren und erleichterten Zugsgeräuschen anzuhören, daß es bergab ging, und das neu gewonnene Licht beleuchtete grau eine veränderte, gemilderte, weichere Landschaft. Schnee fiel noch immer auf gestreckte, nicht mehr von Felsen zerrissene Bergrücken; Ortschaften mit behäbigen Gasthöfen dehnten sich an gemächlicheren Hängen; allmählich mündete das sanftere Bergabfahren des Zuges in einer weiten, nur noch von ferne von mäßigen schneelosen Höhenzügen begleiteten Talsohle.

Pave, innerlich noch tief erregt von der erschauten Herrlichkeit, wandte sich vom Fenster ab. Sie besann sich, daß es Zeit für das Gabelfrühstück geworden sei, entnahm dem Vorratskörbchen mit Schinken belegte Brote und verteilte sie, Santa dabei besonders kräftig bedenkend. Der Zug hielt abermals. Durch einen kleinen, lustig blickenden Burschen wurden schäumende Biergläser an den Zug gebracht. Pave erstand eines für Santa, welche das wirksame Ammengetränk mit großer Begier entgegennahm. Da das Bier getrunken, das Glas dem munteren kleinen Verkäufer zurückgereicht war, der Zug abfahrtsbereit stand, und im Innern des Coupés alle mit der Bewältigung der Schinkenbrote beschäftigt kauend umhersaßen, wobei Pave den kleinen Mädchen sorglich weiße Servietten auf die Knie gebreitet hatte, wurde die Tür auf der Stationsseite nochmals aufgerissen, und zwei verspätete Reisende erkletterten, vom Kondukteur hineingeschoben, hastig, erhitzt und aufgeregt das Coupé. Kaum 123 war die Tür hinter ihnen zugeschlagen worden, so setzte der Zug sich in Bewegung.

Die Neuankömmlinge waren eine große, grobknochige Frau in schwarzer Kleidung und ein halbwüchsiger Knabe. Die Frau hatte ein langgezogenes, derbes und strenges Pferdegesicht mit breiten Backenknochen, großen, meist von der Oberlippe entblößten Zähnen und einem kräftigen, etwas vorgeschobenen Unterkiefer. Sie trug ein schwarzes Wollkleid ohne Reifrock, darüber eine wattierte Pelerine, die wie ein großes Umhängetuch geschnitten war, und eine ziemlich unförmige Schute, von der ein Trauerschleier niederfiel. Sie schien nicht eigentlich eine Dame zu sein, doch machte sie Pave den Eindruck einer Herrin; vielleicht besaß und leitete sie einen großen Gasthof oder ein lebhaftes Geschäft. Obwohl Pave über die fremden Eindringlinge, weil sie die nun schon gewohnte Ordnung im Coupé störten, zunächst bestürzt gewesen war, faßte sie schnell etwas wie geheimes Zutrauen zu der fremden Frau. Der Knabe mochte vierzehn oder fünfzehn Jahre alt sein; er erinnerte in der Gesichtsbildung an die Mutter, hielt sich jedoch nicht so gerade wie diese und machte einen etwas linkischen, schüchternen, aber wohlerzogenen Eindruck. Auch er war schwarz gekleidet, seine Beinkleider reichten nur bis zur Höhe der halben Unterschenkel und ließen grob gestrickte weiße Strümpfe und den obern Rand von Zugstiefeln mit Gummieinsätzen sehen, was Pave mit einer gewissen Belustigung gewahrte.

Als die Fremde bemerkte, daß sie eine auf langer Fahrt begriffene Familie durch ihr Dazwischenkommen störte, daß hier kleine Mädchen mit Puppen spielten, ein von der Amme bewachter Säugling schlief, und eine Familienmutter aus dem Eßkorb Reiserationen verteilte, suchte sie bescheiden ein Plätzchen, wo niemand der behaglich Eingenisteten behelligt würde. Pave jedoch hatte sich sogleich erhoben und der Frau ihren eignen Fensterplatz gegenüber dem Spielwinkel der Mädchen angeboten. Der Knabe setzte sich neben die Mutter, während 124 Pave den Platz der Santa einnahm, und diese neben sich sitzen ließ. Die Eingestiegenen, die nur wenig Gepäck mitführten, verhielten sich still und wie vorläufig auf den Kanten ihrer Sitze. Sie atmeten beide heftig, offenbar beherrschte die soeben überstandene Gefahr des Zuspätkommens sie noch völlig. Als sie sich etwas beruhigt hatten, begannen sie leise miteinander zu sprechen, sahen nach der Uhr und schauten über Pave und Santa hinweg angelegentlich und wie Leute, die etwas Bestimmtes ergründen oder feststellen wollen, durch das Fenster zur Rechten, wobei sie sich zuweilen leicht von ihren Sitzen erhoben. Dann saßen sie wieder still und bescheiden da, bis der Knabe plötzlich aufstand und »Jetzt!« sagte. Nun bat die Frau höflich, ob sie und ihr Sohn einen Augenblick lang durch das Fenster, neben dem Pave saß, blicken dürften. Sie würden das kleine Kind gewiß nicht wecken. Die Frau sprach so deutlich, daß Pave sie gut verstand. Sie gewährte lächelnd die Bitte. Mutter und Sohn stellten sich nun dicht nebeneinander vor die Scheibe, und die Frau wandte sich nochmals an Pave mit der Erklärung, sie hätten den Wunsch, das Grab ihres Gatten und Vaters, der gestern bestattet worden sei, nochmals zu sehen. Wirklich bemerkte Pave alsbald einen ländlichen Friedhof, der mitten zwischen Feldern, von einer niedern Mauer umgeben, sich in einiger Entfernung und außerhalb jeglicher Ortschaft einen Hang hinanzog. Eine winzige Kapelle stand an seinem Eingang. Pave sah mit Teilnahme, wie die beiden die Hände falteten, ein Kreuz schlugen, sich gegen den Friedhof verneigten, und, als er mitsamt Mauer und Kapelle zurückgeblieben war, einander einen Augenblick lang an der Hand faßten. Dann setzten sie sich wieder ruhig auf die Kanten ihrer Sitze. Pave hörte den Knaben sagen:

»Ich hab' das Grab ganz gut gesehen«, worauf die Mutter gefaßt entgegnete: »Freilich, wie solltest du's nicht gesehen haben. Ist ja ganz vorn.«

Pave wagte nichts zu sagen, ihres mangelhaften 125 Deutsch wegen, doch blickte sie die derbe, stille Frau mit sprechendem Mitleid in den Augen an, und richtete absichtlich einige italienische Worte an Miliza, um zu zeigen, daß sie eine Fremde sei.

