Paula von Preradović
Pave und Pero
Paula von Preradović

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Die Gatten

Florianigasse

Der Ostwind war aus den weiten freien Ebenen von Rußland und Ungarn gekommen, er hatte die Kleinen Karpaten überflogen, den Donaustrom überquert und in den schmutzigen Straßen der Wiener Leopoldstadt viel Staub und Unrat in die Höhe geblasen. Pfeifend kam er durch das Gäßchen, das »Stoß im Himmel« heißt, dahergesaust, fegte alle Winkel des Judenplatzes aus und fuhr auf dem Platz »Am Hof« den Verkäuferinnen, die mit dicken wollenen Strümpfen, breiten Umhangtüchern und wattierten Hauben ihr winterliches Gemüse feilboten, heulend unter die Plachen. Wer heute im Freien sitzen mußte, hatte vor allem acht, Ohren und Hände wohl zu verwahren, sonst froren sie unbarmherzig, obwohl der Oktober dieses Jahres 1854 noch nicht herum war. Dem Posten, der vor dem Hofkriegsgebäude auf und ab ging, sah man es an, wie kalt ihm war. Sein Gesicht war dunkelrot von der scharfen Luft.

Der Posten präsentierte, denn zwei Offiziere traten zwischen den Kanonen, die seit dem letzten italienischen Feldzug rechts und links vom Tor aufgestellt waren, auf die Straße hinaus. Der rechts ging, war ein Stabsoffizier. Über dem grauen Samt des geschlossenen Mantelkragens ragte die Goldlitze mit einem weißen Stern. Der Mann war mittelgroß und eher zart von Gestalt, sein Gesicht war adelig und fein. Ein schmaler Backenbartstreifen lief von den Schläfen bis zum Kinn, das in der Mitte durch ein Grübchen gespalten war. Den festen und doch träumerischen Mund überhing ein kleiner Schnurrbart, der kastanienbraun war und heller als der fast schwarze Backenbart und das Haupthaar. Über der Nase, die schmal und gerade ziemlich weit vorsprang, blickten braune Augen, die kühn gewesen wären, hätten die Lider sie nicht schon müde 48 überschrägt, Zwischen den schönen Brauen waren zwei kleine Längsfalten eingekerbt, während zwei Stirnquerfalten sich unter dem Kappenschirm verliefen.

Ernst und ohne alle Nachlässigkeit dankte der Major dem Posten für seinen Gruß, indem er die in einem weißen Lederhandschuh steckende Rechte ruhig und keineswegs flüchtig an den schwarzen Kappenschirm legte, während der neben ihm gehende Offizier, ein jüngerer Regimentsarzt, die Hand nur kurz emporschleuderte. Er war ein quecksilbrig lebhaft schreitender Mann mittlerer Statur, ein semmelblonder runder Löwenbart umstand sein jugendfrisches, beinahe kindliches Gesicht, aus dem braune Augen klug, lebhaft und mit so herzlicher Teilnahme blickten, als sei er der ganzen Welt aufs innigste zugetan. Während die beiden Offiziere ihren Weg an den Gemüseständen vorbei gegen den Heidenschuß zu nahmen, wandte der Major sich höflich an seinen Begleiter.

»Wie soll ich Ihnen dafür danken, Herr Regimentsarzt, daß Sie meine Bitte so schnell erfüllen. Ich fürchte nur, Ihre ganze Tageseinteilung wird dabei zuschanden.«

»Hol der Teufel die Tageseinteilung eines Junggesellen, Herr Major! Halten Sie es für ein solches Unglück, wenn ich heute etwas später zu meinem Gasthausfraß antrete? Ich würde Sie im Gegenteil bitten, mich schon jetzt ein wenig über das Leiden Ihrer Frau Gemahlin zu informieren.«

»Meine Frau wird mir großen Dank dafür wissen, daß ich ihr einen Arzt bringe, den sie kennt. Sie ist durch die vielen Übersiedlungen und die immer neue, immer fremde Umgebung schon ganz verschüchtert. Vor einem fremden Arzt würde sie kaum zu sprechen wagen. Sie, Herr Doktor, hat sie in Karansebes gekannt, dort ist sie gern gewesen. Vor Ihnen wird sie Mut haben, Sie sprechen ja auch italienisch.«

»Freilich, ich war als Oberarzt zwei Jahre in Mailand. Darf ich aber nun hören, was der Gnädigen fehlt?«

Der Major wandte sich ihm seufzend zu. »Die Sache 49 ist die, Herr Regimentsarzt, daß wir ein Söhnlein von zwei Monaten haben. Im letzten Stadium der Schwangerschaft mußte meine arme Frau die beschwerliche Reise von Karansebes nach Wien machen. Die Geburt war nicht leicht, und nun kann meine Frau sich nicht erholen. Sie hustete schon die ganze Zeit, und vor einer Stunde sandte sie mir durch die Magd einen Zettel, ich möge bald mit einem Arzt nach Hause kommen, sie fühle sich schlecht. Du lieber Gott, wenn es nur nichts Ernstes ist.«

»Die arme Gnädige, vielleicht verträgt sie das Klima nicht«, sagte der quecksilbrige Arzt und wandte sein Gesicht ängstlich dem Major zu. Er sagte den Menschen ungern Dinge, die ihnen unangenehm sein mußten, aber als Arzt war man leider oftmals dazu gezwungen. »Die Gnädige ist Dalmatinerin, wenn ich mich recht erinnere?«

»Ja, aus Zara«, sagte der Major, »nun, Sie werden sie ja gleich untersuchen und uns dann raten, was zu tun ist. Meine arme Frau hat schon viel durchgemacht, es gibt Naturen, die sich nicht verpflanzen lassen, nicht körperlich und nicht seelisch.«

Er hielt inne und blickte geradeaus. Sie überquerten die Freyung. Grau, breit und alt lag das Schottenkloster vor ihnen. Vom Kirchturm schlug es eben Zwölf und ein junger Mesner in schwarzem, halb geistlichem Kleid mühte sich ab, die schwere, eisenbeschlagene Kirchentüre zu schließen. Viel hätte der Major dafür gegeben, nun ein wenig schweigend dahinschreiten, eine kleine Stille einschieben zu dürfen zwischen die Vielfalt des Amtes und die Sorge, die ihn zu Hause erwartete.

Zu den Grundsätzen des blonden Doktors gehörte es jedoch, ein Gespräch nie und um keinen Preis einschlafen zu lassen. Da er vermutete, daß der Major das Gespräch über seine kranke Frau jetzt nicht fortzusetzen wünschte, schaute er angestrengt nach einem neuen Thema aus. Die Herren hatten das Schottentor durchschritten und befanden sich auf der Brücke, die aufs 50 Glacis hinausführte. Trotz des hier besonders scharf blasenden Windes holte der Regimentsarzt mit beiden Armen aus, deutete sowohl nach rechts hinunter gegen die Roßauer Lände, wie nach links gegen die Burgbastei und sagte mit zugleich wichtiger und doch nachlässiger Miene: »Das soll ja jetzt alles wegkommen, wie man hört. Basteien, Glacis, Graben, Brücken, alles weg, und statt dessen eine große, breite Straße. Man kann es sich kaum vorstellen.« Er blickte seinen Begleiter erwartungsvoll an.

Obwohl der Wind nun als ein richtiger Sturm wehte, ging der Major um so rascher, je näher er seinem Heim kam. Höflich meinte er: »Nun, warum nicht? Schöne Boulevards, wie in Paris, das wäre nicht übel.« Mehr sagte er leider nicht, der löwenbärtige Doktor aber stürzte sich alsogleich auf das Wort Paris. Mit etwas schief geneigtem Kopf fragte er: »Herr Major waren schon in Paris?«

»Ach nein. Wie käme ein armer Teufel von Offizier zu einer solchen Reise? Weder die Zeit noch das Geld habe ich jemals gehabt. Einmal, im Jahre zweiundvierzig, war ich vierzehn Tage zu meinem Vergnügen in Venedig. Das war das einzige, aber das war schön.«

»Da waren Herr Major wahrscheinlich auf der Hochzeitsreise?« fragte Doktor Krumbholz beflissen.

»O Gott, nein, damals war ich noch längst nicht verheiratet. Für wie alt halten Sie mich denn, Verehrtester?!« Er kniff scherzhaft den Arm seines Begleiters und fuhr dann freundlich und nachdenklich fort: »Nein, nein, damals waren keine Damen im Spiel, nur die Freunde, die Freunde! Schön war es damals.«

Der Doktor wußte durchaus nicht, was er hierauf antworten sollte, und entschloß sich endlich nur zu einem fragenden »Ah?« Er sah den rasch an seiner Seite Schreitenden vorsichtig an und plötzlich fielen ihm allerhand Gerüchte und Redereien über den Major ein, die er gehört hatte: daß er ein Dichter sei und in kroatischer Sprache eine ganze Menge geschrieben habe, 51 was auch gedruckt worden und dort unten in seiner slawischen Heimat sehr berühmt geworden war. Freilich konnte der Himmel allein wissen, was an alledem Wahres sein mochte; danach zu fragen, hielt der Regimentsarzt jedenfalls für unangebracht.

Das Glacis lag im Spätherbstmittag traurig da. Trotz des heftigen Windes, der schon die ganze Nacht andauerte, war der Himmel von Dunst und Nebel überzogen, und erst jetzt machte sich eine bleiche, milchige Sonne bemerkbar. Die entlaubten Bäume beugten sich unter den Windstößen, auf den Wegen trocknete das durch die schweren Regengüsse der letzten Tage aufgeweichte Erdreich grau und rissig ein. In einzelnen Pfützen, die stehen geblieben waren, schwammen die letzten gelben Blätter.

Arme Pave, dachte der Major. Das Wiener Herbstklima muß man gewöhnt sein und du bist nicht stark genug, dich an fremde Unbill zu gewöhnen!

Die Herren bewegten sich auf den schräg nach links führenden Querwegen der Josefstadt zu. Da sie in die Florianigasse eingebogen waren, sahen sie sich vor dem beißenden Ostwind einigermaßen geschützt. Der Major schritt rasch und unruhig die Häuser entlang. Beim Eckhaus zur zweiten Quergasse angekommen, öffnete er das Haustor mit Vorsicht, damit der Wind es ihm nicht aus der Hand reiße, ließ den Arzt höflich vorantreten und eilte, diesen nun rechts gehen lassend, mit ihm die rund gebaute Treppe hinan. Das Gebäude mochte zu Beginn des Jahrhunderts errichtet worden sein; obwohl das Stiegenhaus ganz schmucklos war, zeigte es die edlen und ruhigen Maße einer Epoche, die aus lebendigem Instinkt heraus zu bauen verstanden hatte.

Im zweiten Stockwerk angekommen, öffnete der Major mit dem Schlüssel rasch und nervös die Wohnungstür zur Rechten, nicht ohne gleichzeitig heftig an der Klingel zu reißen, was ein kleines und sehr junges Dienstmädchen veranlaßte, aus der der Eingangstür gegenüberliegenden Küche, daraus Qualm und Geprassel 52 drang, ins Vorzimmer zu stürzen, in das die Herren eben traten. »Netti, nimm dem Herrn Regimentsarzt den Mantel ab!« befahl der Major der erhitzten kleinen Magd, die ihren Herrn mit besorgten Augen anblickte.

»Wie geht es der gnädigen Frau?«

»Nur aufs Kanapee hat sie sich hingelegt. I mein, der Gnädigen is schon besser«, sagte das Mädchen mit teilnehmender Stimme.

»Gäb's Gott!« Der Major öffnete eine Zimmertür und ließ den Arzt eintreten. Das Speisezimmer, in das sie zunächst kamen, lag nach Südosten und hatte über Dächer hinweg einen weiten und freien Blick. Der Major sah mit großer Erleichterung, daß der Tisch für zwei Personen gedeckt war. Also hatte Pave vor, mit ihm zu essen. Dann war alles vielleicht doch nicht so arg! Die Herren durchschritten ein in derselben Front liegendes, als bescheidener Salon ausgestattetes Kabinett und kamen, ehe sie das nach Nordosten gelegene Schlafzimmer des Ehepaares erreichten, in einen fensterreichen Eckraum, in dem zwei kleine Mädchen mit Puppen spielten. Beim Anblick des Majors flogen sie mit Jubelgeschrei auf ihn zu. Er hob eins nach dem andern in die Höhe, wirbelte sie herum und stellte sie dann wieder sanft zu Boden, worauf die Kinder, von denen das größere gegen vier, das kleinere nicht viel über zwei Jahre alt zu sein schien, sich dem fremden Gast mit artigen Schrittchen näherten und ihm unbefohlen die Hand reichten. Doktor Krumbholz konstatierte mit Ergriffenheit, daß die beiden Töchterchen des Majors ausgesprochene kleine Schönheiten waren. Bei aller amorettenhaften Rundlichkeit bewegten sie sich mit ernster Anmut, und die Gesichter, die bei beiden braunes Lockenhaar umgab, waren nicht niedlich, sondern von einer steilen und makellosen Vollkommenheit, ohne deshalb doch der kindlichen Weichheit zu entbehren. Zumal das kleinere der Mädchen hatte etwas zugleich engelhaft Süßes und doch Schelmisches in seinem großen, braunen Blick, den es voll aufschlug, als es den Arzt 53 begrüßte. Doktor Krumbholz wollte dem Major etwas Anerkennendes über seine Töchterchen sagen, dieser war jedoch schon durch eine kleine Tapetentür in das Schlafzimmer vorangegangen, nachdem er den Kindern bedeutet hatte, ruhig weiterzuspielen.

Das Gemach, in das die Herren nun traten, enthielt außer den Ehebetten und einem verdeckten Kinderkorb nur zwei hohe Schränke, einen Nähtisch vor dem einzigen Fenster und eine schmale Chaiselongue, von der die Gattin des Majors sich blitzschnell erhob, als sie die Eintretenden gewahrte. Sie war eine schöne, zarte und zierliche Frau geworden. Das untadelige Oval des Gesichts war von dunkelbraunen, wohl eingedrehten Schmachtlocken umrahmt, die durch das Liegen auf dem Sofa nur wenig in Unordnung geraten waren. »Pero, danke, du kommst schnell«, begrüßte sie ihren Mann, während sie den Arzt mit der Leichtigkeit und Liebenswürdigkeit der Italienerin willkommen hieß. »Ah, ecco il dottore!« rief sie lebhaft und streckte ihm beide Hände entgegen, deren Rücken nicht schmal waren, deren Finger sich jedoch auf das adeligste verjüngten. »Ah, il dottore! Wie gut, wie freundlich, daß Sie gleich kommen!«

»Bist du sehr erschrocken über den Brief?« Sie wandte sich wieder an den Major und griff einen Augenblick lang nach seiner Hand. »Ich wollte mit den Mädchen spazierengehen, die armen Kinder kommen viel zu wenig an die Luft. Von hier oben merkte ich diesen abscheulichen Wind nicht. Aber kaum waren wir ein Stück gegen das Glacis zu gegangen, so wurde mir ganz richtig übel, und ich spürte ein starkes Stechen im Rücken.« Sie bezeichnete auf dem braunen Tuch ihres Winterkleides eine Stelle zwischen den Schulterblättern. »Es war mir auch so elend im Gemüte, noch mehr als sonst.« Der schönen jungen Frau traten Tränen in die Augen, und sie sah hilflos vom Arzt zu ihrem Mann.