Der Zug fuhr nun sehr rasch zwischen breiten Ortschaften dahin, ein schönes Flüßchen kam oftmals der Bahn ganz nahe. Als ein größerer Ort, dessen alte Türme schon lang zu sehen gewesen waren, herankam, ergriffen Mutter und Sohn ihre wenigen kleinen Gepäckstücke, grüßten höflich und stumm und verließen schnell das Coupé; Pave sah ihnen nach, wie sie in ihren ungeschickten Kleidern mit großen Schritten das Gewühl durcheilten und im Bahnhof verschwanden.

Unerklärlicherweise war sie betrübt, daß diese Leute sich so rasch wieder davongemacht hatten; ihr Herz, eben noch geschwellt und pochend ob der Schönheit des Gebirges, lag ihr nun schwer in der Brust wie ein Stein am Grund eines Brunnens, und sie sann grübelnd den Entschwundenen nach. Wer waren sie gewesen? Hatte es mit dem Tod jenes Vaters irgendeine besonders düstere Bewandtnis gehabt? Welch starken Geistes mußte diese Frau sein, die gestern den Mann begraben hatte, die ihn, wie ihr Verhalten bewies, fromm und von Herzen betrauerte, und die doch ihrer Betrübnis so völlig Herr zu werden vermochte, daß sie aufrecht und besonnen, den jungen Sohn stark und liebevoll führend, durch ihren Witwentag ging, das Grab des Entrissenen gefaßt wiedersah, und tapfer und tränenlos das Leben meisterte! Würde sie, Pave, jemals wieder ihres Daseins froh werden können, wenn Pero ihr – o furchtbarer, nicht einmal von fern zu fassender Gedanke – eines Tages entrissen würde? War es denkbar, daß sie sprechen, sich bewegen, denken und handeln würde, als wäre nichts geschehen? Es schien ihr schlechterdings nicht möglich, daß sie nach einem solchen Verlust überhaupt noch leben könnte. Die Gräfin Strassoldo kam ihr in den Sinn, die gesagt hatte: »Was nützt es, zu weinen!« Die Frau, die eben ausgestiegen war, dachte gewiß ebenso. Und Vuk 126 Karadžić, der sonderbare alte Mann, hatte er nicht zehn geliebte Kinder begraben, und ging dennoch rastlos und ohne Wanken, arm und krank, wie er war, seiner schweren, unsteten Sendung nach? Waren alle anderen stark, und nur sie schwach, feige und hinfällig? Sandte Gott ihr absichtlich diese mutigen Vorbilder geprüfter Menschen, um ihr zu zeigen, daß sie selbst keinerlei Anlaß zur Betrübnis und Verzagtheit habe? Oder wollte er sie auf ein kommendes Unheil vorbereiten, sie kräftigen und stählen? »Nein, o Gott, nein! prüfe mich nicht! nimm mir niemanden! denn ich bin schwach, ich müßte zugrunde gehen! Ich könnte nicht tränenlos ein Grab grüßen, wie jene Fremde. Gott, Gott, prüfe mich nicht!«

Sie preßte die Hände ineinander, und ihren Augen entströmte, was jene andre Frau zu verhalten vermocht hatte: das salzige Wasser der Tränen.

*

Der zu ebener Erde gelegene, gewölbte Speisesaal des Gasthofes »Kaiser von Österreich« in Laibach war dicht besetzt. Die hohen und die jüngeren Offiziere, die wohlsituierten Laibacher Bürger, die vor gehäuften Tellern von Spezialgerichten saßen und den hellroten, dünnen Zwitschek, den einheimischen Wein, dazu tranken, ja, auch die wenigen, sehr eleganten Damen, die an den Tischen der Offiziere saßen, blickten auf, als Major Josef von Dobner und Hauptmann Oresković sich von dem behaglich geschützten Tisch neben dem großen Kachelofen, an dem sie wartend gesessen hatten, erhoben, um Pave entgegenzugehen, die in der Tür erschienen war. Sie trug das grüne Kleid, und da sie die vornehme Gesellschaft gewahrte, dankte sie Gott, daß sie die Mühe nicht gescheut hatte, es auszupacken. Trotz des Abschiedskummers und der Ermüdung sah sie frisch und anmutig aus. Die angenehme Atmosphäre des gediegenen Gasthofes, in dem Peros Freunde sie einquartiert hatten, umfing sie wie ein wohliges Bad und sie war entschlossen, 127 das Abendessen in dem behaglichen, kerzenerleuchteten Speisesaal sorglos zu genießen.

»Gewiß haben Sie schon gewartet«, wandte sie sich mit fröhlich abbittendem Lächeln an die beiden Herren. »Aber die Kinder waren heute abend schrecklich unartig. Werden Sie mir glauben, daß sie jetzt alle drei eine volle Stunde im Chor geweint und geschrien haben? Die Mädchen waren so bitter enttäuscht, weil Gitterbetten für sie vorbereitet waren. Pero hat ihnen in Wien erzählt, sie würden im Gasthof in großen Betten schlafen.«

»So haben wir's also erst recht falsch gemacht!« lachte Major von Dobner und sah Pave mit seinen verläßlichen, klugen blauen Augen an. »Wir haben Frau Jak – das ist die Wirtin – beschworen, Gitterbetten bereitzustellen, und sie wurden eigens vom Dachboden heruntergeschafft.«

»Ach, wieviel Mühe!« Pave lachte. Es war schön und erfreulich, hier zu sitzen und sich auf ein gutes Abendessen zu freuen. Sie fühlte, daß sie schön war, und daß alle im Saal es bemerkt hatten. Warum war Pero nicht hier! Wieder, wie heute morgens, da die Großartigkeit des Gebirges sie entflammt hatte, wünschte sie, er möge Zeuge ihrer Freude sein. Ganz gewiß würde auch er ihre Schönheit empfinden, er, auf den es ja einzig und allein ankam; und könnte er sehen, wie alle nach ihr herblickten, sogar der weißhaarige General an dem langen Tisch an der Stirnseite des Saales, so würde gewiß seine Liebe ganz hell angefacht werden.