»Nun, nun, Pave, nur nicht wieder so mutlos!« ermunterte sie der Major, sah dabei aber selbst ziemlich verzagt aus. 54

»Das Frettchen hat auch wieder grausam geschrien. Die Milch muß ihm zu wenig gewesen sein.« Als sie den erstaunten Blick des Arztes gewahrte, erklärte sie sachlich und ohne jede Heiterkeit: »Wir nennen unsern Sohn das Frettchen, weil er so furchtbar mager ist.«

Leise trat sie zu dem Kinderkörbchen, zog ein lose darübergebreitetes Tuch zur Seite und ließ den Arzt das Kind betrachten. Doktor Krumbholz erschrak und hatte Mühe, es zu verbergen. Dieser Säugling sah in der Tat sehr elend aus. Ein durchsichtiges, schmales, ganz kleines Gesichtchen lag im Kissen zwischen den bläulichen Fäusten, die nach rückwärts geworfen waren.

»Was wiegt der Kleine?« fragte der Regimentsarzt, und als er erfuhr, daß es mit sieben Wochen nur siebeneinhalb Pfund waren, überwand er sich und sagte: »Das ist wenig. Da muß etwas nicht in Ordnung sein.«

Der Major sah ihn angstvoll an. »Ist es also viel zu wenig? Ich fürchtete es. Siehst du, Pave, wir hätten eine Amme nehmen sollen.«

»Zu den ewigen Reisen und Übersiedlungen auch noch Ammen! Pero, Pero, und woher wolltest du es nehmen?« Die junge Frau lachte, aber es war deutlich, daß dies Lachen eigentlich ein Schluchzen war. Sie deckte die Wiege wieder zu und ließ sich plötzlich ermattet auf das Sofa sinken.

»Was sein muß, muß dennoch sein, trotz der fürstlichen Gage. Der Herr Doktor wird dich jetzt untersuchen, und nachher werden wir alles hören, was nötig sein sollte. Bitte, Herr Regimentsarzt, wollen Sie jetzt die Güte haben!«

Der Major entfernte sich durch die Tapetentür in das Zimmer, wo die kleinen Mädchen spielten. Miliza lief lachend auf ihn zu.

»Miu, weißt du, was Cotia immer sagt?«

»Nun, was sagt sie?«

Miliza bog sich vor Lachen, während sie es dem Vater erzählte.

»Sie redet immer vom Garten in Karansebes, und sie 55 sagt, daß ein Hahn gekommen ist und ihre Weintrauben und Ribisel weggegessen hat. Ein Hahn ißt doch keine Ribisel!«

Miliza mußte so sehr lachen, daß es sie im Kreis herumtrieb. Die kleine Cotia aber, der das Sprechen noch Schwierigkeiten machte, stand still an einen Schrank gelehnt da, sah den Vater groß und sanft an und sagte langsam:

»Der Miu weiß es. In Karansebes war ein Garten, da ist ein schlimmer, schlimmer, großer Hahn gekommen und hat mir meine Weintrauben weggefressen. Und die Ribisel auch. Der Miu weiß es.«

Der Major hob das Kind zu sich empor, ließ es auf seinem Arm sitzen und, indes eine Welle von Wärme und Süßigkeit sein Herz überströmte, drückte er den rundlichen Körper an sich und sprach leise in das von wirren Locken überhangene, heiße, kleine Ohr:

»Weiß es der Miu? Ist ein Hahn gekommen, und hat er der armen Cotia ihr schönes Obst weggefressen? Oh, du böser, böser Hahn! Wir wollen ihn fortjagen.«

Er stellte Cotia auf den Boden, klatschte in die Hände und gebärdete sich, als vertreibe er eine Schar von Hühnern. Dann verließ er die jubelnden Kinder und ging in den kleinen Salon hinüber.

Auf dem gebrechlichen Sofatisch lag seine Post für ihn bereit. Es waren zwei Briefe. Der Major nahm ein elfenbeinernes Papiermesser zur Hand und ließ sich auf dem bescheidenen Sofa nieder.

Wer schrieb ihm? Ah, Schulek aus Agram. und Valerio, Paves Bruder, aus Zara. Der Major öffnete den Brief des Schwagers zuerst. Er berichtete über das Gütchen Zemonigo bei Zara, das Pave mit in die Ehe gebracht hatte, und dessen Bewirtschaftung Valerio beaufsichtigte. Was schrieb der Gute, er, der Vermögen und Vorteil seiner vielen Geschwister getreulich wahrzunehmen pflegte? Ein ordentlicher Reingewinn von der Olivenernte, welche Erleichterung würde er darstellen, nun, da Pave krank war, und unabsehbare 56 Schwierigkeiten und Ausgaben drohten! Im Vorjahre war der Ertrag ansehnlich gewesen.

Der Major überflog den Brief, und sein Gesicht umwölkte sich. Die Ernte sei heuer schlecht, leider, schrieb der Schwager. Er könne ihm nicht mehr als 175 Gulden anweisen. Der Major seufzte. Er hatte auf mehr gerechnet. Im Vorjahr waren es im Herbst weit über 250 Gulden gewesen.

Statt endlich, endlich aus den Sorgen und Schulden herauszukommen, sank man immer tiefer hinein. Wie auf einem gebrechlichen Schiff trieb er mit den Seinen, mit diesen geliebten, hilflosen, in allem und jedem auf ihn angewiesenen Geschöpfen auf dem feindlichen Lebensstrom dahin, und alle Bemühungen, in ein stetigeres und sanfteres Fahrwasser zu gelangen, scheiterten immer aufs neue.

Oh, und nun diese Krankheit! So würde er Pave nichts von den neuen Schikanen erzählen, die der General, dieser widerwärtige Kommißknopf, sich heute geleistet hatte, nichts von dessen beleidigendem Mißtrauen und der unerträglichen, unverschämten Bevormundung, die wie ein Gebirge von Schmach auf der eingeborenen Freiheit seiner Dichterseele lastete. Er würde seinen Ingrimm in sich hineinfressen, er würde stillschweigen wie gewöhnlich. Es war nicht leicht; aber hatte dies schweigende Dulden nicht immer wieder wundervoll goldene Früchte getragen? Waren die bitteren Erfahrungen nicht in die entlegensten Tiefen seines Wesens hinabgesunken, hatten dort gewurzelt und waren nach einer gottgesetzten Weile, sehr bald oder nach Jahren erst, als traurig-stille oder als flammend-tanzende Lieder wieder ans Licht zurückgekehrt? Gab es eigentlich wirkliches Leid für ihn, wirkliches Unglück, da doch alles, was er in der rechten Weise aufnahm und in sich versenkte, auf so gnadenhafte Art verwandelt ward?

Aber durfte solches auch nur gedacht werden? Zog der lebendige, der beglückende, begeisternde Quell der Lieder, dessen er in unfaßbarer, nie zu verdienender 57 Weise gewürdigt war: zog er sich nicht zurück; versiegte er nicht, der goldene, ambraduftende Bronnen, wenn man seiner Natur nachsann, wenn man auch nur in leisen Gedanken an das Geheimnis seines Ursprunges rührte?

Der Major saß sinnend. Sein Gesicht nahm einen gespannten und doch gelösten Ausdruck an, seine Augen erdunkelten in vollkommener Sammlung, seine Lippen unter dem kleinen, hängenden Schnurrbart lagen fest, aber ohne allen Krampf aufeinander. Ein heißer Strom, der so selig machte, daß es tief schmerzte, stieg ihm vom Herzen ins Gehirn.

Als habe eine Hand sein Herz ergriffen und wild zusammengepreßt, so spürte er den seligen Vorgang der Geburt eines Gedichtes. Hastig riß er Valerios eben geöffneten Briefumschlag heran und begann darauf zu kritzeln.

Aber da krachte die Türe, die Dienstmagd kam herein und fragte, ob sie die Suppe nun anrichten dürfe.

»Noch nicht!« sagte der Major erwachend, und nun erst erinnerte er sich, daß Pave mit dem Arzt noch immer nicht wiedergekommen war. Er ging zur Tapetentür. Drinnen wurde leise geredet.

Wie lange Doktor Krumbholz zu der Untersuchung brauchte! Wollte der grundgütige Gott doch geben, daß Paves Krankheit nichts Ernstliches war!

An dem begonnenen Gedicht weiterzuarbeiten, daran war nun nicht mehr zu denken. Er steckte die Notizen in die Brieftasche und öffnete den zweiten Brief. Schulek, der Getreue, wünschte ihm Glück zur Geburt seines Sohnes.

»Lieber Bruder und Patriot«, schrieb er, so wie sie alle, die jungen Illyrier, es in den Tagen der Hoffnung und flammenden Begeisterung vor dem Jahr achtundvierzig getan hatten. Sie alle, so schrieb er weiter, die alten Freunde, grüßten den Dichter und seinen Genius, sie hofften, daß er an der Arbeit sei, und daß die Heimat bald wieder mit einem herrlichen, flammenden 58 Buche aus seiner Feder beschenkt werden würde. Und sie hofften auch, daß seine Größe, in seinem Sohne wiedergeboren, seinem Volke immerdar erhalten bleiben werde.

Der Major lächelte schmerzlich, da er an das armselige, magere Kind dachte. Ein wie weiter Weg würde es sein, bis der halb verhungerte Knabe, der heute mehr wie ein Todgeweihter als wie ein zum Leben Bestimmter aussah, imstande sein würde, Begeisterung zu fühlen, Ehre zu ernten, am erhabenen Tempel der Idee mitzubauen.

Ließ das Große und Leuchtende sich überhaupt vererben? Aus einem wie armen, schlichten und strengen Heim war er selbst gekommen! Sein frühverstorbener, soldatischer Vater und Pelagia, seine Mutter, des Theresienritters Schwester, hatten sie je anderes gedacht und getrachtet, als was ihnen durch die Umwelt der Militärgrenze, durch das patriarchalische, soldatisch-bäuerische Erbe unzähliger ebenso karg gewöhnter, bedingungslos heldischer Geschlechter überkommen war? In der Zadruga, der slawischen Hauskommunion, hatten die Sippen sich fortgepflanzt, seine Eltern noch waren in ihr geboren worden und darin aufgewachsen. In unabsehbarer Geschlechterfolge seit jenem ersten sagenhaften Ivan, Johann oder Juan, der im Dreißigjährigen Krieg sich den Adelsbrief erworben, in der Schlacht bei Breitenfeld aber sein Leben gelassen hatte, waren diese Vorfahren dem dunkel schützenden Nährboden der Zadruga niemals entwachsen. Reisige Männer, die auf allen Schlachtfeldern dem Kaiser gedient und für das Abendland geblutet hatten; mutige, schweigsame, namenlose Mütter, die in den endlosen Abwesenheiten der in den Krieg gezogenen Männer den Familien vorgestanden, die Kinder in Züchten auferzogen, die der Hausgemeinschaft gehörenden Felder bestellt hatten, ja, die, wenn die Not am höchsten gewesen, gar selbst mit Büchsen bewaffnet an die Granitz beordert worden waren und in Scharmützeln wider den türkischen Erbfeind kühn 59 und ohne Aufhebens ihren Mann gestellt hatten. Eine tapfere, arbeitsame, fromme Reihe waren diese Männer und Weiber gewesen, keines von ihnen hatte das Seine gesucht, sondern alle das schicksalhaft überkommene, allgemeine Beste, keines von ihnen war ein Einzelnes gewesen, sondern alle waren sie kräftige, entsagungsfähige, Gott und dem Kaiser ergebene Glieder einer mächtigen, das Reich festigenden Kette.

Aus dem Dunkel dieses uralten Schoßes aber war er gekommen, Pero, der Dichter. Ein Einzelner, ein Hellbeleuchteter, einer, der wußte, wollte und leidenschaftlich wünschte. Dem es gegeben war, auszusagen, was in aufgewühlter Zeitenwende die stumm und dumpf fühlenden Herzen verhalten mußten.

Und wen hatte er seinen Kindern zur Mutter gegeben? Eine herbe, tapfere Grenzertochter, allen Wettern gewachsen, aller Läufte gewärtig, liebevoll und warm, eine namenlose Mutter?

Nein, es hatte ihm gefallen, sich ebenfalls eine Einzelne zu gesellen, die schöne, adelige Pave, lateinischen Stammes, durch Kultur und Reichtum verfeinerten und ermüdeten Blutes, liebevoll und opferfreudig, aber zu gebrechlich, um der Liebe Last und Leid zu tragen, viel zu zart und versehrbar, um das wechselvolle Leben einer Soldatenfrau durchzustehen.

War es wahrscheinlich, daß aus dieser Verschmelzung abermals etwas Kraftvolles, Leuchtendes hervorgehen konnte, ein strahlender Sohn, Lichtträger, Mund der Stummen, Auge der Blinden? . . .

Was tat der Arzt so lange? Gab es da so viel zu untersuchen? Der Major tat ein paar unruhige Schritte in dem kleinen Raum, dann setzte er sich seufzend wieder auf das steife Sofa.

Noch nie hatte er mit solcher Bewußtheit die Grundzüge seines eigenen Wesens geschaut, noch nie so bildhaft die Zukunft aus der Vergangenheit sich aufbauen gesehen. Was immer das Leben dir bringen mag, Duschan, mein Sohn, dachte er – und er dachte es so inbrünstig, 60 daß sein Mund die Worte leise formte –, eines wünsche ich dir, eines: daß dir einmal in deinem Leben, das Gottes gnädige Hilfe dir erhalten möge, eine Zeit so glückseligen Rausches, so tatkräftigen Schaffens, von so dichter Freundschaft getragenen Selbstbewußtseins beschieden sein möge wie mir dereinst in Zara, da ich als vorgeschobener Posten das erste Bewußtwerden unsres Volkes verkünden durfte. Da ich die Blätter der »Dalmatinischen Morgenröte« herausgab, da die Lieder Tag und Nacht in meinem Herzen sich regten, und da Pave, deine Mutter, die heute krank in der Fremde leben muß, als ein unfaßbarer Traum von leichtbeschwingter Schönheit vor meiner lodernden Sehnsucht einhergegangen ist.

Plötzlich wurde der Major sich bewußt, daß er wie abwesend dasaß und vor sich hinsprach, er legte die Hand einen Augenblick lang auf die Augen, stand auf und gesellte sich wieder zu den Kindern.

Indessen hatte Doktor Krumbholz eine Reihe von Fragen an die Majorin gestellt; ob sie schon lang huste, ob sie in früheren Zeiten ebenfalls gehustet habe, ob sie häufig müde sei, sich fiebrig fühle, unter Nachtschweiß leide, und ob sie ihr Körpergewicht kontrolliert habe. Die junge Frau antwortete zögernd und nach längerem Nachdenken, denn sie hatte sich, wie sie meinte, nie beobachtet. Von ihrem Gewicht wisse sie nur, daß sie nicht fett zu werden wünsche, wozu allerdings keine Anlage vorhanden sei. Im Laufe ihres Lebens habe sie mitunter Husten gehabt, aber gäbe es einen Menschen, bei dem dies nie der Fall sei? Freilich, seit sie hier in diesem zugigen Wien wohne, huste sie stark und viel. Müde, ja, müde sei sie immer, aber dies gehöre wohl zum Schicksal der Frauen. Und Nachtschweiß? Nicht, daß sie wüßte. Oder doch; vielleicht dann und wann. Ob sie sich jetzt ausziehen solle?

»Ja, die Taille schon, wenn Gnädigste so freundlich sein wollen.« Die Schönheit und Trauer der Majorin verwirrten den quecksilbrigen Mann aufs seltsamste. Er wünschte brennend, keine ernste Krankheit bei ihr zu 61 finden und nicht durch eine böse Mitteilung das Kreuz dieser geprüften Eheleute noch zu erschweren.