Die beiden Offiziere, die auf Peros Briefe hin sich am Bahnhof eingefunden und alles und jedes zu ihrer Unterstützung und Bequemlichkeit unternommen hatten, waren ihr sympathisch. Den jungen Oresković, der zu ihrer Linken saß, kannte sie schon. Er war Peros Freund und Landsmann, und erst vor wenigen Wochen nach Laibach transferiert worden. Anfang Oktober noch hatte er bei Duschans Taufe in Wien Pate gestanden. Sie konnte seine junge Schlankheit und das übermütige Mienenspiel in seinem sonnengebräunten Gesicht gut 128 leiden. Der ältere, Major von Dobner, hatte sie trotz seines unregelmäßigen Gesichtes und seiner etwas hochschultrigen Gestalt sogleich durch die ruhige, kluge Güte seines grellblauen Blickes und durch die verläßliche Freundlichkeit seines Wesens gewonnen, als er sich ihr auf dem Laibacher Bahnhof vorstellte. Sie fühlte sich geborgen an der Seite dieses Mannes und blickte voll freudigen Vertrauens in sein ungleichmäßig gerötetes Gesicht mit den Brauen, die so hell waren, daß man sie kaum sah, mit der breitnüstrigen Stumpfnase und dem großen Mund. Er mochte nicht viel älter sein als Pero, doch empfand sie ihn fast wie einen guten Vater.

»Was wird unsre liebe Gnädige nun zu speisen wünschen?« wandte er sich an Pave. »Oresković und ich haben uns schon ein Menü für Sie ausgedacht: als Vorspeise gebackenen Hecht und nachher Hühner. Oder wollen Sie zur Vorspeise ein Paar Krainer Würste versuchen? Das ist eine Delikatesse hierzulande.«

Pave bat um Fisch. Sie knabberte an einem Stück Semmel und versuchte den dunklen Wein, den Oresković ihr eingegossen hatte.

»Das ist ein Dalmatiner, ein guter Lissaner.« Major von Dobner erhob sein Glas, und Pave dankte ihm lächelnd, dann trank sie dem lustigen Oresković zu.

Der Fisch war unterdessen gebracht worden, und alle vertieften sich aufmerksam in den Genuß des festen und doch zarten, aber nicht grätenlosen weißen Fleisches unter der knusprigen panierten Kruste. Während sie der Gräten wegen schweigend aßen, betrat ein verspäteter Gast den Saal und nahm den leeren Tisch ihnen gegenüber ein.

Pave stellte sofort mit einer Mischung von Verdruß und Befriedigung fest, daß es der brünette Stutzer von der Reise war. Ohne Mantel, in übertrieben langem Gehrock wurde es noch deutlicher, daß er wie eine Dame geschnürt war. Seine Weste wies ein lebhaft geblümtes Muster auf, sein volles Gesicht schien noch bleicher als untertags. 129

Der Neuangekommene verneigte sich mit ausführlicher Feierlichkeit gegen den Saal, und es wollte Pave scheinen, als ließe die Art, wie ihm an allen Tischen mit nachdrücklicher Höflichkeit gedankt wurde, fast darauf schließen, man grüße so beflissen, weil man eigentlich versucht war, diesem Ankömmling seinen Gruß nur nachlässig zu erwidern. Anderseits schienen die meisten der Anwesenden ihm Interesse entgegenzubringen, und an den Blicken, die in seine Richtung gingen, war es zu erkennen, daß das Gespräch sich zwischen vielen der hier Speisenden nun zunächst um ihn drehte. Er nahm diese Aufmerksamkeit jedoch scheinbar nicht zur Kenntnis, sondern versank, kaum daß er auf seinem Stuhle saß, in eine Art von erhabenem Brüten. Es kam Pave vor, als habe ihr Reisegefährte sich auf eine hoch segelnde Wolke geschwungen und als lagere er nun, träumerisch ablehnenden Tiefsinnes voll, über der Gesellschaft, von welcher er aber doch nicht wirklich absah. Es belustigte sie, daß er sie noch nicht bemerkt zu haben schien.

Sie erkundigte sich bei ihren Begleitern, wer der neue Nachbar sei, und die Auskunft, die sie erhielt, interessierte sie zwar lebhaft, überraschte sie aber nicht eigentlich. Dies sei, erklärte Oresković, der Tenor der italienischen Operntruppe, die nun leider ihre Stagione beendet habe. Vor drei Tagen habe er als Herzog in Rigoletto seinen Schlußtriumph gefeiert, sein »La donna è mobile« sei unübertrefflich gewesen.

»Schade, daß Pero es nicht hören konnte, Rigoletto ist seine Lieblingsoper«, sagte Pave mit belustigtem Lächeln und so wenig leise, daß das vertraute Wort »Rigoletto« dem Sänger verständlich gewesen sein mußte, denn er holte plötzlich den Blick aus seiner schweifenden Ferne und sah herüber. Und zwar hefteten sich seine dunklen, frauenhaften Augen, ohne sich im mindesten bei den beiden Herren aufzuhalten, sogleich mit erstauntem, ja erschrecktem Blick auf Pave. Sie umkreisten und betasteten sie ausführlich mit jenem sonderbaren 130 Ausdruck von Verwunderung, der Pave schon auf dem Wiener Bahnhof ärgerlich aufgefallen war. Sie runzelte ganz leicht die Stirne und wandte sich angelegentlich an Oresković mit der Frage, ob er sich eigentlich in Laibach wohlfühle oder nach Wien zurücksehne.