Pave stand abgewandt neben der Wiege vor dem einen der großen Schränke und nestelte ihr Kleid auf. Schnell und schamhaft fuhr sie aus den Ärmeln und nahm die braune Taille wie ein Mäntelchen um die Schultern, um nicht entblößt dazustehen.

»Bitte«, sagte sie. Der Regimentsarzt näherte sich ihr, murmelte: »Gestatten, Gnädigste«, und legte sein Ohr auf die weiße Haut der Frau oberhalb der Brust. Er bat sie, erst leise, dann stark zu atmen und legte sein Ohr bald höher, bald tiefer an. Die Frau stand unbeweglich da, ihre Taille bei den Ärmeln haltend und blickte auf das semmelblonde Manneshaupt hernieder. Sie hatte acht, die Untersuchung durch keine Regung zu stören, und harrte ängstlich auf die Entscheidung des Arztes, dessen Löwenbart sie durch Leibchen und Hemd hindurch in Hals und Brust stach. Einen Augenblick lang aber kam es ihr höchst lächerlich vor, daß dieser runde blonde Schädel hier an ihr ruhte, und was sie dachte, war: »Es müßte fürchterlich sein, jemand anderen zum Manne zu haben als Pero!«

Doktor Krumbholz machte jetzt Anstalten, seine Horchtätigkeit auf Paves Rücken zu verlegen. Er bat bescheiden um Entfernung der lose hängenden Taille, die von Pave daraufhin fortgezogen und vor die Brust gehalten wurde, legte die flache linke Hand zwischen die Schulterblätter und klopfte mit der rechten darauf. Dann behorchte er sie wieder mit angepreßtem Ohr, horchte zuerst ganz hoch oben, am Nacken, wo schon die braunen Schmachtlocken hingen, dann weit draußen bei den Schultern, und endlich tief unten neben der Wirbelsäule. Wieder mußte Pave bald kräftig atmen, bald sich zum Husten zwingen und dann den Atem ganz anhalten. Endlich schien er fertig zu sein, richtete sich auf, fuhr sich mit dem Taschentuch übers Gesicht und sagte: »Danke.«

»Nun?« fragte die junge Frau, indem sie sich, abermals sittsam abgewandt, ankleidete. 62

»Ich gehe vielleicht zum Herrn Major hinüber, damit Gnädigste ungeniert Toilette machen können«, schlug Doktor Krumbholz vor.

»Aber was ist?« drängte Pave und sah den Arzt über die Schultern hin an.

»Wir besprechen alles zu dritt!« Doktor Krumbholz wich der Frage aus und entfloh sorgenvoll durch die Tapetentür.

Während die Majorin die Hafteln, Knöpfe und Schleifen ihres Winterkleides schloß, begann der arme Säugling im Korb dünn und kläglich zu wimmern. Sie war genötigt, ihn herauszunehmen und auf ihr Bett zu legen, wo sie ihn seiner beschmutzten Hüllen entledigte und frisch wickelte. Bekümmert betrachtete sie die elende kleine Gestalt und das magere, faltige Gesicht ihres Söhnleins. »Oh, du mein Frettchen, mein kleines Frettchen, was soll aus uns allen werden!« sprach sie leise und drückte ihr Gesicht in leidenschaftlicher Mütterlichkeit auf den armen Kinderkörper. Dann versuchte sie, den Knaben durch Schnalzen und Schnappen mit den Fingern zu erheitern, aber das bläuliche Gesichtchen verzog sich neuerdings zum Weinen. Da ging Pave zur Holztüre, die auf einen kleinen Gang führte, und rief hinaus: »Netti, mache schnell Kamillentee warm und bringe ihn! Aber schnell!« Dann nahm sie das Kind auf und trug es hin und her, es leise im Arm wiegend und mit ihrer wohllautenden, nicht ungeschulten Stimme tief und dunkel den Bruchteil einer Melodie summend, bis sie husten mußte und keuchend stehenblieb.

Der Spätherbstnachmittag stand grau vor dem Fenster, feindlich drohten die Dächer und Feuermauern der fremden Stadt. Aber als die kleine Magd gekommen und angewiesen worden war, dem Säugling den Kamillentee vorsichtig mit dem Löffel einzuflößen, begab sich die schöne Pave dennoch aufrecht, zart und zierlich in den kleinen Salon, um den Schicksalsspruch des semmelblonden Arztes zu vernehmen.

Dieser Schicksalsspruch jedoch, von Doktor Krumbholz 63 grauen Gesichts und stotternd vorgebracht, lautete: Fieber. Beginnende Lungensucht. Eine Amme. Ein anderes Klima.

*

Am nächsten Tag, genau zur gleichen Stunde, lag Pave in ihrem Bett. Durch das einzige Fenster kam helleres Licht als gestern. Eine ziemlich lebhafte Nachmittagssonne lag auf der Mauer des Nebenhauses und ließ einige Fenster fröhlich blitzen. In Paves Nordostzimmer freilich fiel zu dieser Stunde so wenig Sonne wie sonst. Pave lag still und friedlich in den Kissen. Sie trug ein Nachtkorsett aus weißem Batist, das mit Kragen und Manschetten von Schweizer Stickerei den Hals und die Handgelenke umschloß. Das Haar, das nun nicht in Locken frisiert, sondern in zwei Zöpfe geflochten und im Nacken aufgesteckt war, bedeckte ein Häubchen aus Spitzen. Auf dem an das ihre angeschobenen Bett des Majors lag zusammengefaltet die große, für das Doppelbett bestimmte gehäkelte Decke.

Der Kinderkorb mit dem schlafenden Säugling stand neben Paves Lager. Die Tapetentür war angelehnt, und man hörte gedämpft von nebenher die zwitschernden Stimmen der kleinen Mädchen.

Die junge Frau lauschte den lieblichen Lauten und ließ sich vom Frieden des Krankenzimmers tragen wie von einem sacht gleitenden Boot. Sie fühlte eine hingebende Mattigkeit und zugleich den sanft erregenden Rhythmus leichten Fiebers, und sie war weniger mutlos als am Tag vorher. Sie war nun in die Krankheit als in dasjenige eingegangen, was ihr im Augenblick zukam und womit sich abzufinden noch immer der beste Weg war. Die bleiche Verstörtheit, mit der der Regimentsarzt gestern sein Verdikt gefällt hatte, und ihre anfängliche Verzweiflung erschienen ihr heute in fast komischem Licht. Nun wohl, sie war krank, und sie hatte seit langem gefühlt, daß sie es war. Was weiter erforderlich sein würde, das mußte nun geschehen, und es schien fast, als entwirre 64 sich die Lage glimpflicher, als sie gefürchtet hatte. Doktor Krumbholz hatte von einer Amme gesprochen, einer Friaulerin, die Rittmeister Graf Strassoldo, ein Anverwandter des Feldmarschalls Radetzky, aus der Gegend von Udine, wo er begütert war, nach Wien hatte kommen lassen. Sein Söhnlein aber war vorgestern, erwürgt von der Nabelschnur, tot zur Welt gekommen, und die Amme wurde nicht gebraucht. Doktor Krumbholz hatte versprochen, sofort Erkundigungen einzuziehen. Nebst mehreren Kapazitäten der Wiener Kliniken war auch der Regimentsarzt zur Geburt zugezogen worden und hatte die traurige Affäre mitangesehen. Die Amme würde den Vorteil haben, daß sie als Italienerin Pave vertraut und verständlich wäre, daß die Reise nach Wien ihr vom Grafen Strassoldo bereits bezahlt worden war, und daß sie, wenn sie in einigen Wochen Pave und die Kinder nach Motta begleitete, in unmittelbarer Nähe ihrer Heimat sein würde.