»Es ist ein lieber, lustiger Ort, die Leute hier sind freundlich und gebildet, und man kann in so einer Mittelstadt aus dem elenden Offiziersdasein immerhin noch mehr herausschlagen als in Wien.«

»Sagen Sie auch ›elendes Offiziersdasein‹?«

»Wer sagt es noch?«

»Nun, Pero.«

»Ja, ich sage es auch, aber anders als er. Ich bin von ganzem Herzen Offizier, ich könnte und möchte nichts anderes sein. Aber die schlechte Bezahlung, das ewige unstete Wandern und die immerwährende Fremdheit innerhalb der eigentlichen Bevölkerung, wenn man auch angeblich eine bevorzugte Stellung einnimmt, das alles verdrießt mich. Pero jedoch nennt sich einen Söldner, wie oft habe ich ihn das sagen hören, er fühlt sich vergewaltigt, weiß der Teufel, warum; bei ihm sitzt der Widerwille viel tiefer.«

Major von Dobner lächelte: »Pero ist ein Dichter. Er würde auch jeden anderen bürgerlichen Beruf als quälende Fessel empfinden. Und doch ist es ein Glück für ihn, daß er ihn hat. Ich bin nicht der Meinung, daß es für einen Dichter gut ist, wenn kein anderes Gesetz als das seiner Begnadung über ihm steht.«

»Ich glaube, daß Pero es sich trotzdem wünschen würde.« Pave sah den guten, klugen, häßlichen Dobner fragend an. Dabei fühlte sie mit Mißbehagen, daß der Opernsänger nicht abließ, sie anzustarren.

»Meine verehrte gnädige Frau, was wünschen wir uns nicht alles! Glauben Sie, daß die Erfüllung unserer Wünsche unser Glück ausmachen würde? Etwas ganz anderes ist unser Glück. Möchten Sie wissen, was?«

»Freilich möchte ich das.«

»Über unsere Wünsche hinauswachsen und einen 131 höheren Willen als den unsern verehren lernen. Es gibt kein anderes Glück. Oresković, ich seh dir's an, daß du dir denkst: der Herr Feldkurat predigt wieder einmal!«

Oresković lachte:

»Nein, Herr Major, das denke ich nicht. Ich weiß auch, daß du recht hast. Aber man muß halt gescheiter werden, als wir es sind, um so zu denken wie du.«

»Du meinst, man muß ein alter Esel sein! Was, Oresković?« Herr von Dobner lachte so gütig mit seinem unregelmäßigen roten Gesicht, daß Pave meinte, nie ein schöneres Lächeln gesehen zu haben.

Die Hühner waren aufgetragen worden, dazu welscher Salat und Reis. Dobner goß Paves Glas wieder voll.

»Nicht, nicht, der Wein ist mir zu schwer.«

»Aber wir haben noch nicht auf Pero angestoßen.«

Pave ließ sich bereden.

Sie hob ihr Glas und stieß mit den beiden Herren an.

»Auf Peros Wohl!« sagte Dobner. »Wir wissen alle, was wir an ihm haben. Auch wir, die wir keine Slawen sind. Wir Kameraden verehren ihn und wünschen, daß er ganz werden möge, wozu er berufen ist.«

Pave errötete vor Glück. Sie fühlte sich so leicht und heimisch in dem schönen, kerzenflimmernden Saal, die Freundschaft, welche die beiden Offiziere ihrem Gatten entgegenbrachten, erwärmte ihr das Herz, und es tat ihr wohl, sich einmal für kurze Stunden harmloser Unbeschwertheit hinzugeben.

Sie trank ein paar Schlucke von dem tiefdunklen Wein, und als sie das Glas niederstellen wollte, bemerkte sie, daß der Tenor drüben an seinem Tisch ebenfalls sein Glas erhoben hatte und es ihr mit der Gebärde des Zutrinkens entgegenhielt. Zorn ob dieser Frechheit wollte sie überkommen, doch sagte sie sich rasch in einer Anwandlung von Lebenskunst, die ihr sonst fremd war, sie wolle sich die gute Stunde durch nichts, am wenigsten durch die schlechten Manieren eines fremden Kulissenreißers vergällen lassen, sah nur unbewegt in eine andre Richtung und stellte ihr Glas nieder. 132

Oresković jedoch hatte die stumme Szene bemerkt. Lachend und leise sagte er zu Pave, indem er es sorgfältig vermied, zum Tisch des Sängers hinüberzublicken: »Sie haben eine Eroberung gemacht, gnädige Frau. Lorenzoni ist ein Herzensbrecher. Wohin er kommt, sind die Frauen wehrlos. Hier hat es Tragödien gegeben. Aber nun scheint er sich verliebt zu haben. Sehen Sie nur, mit was für verzweifelten Augen er Sie anstarrt.«

»So wird seine Herzensbrecherei wohl meistens beginnen!« Pave wunderte sich selbst über ihre Schlagfertigkeit. »Männer wollen Frauen nur fröhlich sehen, aber Frauen schmilzt das Herz, wenn ein Mann traurig ist.« Dabei dachte sie: ich habe schon von Ihnen gelernt, Gräfin Strassoldo! und sie mußte lachen, was wieder ihre beiden Kavaliere neugierig machte.

Oresković sagte: »Ich habe nicht gewußt, daß Sie so erfahren sind.«

»Man lernt eben mit der Zeit!« Sie trank noch ein wenig Wein und fühlte sich froh, klug und schön. »Übrigens hat Ihr Herr Opernsänger mich schon die ganze Reise über mit so runden Augen angestarrt. Er war seit Wien im gleichen Zug wie wir.«

»Ei, ei!« lachte Dobner. »Ich hörte davon, daß er sich um ein Engagement an der Wiener Oper bewirbt.« Dann sah er Pave mit seinem guten Vaterlächeln an und sagte zu Oresković:

»Wenn die gnädige Frau nicht die Gattin unseres Freundes wäre, würden auch wir beide uns heute abend in sie verlieben, was? Jedenfalls wollen wir jetzt ein Glas auf sie leeren und ihr baldige, völlige Genesung wünschen.«

Der Opernsänger wandte kein Auge von seinem Gegenüber. Er sah die schöne junge Frau, die sich in Unschuld und Harmlosigkeit mit den Herren ihrer Gesellschaft unterhielt, die das Haupt mit den dunklen Locken so anmutig hielt und bei aller Fröhlichkeit damenhaften Abstand wahrte, fassungslos an. Keiner seiner glühenden und verzehrenden Blicke war bis jetzt 133 erwidert worden; nun aber, da sie abermals mit ihren Begleitern angestoßen hatte, warf die schöne Grüne einen mutwilligen Blick herüber.

Pave wunderte sich über sich selbst und schämte sich ein wenig. Sie durfte nun keinen Wein mehr trinken. Sie hüllte sich wieder in Ernst und Würde und wandte sich an Dobner mit der Frage, ob der Wagen morgen früh gewiß pünktlich zur Stelle sein würde.

»Da kommt eben derjenige, der es uns am besten sagen kann!«

Ein eleganter, gut gewachsener Mann mit hoher Halsbinde und modischem Gehrock war eingetreten und ging mit höflicher Verneigung von Tisch zu Tisch.

»Das ist Herr Jak, der Wirt vom ›Kaiser von Österrreich‹! Ein berühmter Mann, Freund vom Feldmarschall Radetzky«, stellte Dobner vor.

»Sie kennen den Grafen Radetzky?« fragte Pave interessiert.

»Der Herr Feldmarschall hat uns vor vier Jahren, gelegentlich des Kaiserbesuches, die Ehre erwiesen, eine Woche bei uns zu wohnen.«

Herr Jak erkundigte sich nun, ob die gnädige Frau Majorin mit dem Quartier zufrieden sei, und versicherte, daß der Wagen zur Reise nach Triest morgen um sechs Uhr pünktlich bereitstehen werde. Im »Gasthof zur Krone« in Adelsberg werde Relais vorhanden sein, und er würde empfehlen, dort die Mittagsstation zu halten.

Obst und Käse waren auf- und wieder abgetragen worden, und Herr von Dobner bestellte nun noch schwarzen Kaffee.

Der Wirt war auf seiner Wanderung beim Opernsänger angelangt. Dieser zog ihn sogleich in ein eifriges Gespräch, ja, er nötigte Herrn Jak, sich zu ihm zu setzen.

»Ich möchte wetten, daß er den Wirt jetzt über Sie ausfragt!« lachte Oresković doch Dobner, der vermutete, es sei Pave nicht angenehm, dieses Thema noch weiter ausgesponnen zu sehen, erkundigte sich ablenkend, 134 ob Pero mit neuen dichterischen Arbeiten befaßt sei.

Pave errötete.

»Ich weiß es nicht. Er erwähnt diese Dinge selten zu Hause. Er hat viele Freunde in aller Welt, denen er Briefe schreibt, ihnen erzählt er wohl über seine neuen Gedichte. Seiner Frau sagt er nichts davon.«

In ihrer Stimme lag Trauer, und ihre übermütige Laune war dahin. Dobner sah es, und es tat ihm leid. Während er noch überlegte, was er an Tröstlichem vorbringen könnte, hatte Pave sich erhoben.

»Es ist spät, und ich muß morgen wieder früh heraus«, sagte sie mit jener müden Erloschenheit, von der sie oftmals jählings überkommen wurde.

»Sie wollen den Schwarzen in Stich lassen? Eben wird er gebracht.«

Die beiden Herren waren aufrichtig betrübt.

»Trinken Sie ihn zu meinem Andenken«, scherzte sie, während sie ihnen die Hand reichte. »Vielen Dank für den schönen Abend. Ich sehe Sie morgen früh noch?«

»Selbstverständlich. Wir sind zur Stelle und werden Sie instradieren. Recht gute Ruhe, gnädige Frau! Gute Ruhe!«

Pave empfing die Handküsse ihrer beiden Tischgefährten und ging rasch dem Ausgang zu. Man sah ihr von allen Tischen nach.

»«Warum ist sie nun so schnell davon? Glaubst du, daß sie launenhaft ist?« fragte Oresković verblüfft, während er seinen Mokka löffelte.

»Es ist meine Schuld. Ich habe etwas Dummes gesagt, das ihr weh getan hat. Arme, kleine Dichterfrau!«

Dobners gute blitzblaue Vateraugen ruhten noch nachdenklich auf der braunen Tür, als Pave längst hinter ihr verschwunden war.

*

Und wieder, wie am Vortag, Aufbruch bei Morgengrauen. Wieder wurden die winterlich vermummten 135 Kinder die dämmerige Treppe hinabgeführt, von Hausknechten wurden Koffer geschleppt, wieder stand ein mächtiger Wagen im feinen feuchten Nebel vor der Tür.

Dobner und Oresković waren getreulich zur Stelle gewesen, hatten Paves Frühstück in der kleinen Wirtsstube beigewohnt und ihr versichert, daß Herr Kusmar, der Kutscher, den Herr Jak besorgt hatte, ein ihnen bekannter, hochverläßlicher Mann sei. Nun scherzten sie mit den Kindern, Oresković nahm sein Patenkind auf den Arm, Dobner bewunderte die Puppen der Mädchen. Während die Gesellschaft sich durch den breiten Flur bewegte, erblickte Pave halb verborgen hinter den Pilastern, die das Treppenhaus trugen, den Opernsänger von gestern. Er stand in schüchtern zuwartender Haltung da und schaute verlegen an ihnen vorbei.

Vom Reisewagen her näherte sich der Wirt und bat Dobner beiseite. Nach kurzem Gespräch kehrte dieser zurück und stellte an Pave die Frage, ob Herr Lorenzoni, der Tenor, die Fahrt nach Triest mit ihnen im Wagen machen dürfe. Er habe die kaiserliche Post, die um zwei Uhr früh gegangen sei, versäumt und wäre bereit, die Hälfte der Kosten für den Reisewagen zu tragen.

Pave war höchst verwirrt und wußte zunächst nicht, was sie denken und sagen sollte. Das erste, was sich ihr darstellte, war die verbilligte Reise. Und wäre es nicht erfreulich gewesen, während des langen Reisetages noch eine andre Gesellschaft zu haben als die feindselige Santa und die kleinen Kinder? Wäre nicht männlicher Schutz sogar angezeigt?

Schade; wenn es Dobner gewesen wäre oder Oresković oder wer immer sonst. Aber dieser Komödiant, dieser Gepuderte mit den dreist werbenden Frauenaugen, die sie nun schon den zweiten Tag verfolgten! Sie sah sich von Santa mit strengem und schlauem Blick beobachtet.

»Das geht nicht!« sagte sie zu Dobner. »Was für ein Einfall! In einem Wagen voll von kleinen Kindern kann 136 man keinen Fremden brauchen. Auch haben wir keinen Platz.«

»Keinen Platz?« fragte Dobner. »Platz hätten Sie wohl. Aber ich begreife, daß die fremde Gesellschaft Ihnen lästig ist. Ich gebe Ihren Bescheid sogleich weiter.«

Dobner sah Pave ein wenig lächelnd von der Seite an. Pero hatte eine ebenso schöne als tugendhafte Frau. Pero war zu beglückwünschen. Mit wenigen Worten verständigte Dobner den Wirt, daß die Dame keine fremde Gesellschaft wünsche. Die Reisenden bestiegen den Wagen, die Offiziere winkten, Herr Jak verbeugte sich, und aus der Tiefe des Flurs starrte der Tenor mit verzweifelter Sehnsucht auf das davonrollende Gefährt.