Denn Pave sollte fort von Wien. Mit flehender Eindringlichkeit hatte Doktor Krumbholz dies verlangt. »Es gibt so viele Dalmatiner, die das Klima hier nicht vertragen, ich weiß es von den Soldaten. Die Gnädige muß nach dem Süden!« hatte er mehrmals gesagt und dem Major dabei ernst beschwörend ins Gesicht gesehen. Pero hatte sich seufzend, aber sofort bereit erklärt, dem Schwager Miho, der mit Paves Schwester verheiratet und im Venezianischen, in Motta di Livenza, als Arzt ansässig war, zu schreiben und ihn zu fragen, ob er seine Familie über den Winter bei sich aufnehmen könne. Pave wußte, daß der Brief bereits abgegangen war.

So würde sie also mit den Kindern bei Bepi wohnen und nicht mehr in dieser beängstigenden, bedrückenden, fremden Stadt. Ja, aber Pero?! Ihn mußte sie verlassen, ihn allein lassen, der in Wien ebenfalls fremd war, wenn auch in unmeßbarem Abstande weniger fremd als sie selbst. Denn wo wäre Pero wirklich fremd gewesen, er, der auf rätselvolle Weise in jeglichem Ding, an jeglichem Ort verwurzelt schien! Überdies konnte Pero ja versetzt 65 werden, es war durchaus nicht unwahrscheinlich, daß er nun bald wieder nach Italien geschickt werden würde, nach Verona oder nach Udine, dann würde sie mit den Kindern geschwind von Motta hinreisen, und aller Kummer, alle Trennung würden vergessen sein.

Pave lächelte beruhigt vor sich hin. Man mußte sich nicht allzuviele Sorgen machen, wirklich nicht allzuviele. Hatte es je etwas gefruchtet, wenn sie sich während der sieben schweren Jahre ihrer Ehe den armen Kopf zermartert, wenn sie im vorhinein gezittert, gebangt und sich geängstigt hatte? Alles war gekommen, wie es wollte und vielleicht mußte. Die Dinge waren gut oder schlimm abgelaufen – und zwar öfter schlimm als gut –, sie waren abgelaufen, wie die Schickung (oder vielleicht Gott?) es bestimmt hatte. Die große Reise von Ragusa nach Agram, die sie in schwangerem Zustande auf schaukelndem Schiffe und in rütterndem Wagen zurückgelegt hatte, war ebenso zu Ende gegangen, wie jene jüngst durchlittene Reise von Karansebes nach Wien. Trotz ihrer flehenden inneren Gebete: Nur nicht wieder fort, nur nicht wieder in die Fremde, nur ein wenig bleiben und Ruhe halten dürfen, hatte sie ihren gebrechlichen, schlichten Hausrat schon viermal unsicheren Transporten anvertrauen, mit kleinen hilflosen Kindern ungewisser Fremde entgegenfahren müssen, und viermal schon hatte sie sich in die ungewisse Fremde bange und in Schmerzen zwar, aber schließlich doch hineingefunden.

Und jenes andere Gebet, jenes brennendste: O Gott, erhalte mir die Liebe meines Pero! war es erhört worden? War es nicht überhaupt sinnlos gewesen, so zu beten? Je mehr sie sorgte und bangte, desto mutloser wurde sie, desto unfähiger, einem Manne wie Pero die Einzige zu bleiben. Ob sie zitterte oder nicht, Pero würde von klugen, schönen, glänzenden Frauen gefesselt werden, wie seine feurige Seele es brauchte, und wie die junge Wienerin mit der schönen Stimme in Agram ihn gefesselt hatte, sie, auf die er sogar Verse gedichtet hatte, wie Pave wohl wußte, viele Verse in deutscher Sprache. 66

Ljubomirs, ihres Erstgeborenen, Krankheit hatte bös und tödlich geendigt; was hatte ihr Bangen, ihr Zittern, ihr Wachen gefruchtet; ein kleines Grab auf dem Agramer Friedhof war ausgeschaufelt worden, um sich über dem zarten Rest seines Lebens, das nur nach Wochen gezählt hatte, zu schließen. Kleiner Ljubomir! Du Erster, du in Jubel Empfangener, du zitternd Erwarteter, bitter Beweinter! Oh, kleiner Ljubomir, der du als erster an meiner Brust getrunken hast, ist es faßbar, daß ich dein Gesicht nicht mehr in mir finde! Ist es erhört auf dieser Welt, daß eine Mutter das Gesicht ihres Kindes vergessen kann? Du hattest dunkle Haare, das weiß ich noch, mit dem Verstand weiß ich es, und deine Augen waren dunkel, aber dein kleines Gesicht, das mir so schön schien, der Inbegriff aller Gesichter, es ist fort, ganz fort. Wenn ich die Augen schließe und es beschwören will, dann erscheinen die Gesichter der Mädchen und Duschans schmales, elendes Gesicht. Das deine aber ist fort. Ich will mich zu dem Glauben zwingen, daß du bei Gott bist, denn sonst, Ljubomir, mein Erstgeborener, wäre dein Los allzu traurig, da selbst deine Mutter dich vergessen hat.

Pave schloß die Augen. Warum mußte sie jetzt an Ljubomir denken, da sie eben ein wenig ruhig gewesen war? Sollte ihr nie eine Stunde des Friedens gegönnt sein? Sie legte den Kopf mit bewußter Willensanstrengung seitlich tief ins Kissen und sagte innerlich: Ich mag nicht mehr! Ich kann nicht mehr! Ich bin jetzt krank! Ich muß, ich muß jetzt Ruhe haben!

In der stillen Sonne des Nachmittags, beim zarten Zwitschern der Kinderstimmen, verwirrten sich endlich ihre Gedanken, und sie schlief so tief ein, wie man nur zuweilen bei Tage schläft, wenn Licht auf die geschlossenen Lider fällt. Körper und Geist entwichen ihr in unmeßbaren Abgrund, sie war wie vermauert in Gebirge von Schlaf, der anfangs nichts war, als ein dunkles, traumloses Rauschen. Allmählich aber verwandelten sich Schwärze und Schwere in leichte Helligkeit. Pave spazierte in einem schönen Kleid ihrer Mädchenzeit über die 67 Calle Larga in Zara. Sie spazierte beschwingt und freundlich, und viele Bekannte kamen ihr entgegen. Hinter ihr aber, in gemessenem Abstand, doch so nahe, daß das Geräusch der Schritte ihr Ohr erreichte, gingen drei junge Offiziere ihr nach. Der eine davon war Pero, jedoch ein Pero, den sie erst vom Sehen kannte. Der zweite war Doktor Krumbholz, der die Leutnantsuniform des Zaratiner Infanterieregimentes trug, und der dritte, ebenfalls in Leutnantsuniform, großgewachsen und blaß, war eigentlich ein Vogel, das heißt, er war sowohl ein Leutnant als auch ein Vogel, und zwar beides völlig, und Pave wußte, daß er »der Pelikan« hieß und war. Sie war etwas indigniert, aber doch auch erfreut über die drei hartnäckigen Verfolger, bis sie den Pelikan sagen hörte: »Wie schnell das Fräulein Pave geht! Wir werden sie aber doch bald eingeholt haben.« Da erfaßte sie Angst, sie begann zu laufen, und als die Straße plötzlich in unabsehbar tiefe Treppen mündete, entschloß sie sich sogleich, die unzähligen Stufen hinabzufliegen.