*

Die stundenlange Fahrt durch den Nebel war langweilig gewesen. Fast nichts hatte Pave von der Landschaft unterscheiden können. Nur einzelne Baumstämme, Felsen, Zäune und Haustore hatten sich aus der milchigen Verschleierung abgehoben. Die Kinder hatten glücklicherweise zumeist geschlafen. Durchgerüttelt und todmüde hatte Pave in ihrer Ecke gesessen und sich danach gesehnt, ein paar Schritte gehen, dem dumpfen kleinen Gefängnis entrinnen zu können.

Sie mußten viele Wälder durchquert, viele Ortschaften durchfahren haben, als sie – der Nebel war nun zerrissen, und es zeigte sich einiges Himmelsblau – in einem hübschen Städtchen vor einem schönen weißen Hause hielten.

»Adelsberg! Gnädige werden froh sein, auszusteigen! Und die kleinen Herrschaften auch!« Der Kutscher riß den Schlag auf, und die Gesellschaft kletterte in einem gepflegten Hof auf freundlich feste braune Erde hinab.

Pave bestellte sogleich ein Zimmer, wo die Kinder gereinigt und umgekleidet werden konnten und wo sie selbst nach genossenem Mittagmahl ein wenig zu rasten gedachte. 137

Als sie eben damit beschäftigt war, den kleinen Mädchen die verstaubten Gesichter zu waschen, und Santa Duschan frisch kleidete, wurde an die Tür geklopft. Eine großgewachsene, hochschwangere Frau kam verlegen lächelnd herein. Es war die junge Frau des Wirts; sie kam, um sich nach einigen Einzelheiten, das von Pave befohlene Mittagmahl betreffend, zu erkundigen; aber es schien Pave, als habe der Wunsch, die Kinder zu sehen, sie hergeführt. Mit scheuer Zärtlichkeit strich sie den Mädchen über die frischgekämmten Haare und sah mit unverhohlenem Interesse Santa zu, wie sie Duschan in frische Windeln hüllte.

»Mühevoll muß es sein, mit so kleinen Kindern zu reisen, gnädige Frau!« sagte sie mit behutsamer Freundlichkeit. »Und Sie wollen gleich wieder weiter? Nicht über Nacht hier rasten?«

»Wir müssen bis abends in Triest sein«, sagte Pave und bot der Wirtin einen Stuhl an.

»O nein, nein, ich muß zurück in die Küche. Also Parmesan zur Reissuppe und Butter auf die Kartoffeln? In einer Viertelstunde ist alles bereit. Hoffentlich wird es schmecken.« Schwerfällig ging sie hinaus.

Das Mittagessen in dem freundlichen Gastzimmer verlief heiter. Alle fühlten sich erlöst, sich dehnen und strecken und auf sauber gedecktem Tische, von einer flinken Magd bedient, ein gut zubereitetes, warmes Mahl zu sich nehmen zu können. Die Wirtin erschien wieder, brachte ihren Mann mit, und beide betrachteten mit Rührung die eifrig essenden kleinen Mädchen.

Man war kaum fertig, als der Kutscher erschien und zum Aufbruch mahnte. Das Wetter hatte sich aufgeheitert. Eine fast heiße Sonne strahlte mittäglich aus einem tiefblauen Himmel. Das Wagendach war nun heruntergelassen, und wohlgemut ob der leuchtenden Witterung schachtelte man sich neuerdings ein.

Die freundlichen Wirtsleute standen winkend unter der Tür, und der Kutscher trieb soeben die Pferde zur Abfahrt an, als ein zweiter Reisewagen, dem ihren nicht 138 unähnlich, in den Hof einfuhr. Aus dem geöffneten Fenster neigte sich, die davonrollende Kutsche verblüfft und zornig anstarrend, Herr Lorenzoni, der Tenor aus Laibach.

Die beiden Kutscher riefen einander an, sie schienen Bekannte zu sein. Während der Wagen unter Peitschengeknall und »Höhö!« einen weiten Bogen beschreibend die breite Reichsstraße gewann, sah Pave, wie der Lenker der zweiten Kutsche, der abgestiegen war, mit seinem noch immer aus dem Wagenfenster blickenden und gestikulierenden Fahrgast ein lebhaftes und, wie ihr schien, streitendes Gespräch führte.

»Der Herr möchte gleich weiterfahren!« lachte der dicke Kusmar vom Bock herunter. »Aber alles hat seine Zeit. Weiter als von Laibach bis Adelsberg könnte nur der Teufel seine Pferde ohne Rasten antreiben.«

»Dieser Herr hat in der Früh die Post versäumt. Vielleicht muß er bis abends ein Schiff erreichen«, entgegnete Pave reserviert.

»Bei der heiligen Wahrheit, der will was andres erreichen als ein Schiff!« murmelte Santa, worauf Pave jedoch durchaus nichts antwortete.

Sie runzelte leicht die Brauen, lehnte sich zurück und sah in die sich weitende Landschaft. Was ging der fremde Mensch sie an, der es sich in den Kopf gesetzt hatte, diese Fahrt in ihrer Gesellschaft zurückzulegen! Würde er sie mit seiner Zudringlichkeit bei allen Kutschern und Wirten von Laibach bis Triest ins Gerede bringen wollen? Welches Glück, daß er nicht früher eingetroffen war! Denn konnte man wissen, welche lächerliche Szenen er imstande gewesen wäre aufzuführen, hätte sein Gefährt ihn nur um zehn Minuten früher nach Adelsberg gebracht?