Mit jähem Ruck erwachte sie. Süßer Schmerz saß ihr im Herzen ob der entrückten und versunkenen Welt, in der sie soeben geweilt hatte, und mit Entsetzen bemerkte sie, daß im nun sonnenlosen und dämmerigen Zimmer unfern der kleinen Tür zum Küchenkorridor eine schwarze Gestalt stand, durch deren Eintreten sie wahrscheinlich geweckt worden war. Pave starrte die undeutliche Erscheinung mit verstörten Augen an, ihr Herz schlug heftig, und sie ächzte heiser und verschlafen: »Wer ist da?« Eine tiefe Stimme antwortete: »Ich bin es, die Amme!«

*

Es erwies sich, daß die Amme, die Santa Vianello hieß und eine Frau von einunddreißig Jahren war, dem Schicksal, welches sie aus dem Hause des Grafen Strassoldo in die kleine Vorstadtwohnung des Majors verschlagen hatte, zum äußersten grollte. Mißbilligenden Blickes durchschritt sie die Zimmer, sichtlich die 68 Bescheidenheit aller Einrichtungen mit der Pracht und den Annehmlichkeiten der gräflichen Haushaltung vergleichend, deren zeitweiliger Genuß ihr von den Schicksalsmächten zugebilligt gewesen und hierauf mit großer Tücke wieder entwendet worden war. In den ersten Tagen pflegte sie häufig, zum Beispiel auch dann, wenn sie, auf niederem Schemel sitzend, den kleinen Duschan stillte, in vorwurfsvoller Bitterkeit den Kopf zu schütteln und zu wiegen, dabei vor sich hin sprechend: »Che disastro, che disastro!« Wobei es dahingestellt blieb, ob sie mit dem beklagten Unglück in erster Linie die Totgeburt des Strassoldoschen Knaben oder ihre eigene Verpflanzung zu den Majorischen meinte. Sehr wahrscheinlich war es auch, daß sie durch ihr mürrisch-bitteres Verhalten ihre neuen Dienstgeber zu den äußersten Anstrengungen, sie zufriedenzustellen, anspornen wollte, damit nicht die Qualität ihrer Milch unter ihrer gedrückten Gemütslage leide und der kleine Duschan somit zu Schaden käme; eine Ammenschlauheit, der man sich allenthalben wird beugen müssen, wo man genötigt ist, bezahlte Frauen zum Nähren der Kinder aufzunehmen.

Übrigens faßte Santa bald eine zähe Zärtlichkeit zu dem ihr anvertrauten Säugling, und ihr Ehrgeiz, ihn gedeihen zu sehen, wurde von Tag zu Tag heller angefacht. Für den Major empfand sie eine Art von zuwartender Achtung. Wenn auch kein Graf, kein Verwandter des Marschalls, kein Herr von friaulischen Gütern, so war er doch immerhin ein Offizier und schien in der Welt etwas vorzustellen. Der kranken jungen Frau jedoch, die nicht imstande gewesen war, ihren Sohn zu nähren, während man sie, Santa Vianello, wegen ihrer berühmten Milch von ihrem eigenen Kind fort in die weite Welt geholt hatte, galt ihre Mißachtung, und die beiden Mädchen fand sie vollends überflüssig. Sie war stets darauf bedacht, die Rechte des kleinen Duschan, was Ruhe und Alleinherrschaft betraf, gegen seine holdblickenden, eifrig trippelnden Schwestern zu vertreten, und erst nach einer langen Reihe von Tagen begann sie, 69 besiegt durch die immer gleiche reizende Zutunlichkeit von Miliza und Cotia, eine freundlichere Haltung gegen die Töchter des Hauses einzunehmen.

Etwa zehn Tage nach der Absendung des Briefes an Paves Schwager Miho traf eines Morgens dessen Antwort ein. Sie lautete zustimmend. Die Wohnung sei geräumig genug, und er wie seine Gattin und sein Söhnlein sähen der Ankunft Paves und der Kinder mit großer Freude entgegen.

*

Im ehelichen Schlafzimmer standen die Koffer geöffnet nebeneinander. Pave in ihrem alten braunen Winterkleid ging hin und her, holte Wäsche und Kleider aus den Schränken und begann sie in den tiefen Grund der Koffer zu schichten. Nur ungern hatte der sie treulich immer wieder besuchende Doktor Krumbholz ihr das Aufstehen gestattet, aber er mußte selbst zugeben, daß sie nicht reisen konnte, ohne gepackt zu haben.

So standen da also wieder die Koffer, diese Ungeheuer, die sie als Zeugen und Zeichen ihres unruhigen, gehetzten Lebens haßte. So packte sie also wieder und würde bald reisen, reisen ohne Pero. Wann hatte man daheim Koffer gepackt? Wann war man gereist? So gut wie nie, außer zu Beginn des Sommers hinüber nach Lukoran, um lange Monde dort in der Inselbläue unter Oliven- und Korkeichenbäumen, oder im festen, kühlen, steingebauten Haus friedlich und still zu leben. Ach, nur einmal mit Pero und den Kindern einen solchen Sommer in Lukoran verbringen dürfen, einen langen, faulen Sommer, wo ein kobaltener Tag dem andern folgte, wo man Fische, Oliven und Weintrauben aß, in der Bucht badete und mit der Barke ins Abendrot hineinfuhr! Nie würden sie Urlaub erhalten, Krieg würde wieder kommen, und wo würde man sie nicht noch hinschicken!

Hätten sie nicht in Karansebes bleiben können? Dort war wohl kein Meer gewesen, keine Insel, Fremde war gewesen, aber eine friedliche Fremde, an die man sich 70 gewöhnt hatte. Ein Garten war gewesen, Sonnenblumen, Ribiselstauden und gute, befreundete Menschen. Dort hatte die süße Cotia, ihr und Peros Augentrost, umgeben von Blumen und Bäumen, ein seliges Kinderjahr verleben dürfen.

Wie kurz war es her, daß diese häßlichen großen Koffer in Karansebes auf dem Fußboden gestanden waren, daß sie hin und her gegangen war und ihre Besitztümer aus den Schränken geräumt hatte? Damals hatte Piroska, das freundliche, flinke ungarische Dienstmädchen, das sie leider nicht hatte nach Wien mitnehmen können, auf ihr Geheiß die Leintücher und Polsterbezüge, die Kinderschühlein und Kleidchen und alles, was es da gab, in den Koffer gelegt, denn Pave war hoch in der Hoffnung gewesen, und jede Frau weiß, daß tiefes Hineinbücken in einen Koffer der Tod des Kindes sein kann.

Nun war sie nicht mehr guter Hoffnung. Nein, ihr Sohn lag nebenan, er war geboren, er lebte, Gott sei Dank, die Milch der Amme schien ihm zu bekommen. Sie trug nicht mehr die mütterliche Last, sie war schlank wie in ihren Mädchentagen. Eher zu weit waren ihr die Kleider. Guter Hoffnung! Sie erschrak. Sie war ohne alle Hoffnung, das war es.

Von draußen kam Netti, rot vom Kochen. Sie brachte eine Visitenkarte und suchte Pave begreiflich zu machen, daß eine Dame zu Besuch gekommen sei. Paves erste Regung war, die Dame abzuweisen. Wie sollte sie jetzt einen Besuch empfangen? Sie trug ihr altes Hauskleid. Sie mußte packen. Und es ging auf Mittag zu. Aber dann warf sie einen Blick auf die Karte. Dort stand: La comtesse Louis Strassoldo, née comtesse Alexa Ujhazy.

War es die Gräfin Strassoldo, deren kleiner Knabe gestorben war? Sie bemühte sich, Netti anzuweisen, daß sie die Dame in den Salon zu führen und zum Niedersitzen aufzufordern habe; dann nahm sie mit fliegender Hand das grüne Kaschmirkleid aus dem Schrank und streifte es über. Dieses Kleid, seit zwei Jahren ihr bestes, liebte sie, und sie wollte es ungern durch ein neues verdrängt 71 sehen. In den tiefen herzförmigen Ausschnitt fügte sich eine Chemisette aus weißen Spitzen, die langen Ärmel schlossen sich eng um die zarten, runden Arme, die Taille lag vorne in einer langen, spitzen Schneppe knapp auf den Falten des weiten Rockes. Das warme, dunkle Grün schmeichelte ihrer Haut, selten hatte etwas sie so vorteilhaft gekleidet. Pave war nicht eitel. Ach, viel zu wenig war sie es. Was hätte sie nicht aus sich machen können, wenn sie alles angewendet hätte, wozu andre Frauen zur Hebung ihrer Schönheit ihre Zuflucht nehmen! Aber zu ihren Kleidern faßte sie mitunter eine Art zärtlicher Liebe, weil sie ein Teil ihres Selbst, weil sie Hülle und Zeugnis ihres Lebens waren. An manche ihrer Mädchenkleider dachte sie wie an verstorbene Freundinnen, sie sehnte sich nach den vergessenen Mustern, nach den vergangenen Falten und Rüschen, sie glaubte noch den Frühlingstag zu spüren, da sie das Drapfarbene oder das Blaue zum erstenmal getragen hatte.