Leichter, frischer Wind wehte ihr ins Gesicht, ein hochgewölbter Himmel blaute strahlend, und das wellige Land ringsum, das bald Felder und Wälder aufwies wie zwischen Graz und Wien, bald aber schon karstigen Boden und südlich hartblätteriges Buschwerk zeigte, 139 schien ihr anzukündigen, daß es dem Meere zuging. Langgestreckte Dörfer mit breiten Einkehrgasthöfen, deren gewaltige Strohdächer auf säulengetragenen Vorbauten ruhten, Hufschmieden mit weit offenen Türen, daraus riesige Feuer glosten, und die lärmenden Werkstätten der Wagner zeigten an, daß sie hier auf der großen Straße fuhren, die vom Herzen des Reiches nach dessen größtem Hafen führte. Vielerlei Fuhrwerk, hochbepackte Lastwagen und Bauernkaleschen wurden von Herrn Kusmar überholt oder kamen ihnen entgegen. An einer Biegung des Weges trafen sie mit der kaiserlichen Post zusammen, viele Reisende saßen hinter den Fenstern des gelblackierten Wagens, und vom Bock herab blies der Postillon auf rund gebogenem Horne ein schmetterndes und lustiges Lied, was die Mädchen nicht wenig erfreute.

Der kühle Geruch von feuchter Erde und welkem Laub mischte sich mit der warmen Ausdünstung der Pferde, und das schwarze Leder der Polsterung, das in der neumodischen Eisenbahn so übel nach Ruß und Rauch gerochen hatte, hier unter der warmen Mittagssonne schien es Pave nach eitel Behagen zu duften.

Bald hinter Adelsberg war zur Rechten in ziemlicher Entfernung ein breitrückiger, mächtiger Berg in Sicht gekommen, der nun, sein Profil nur wenig ändernd und weder sich stark annähernd noch sich merkbar entfernend, als ein dauernder Gefährte den Ausblick nach Westen beherrschte, wahrend das übrige Land frei dalag. Es war Pave, als führe sie über alle anderen Landschaften erhöht auf der gebogenen Oberfläche der Erde dahin, und nur der dunkelgraugrüne Berg zur Rechten sei ihr als finsterer Mahner und Wächter beigesellt.

»Wie heißt der Berg dort drüben?« fragte sie Herrn Kusmar, der herunterrief, das sei der Nanos, und er gehöre zum Birnbaumer Wald. Es sei ein boshafter Berg, wer sich auf seinem weiten Rücken verirre, der finde nicht so bald zurück, ja es gehe die Sage, daß er so manchen Wanderer ganz und gar verschlungen habe. 140

Als Miliza dies hörte, blickte sie scheu zu dem bösen Berg hinüber und griff nach der Hand der Mutter.

*

Die Frau, die auf dem kleinen Seitenpfad stand, als das Rad der Reisekutsche geknackt hatte, der Kutscher abgestiegen war und nun mit verdrießlich verlegenem Gesicht seine Gäste zum Aussteigen aufforderte, war eine untersetzte Person in mittleren Jahren. Sie ging barhaupt, trug eine schwarze Lüsterschürze über dunklem Kleid und um die Schultern ein gehäkeltes Wolltuch. Eine große graue Dogge wurde von ihr am Halsband gehalten.

Mit höflichen Worten in italienischer Sprache forderte sie die Gesellschaft auf, in ihr ganz nahe gelegenes Haus zu kommen, bis Wagner und Schmied den Schaden gutgemacht haben würden, und Pave, die dankbar war, nicht mit Sack und Pack zum nächsten Gasthaus wandern zu müssen, folgte trotz ihrer angeborenen Scheu vor Fremden ohne Umstände der Einladung.

Das Haus der gastlichen Frau, ein Mittelding zwischen Bauern- und Herrenhof, lag zur rechten Hand nahe der Reichsstraße. Mehrere Wirtschaftsgebäude umgaben es. Es schien am Eingang einer Ortschaft zu stehen, denn in einiger Entfernung zeigten sich weitere Dächer.

Als Pave mit Santa und den Kindern hinter der laut in das Haus hineinrufenden und befehlenden Frau einen dunklen und etwas muffigen Flur betrat, entstand sofort von allen Seiten lebhafte Bewegung. Ein hoch aufgeschossener blonder Jüngling, der linkisch grüßte, und ein alter, gebräunter Bauernknecht liefen zum Wagen, um das Gepäck herbeizubringen, eine dicke, lustige Magd kniete bei den Kindern, um sie von ihren Hüllen zu befreien, Reisig und Scheite, sowie Tischzeug wurde eilig vorbeigetragen, und alsbald sah sich Pave in einer hübschen, altmodischen Stube zu ebener Erde an einem 141 gedeckten Kaffeetisch sitzen. Die fremde Frau schenkte die Tassen voll und schnitt einen mächtigen Reinling, der wie durch Zauberspruch herbeigeschafft auf dem Tisch stand, in ebenmäßige große Stücke. Sie stellte sich als Gutsbesitzerin und Witwe Emilia Kozian vor und wurde nicht müde, Pave und die Kinder zum Zulangen aufzufordern. Duschan war auf ein breites, schön zugedecktes Bett in der Ecke des Raumes gelegt worden, wo er friedlich schlief, während Santa gemächlich in der warmen Küche saß, wo sie sich im Kreise der Italienisch verstehenden Dienstleute sehr wohl zu fühlen schien.

Die Witwe Kozian hatte dickes, schwarzes, straff frisiertes Haar, durch das weiße Fäden liefen, zwischen runden roten Bäckchen saß eine muntere Stumpfnase, aber die dunklen Augen blickten ergeben und still, und um die aufwärts geschwungenen Mundwinkel kräuselten sich wehmütige Fältchen.

Sie teilte Pave mit, daß sie eine Triestinerin und mit dem slowenischen Besitzer Franze Kozian verheiratet gewesen sei. Sie nahm das goldgerahmte Daguerreotypenbild eines jungen, dunkelhaarigen Mädchens von der Wand und gestand, Pave habe sie gleich, noch als sie im Wagen gesessen hatte, an ihre verstorbene Tochter erinnert, den kleinen Mädchen aber habe diese geglichen, als sie ein junges Kind gewesen war.

»Ich bin ein einsames Frauenzimmer«, seufzte sie und nahm mit Paves Zustimmung Cotia auf den Schoß, um sie besser füttern zu können. »Mann tot, Tochter tot, und ich hier in der Fremde. Aber was wollen Sie, Signora, jemand muß auf das Haus sehen. So sitze ich allein hier, und das Haus muß mir Mann und Tochter sein.«

Pave dachte gepeinigt: Müssen alle Menschen, die ich treffe, mir einen Verlust klagen? Gibt es auf der Welt nichts als Witwen und trauernde Eltern?

Der blonde Bursche trat ein und richtete mit verlegenem Gesicht einige Worte an Frau Kozian. Diese stellte ihn als den Neffen ihres verstorbenen Mannes vor 142 und sagte nicht eben sehr freundlich: »Frag die Signora selbst!«

Nun stotterte er hervor, er habe auf den Koffern einen Namen gelesen, einen Namen! Im Priesterseminar zu Laibach hätten sie ein schönes Gedicht gelernt, »Der Wanderer«. Ob da irgendein Zusammenhang sei zwischen dem Dichter und dem Namen auf den Koffern. Er bitte um Entschuldigung wegen der Frage.

Pave errötete bis unter ihre Locken vor Freude. Hier in dem fremden Haus, an der fremden, großen Straße gab es also Leute, die von Pero wußten. Gleich wollte sie es ihm schreiben! Dem Burschen aber sagte sie freundlich, ja, »Der Wanderer« sei ein Gedicht von ihrem Mann.

Der Junge stotterte nochmals: »Im Priesterseminar haben wir es gelernt.« Dann schwieg er verlegen, setzte sich etwas seitlich vom Tisch auf einen Stuhl, erhielt ein Stück Reinling, und während er es vorsichtig verzehrte, ließ er nicht ab, Pave mit großen Augen in schweigendem Staunen anzustarren, die Frau des Dichters, der ihnen allen, ihm und seinen Freunden, wie ein ferner Gott erschienen war.

Frau Kozian selbst war dem kurzen Gespräch ohne Teilnahme gefolgt. Sichtlich hielt sie die Frage des Burschen für eine Zudringlichkeit, denn sie sandte ihn sogleich wieder mit einem Auftrag hinaus.

»Der mit seinem Priesterseminar!« sagte sie wegwerfend und schnitt ein Gesicht. »Statt froh zu sein, daß ihm hier ein schönes Gut zufällt, das jemand andrem bestimmt gewesen wäre, jemand ganz andrem, seufzt und jammert er um seinen Priesterberuf. Entschuldigen Sie, Signora, daß er Sie belästigt hat.«

»Ach, er hat mich nicht belästigt«, rief Pave, »was er gesagt hat, freut mich doch!«

Dies aber schien Frau Kozian auch nicht recht zu sein. Sie begann nun die Schubladen einer alten Nußholzkommode herauszuziehen und unter vielerlei wohl aufgeräumten Schachteln und Päckchen zu kramen. Sie rief 143 Miliza und Cotia zu sich, zeigte ihnen zierliche Puppen in seidenen Kleidern, winzige Kochtöpfe aus glasiertem Majolika, eine Mundharmonika und sonstigen Kram und erzählte ihnen leise, dies sei das Spielzeug ihrer kleinen Tochter Teresina gewesen. Hier in diesem Zimmer habe sie damit gespielt, als sie ein ebenso artiges und hübsches kleines Mädchen gewesen war, wie sie beide es nun seien.

Einer ganz kleinen Schachtel, die aus buntem Stroh geflochten war, entnahm die Frau ein Silberkettchen, daran Glaube, Hoffnung und Liebe in Silber, geschmückt mit kleinen Türkisen, hingen, und legte das fromme Geschmeide Miliza um den Hals, die entzückt danach griff und die Mutter strahlend aufforderte, das Geschenk zu bewundern. Cotia aber hatte mit glühenden Wangen die Schätze in der Schublade gemustert; plötzlich fuhr sie auf ein dunkles Ding in der Ecke los und riß es an sich.

»Der schöne Muff! Der schöne Muff! Cotia will den schönen Muff!«

Der Gegenstand ihrer Begeisterung war ein kleiner brauner Plüschmuff; er war mit hellblauer Seide gefüttert und roch durchdringend nach Kampfer.

»Den kleinen Muff möchtest du? Teresinas kleinen Muff soll ich dir geben?« Die Hausfrau griff unschlüssig danach, Cotia jedoch stieß einen schrillen Schrei aus und preßte den ersehnten Gegenstand mit zornrotem Gesicht an sich, im nächsten Augenblick in ein jämmerliches Gebrüll ausbrechend.

Pave herrschte Cotia streng an, Frau Kozian aber betrachtete erschreckt das schreiende Kind und sagte begütigend: »Behalte nur den Muff, wenn er dir gefällt, aber vergiß nicht, du Kleine, daß es Teresinas Muff ist.«

Während Pave für die Geschenke an die Kinder dankte und Cotias tränennasses Gesicht trocknete, kam Santa hereingelaufen und wies Pave mit interessierten und aufgeregten Gebärden nach dem Fenster.

»Der Herr von der Eisenbahn, der uns in Adelsberg eingeholt hat! Wie der Teufel fährt er vorbei!« 144

Pave sah durch das vergitterte Fenster und konnte eben noch die Reisekutsche des Tenors erblicken, die eilig vorbeifuhr. Santa war sehr erheitert.

»Er glaubt, wir sind weit vorne. Wenn der wüßte, daß die Signora hier im Hause ist!« Sie kicherte und lachte und blickte dem Wagen angelegentlich nach.

»Der fremde Herr hat Eile, nach Triest zu kommen«, sagte Pave kühl, war aber selbst über diese Lösung der Angelegenheit nicht wenig befriedigt. Jetzt war nur zu hoffen, daß die beiden Kutschen einander nicht begegneten. Nach einigen Minuten erbat sie von Frau Kozian einen Boten, der in die Ortschaft laufen und Herrn Kusmar zur Eile antreiben sollte, denn der Nachmittag sank, und sie wünschte nicht zu spät in Triest einzutreffen.

Als man sich im Wagen zurechtsetzte, standen alle Einwohner des Gutshofes dabei, grüßten und winkten. Frau Kozian empfahl sich wortreich, reichte den Rest des Reinlings sauber verpackt beim Wagenfenster herein, und küßte zum Abschied jedes der Mädchen auf die Stirn. Pave dankte für alle Liebesbeweise und versprach, Nachricht zu senden. Cotia aber hielt ihre Hände fest in den Muff vergraben, der den nun wieder geschlossenen Wagen mit betäubendem Kampferduft erfüllte. 145

 


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