Sie sah in den Spiegel und war erfreut. Jung und schön war sie freilich noch immer, und man sah ihr die Krankheit nicht an. Würde die vornehme, fremde Dame einen günstigen Eindruck von ihr empfangen? Warum kam sie? Was wollte sie? Ach, und in welcher fremden Sprache würde Pave nun wieder gezwungen sein zu radebrechen?

Als sie jedoch rasch das Kinderzimmer durchschreiten wollte, bot sich ihr ein unerwarteter Anblick. Eine elegante junge Frau saß so vertraut auf einem der niederen Kinderstühle, als wäre sie immer dagewesen, sie hielt die Puppen der kleinen Mädchen im Schoß und betrachtete sie sachkundig, während Miliza und Cotia sie erfreut umtanzten, und die Amme, die soeben wieder auf ihrem Schemel hockend den kleinen Duschan zu nähren begann, mit angeregtem Eifer und glücklich gerötetem Gesicht auf die Fremde einsprach. Als Pave durch die Tür trat, erhob sich die Dame, die schwarz gekleidet war, und kam ihr rasch entgegen.

»Ich störe Sie zu einer unpassenden Stunde«, sagte sie mit angenehm tiefer, humorvoller Stimme auf italienisch. 72 »Unser Verwalter aus Friaul ist heute früh angekommen und hat der Amme einen Brief von ihrem Mann mitgebracht, den wollte ich der Frau gleich geben.« Pave sah freundlich nach Santa hin, die ihr regelmäßiges italienisches Gesicht mit den geschwungenen Augenbrauen und der schmalen, langrückigen Nase jetzt auf das säugende Kind herabgesenkt hielt, wobei das ganz glatt gescheitelte schwarze Haar das helle Mittagslicht widerspiegelte. Es war Pave bisher noch kaum aufgefallen, daß die Amme eigentlich eine schöne Frau war; vielleicht auch wurde sie eben jetzt durch die Freude über Besuch und Brief verschönt; denn es schien, daß sie den Besuch der Gräfin in erster Linie auf ihre eigene Rechnung buchte.

Pave reichte der fremden Dame die Hand, und in der Freude über das fließende Italienisch, in dem diese gesprochen hatte, verflog ihre eigene, sonst fast unüberwindliche Schüchternheit, und sie fand sofort die richtigen Worte, um sich nach dem Befinden der Contessa zu erkundigen und ihre Teilnahme an deren traurigem Erlebnis auszudrücken. Die Gräfin sah nicht eigentlich leidend aus. Vielleicht auch ließ der stark rosige Teint der Blonden Blässe schwer aufkommen, die grauen Augen jedenfalls, die ein wenig schief saßen, blickten frisch, und in dem Gesicht lag nichts von Müdigkeit oder Trauer. Es war breit in den Backenknochen, die Nase jedoch sehr fein und schmal, der Mund, voll in der Mitte, verjüngte sich ganz zart in den Winkeln. Die Frau war jung, trotzdem machte ihre rosige Haut auf Pave einen gleichsam zerknitterten Eindruck, ohne daß sie hätte sagen können, warum ihr dies so erschien. Unter dem kleinen, tief in die Stirn gerückten Hut, der die Form eines zierlichen Schiffchens hatte, kam schönes, hochblondes Haar hervor. Die ganze Erscheinung war zart, pikant und eigenwillig, das schwarze taftene Kleid einfach, aber, wie Pave mit Anerkennung und doch auch mit etwas wie feindseliger Scheu feststellte, nach der allerletzten Mode. Die Taille lag eng an, die Ärmel erweiterten sich jedoch bei den 73 Handgelenken zu bauschigen, mit Samtarabesken benähten Säcken. Ähnliche Samtzierate zeigte der Saum der außerordentlich weiten Krinoline.

Sie trägt einen ganz großen Reifrock, und die Ärmel sind weit, dachte Pave mit Besorgnis. Ich habe keinen Stoff mehr. Wie wird es möglich sein, das Grüne zu ändern? Sie streifte ihren eigenen, zwar bauschigen und in schönen Falten fallenden, aber für die heutige Mode nun also doch viel zu engen Rock mit einem trüben Blick.

»Danke, ich bin wieder ganz gesund!« erwiderte die Gräfin auf Paves Frage. »Aber der arme Kleine! Er war ein so hübsches, starkes Kind! Man muß das Schicksal hinnehmen. Die Professoren haben gesagt, daß niemand eine Schuld trifft, weder meine Konstitution noch die Hebamme, noch sonst jemand. Es ist ein Verhängnis, das man tragen muß!«

Sie seufzte ein wenig, blickte Pave aber ruhig an. Diese war voll Bewunderung für den starken Geist der zarten Frau. Ein Kind tot zur Welt bringen! Sie hätte dem armen Wesen gewiß monatelang nachgeweint. Dabei schien die Fremde keineswegs kaltherzig, sie machte im Gegenteil einen mütterlichen und liebreichen Eindruck.

»Darf ich Sie nicht bitten, nebenan im Salon ein wenig Platz zu nehmen«, lud Pave nun ein, und die Gräfin Strassoldo antwortete lebhaft und schnell, wie es ihre Art zu sprechen war: »Nachher sehr gern. Ich möchte nur der Amme den Brief vorlesen. Ich habe es ihr versprochen. Wo haben wir den Brief, Santa?« wandte sie sich an die Stillende, und diese holte aus der Tasche ihres schwarzen Rockes ein zusammengefaltetes und gesiegeltes, steifes Briefblatt hervor, das sie der Gräfin reichte.

Diese nahm ihren früheren Platz wieder ein, auch Pave ließ sich nieder, und die zwei kleinen Mädchen lehnten sich an die Mutter.

Der Brief war nicht lang. Die Gräfin las etwas stolpernd, wohl wegen der undeutlichen Schrift, aber scharf artikuliert die Botschaft des Landmannes Francesco Vianello in Rizzi bei Udine an seine Ehefrau Santa in Wien. 74

»Liebe Frau!

Der Herr Verwalter Cozzio reist nach Wien zu den Herrschaften, und ich darf ihm einen Brief mitgeben. Der Herr Pfarrer ist so gut und schreibt ihn auf.

Liebe Frau, wir beide, Giovanni und ich, wie auch die Kleine, sind gesund. Alles geht gut. Die Frau des Lorenzo Fanganell kommt jeden Tag und gibt der Kleinen zu trinken, wie Du es mit ihr ausgemacht hast, und dafür helfe ich ihrem Mann, wenn er es nötig hat. Die Kleine ist dick und rund. Aber es ist uns langweilig ohne Dich. Wann kommst Du zurück? Kannst Du uns einmal einen Brief schicken? Wie fühlst Du Dich in Wien bei den gnädigen Herrschaften? Liebe Frau, Du wirst Dich wundern, wenn Du hören wirst, was für ein Glück dieser junge Filippo Petinelli gemacht hat. Du weißt, daß sie bei ihm zu Hause gar nichts haben und daß so viele Kinder sind. Er hat bei den Vincenti als Knecht gedient seit der Weizenernte. Nun heiratet er die Tochter, die die einzige ist, und er wird Herr sein dort bei denen, wenn die Eltern nicht mehr da sein werden.

Bei Deiner Schwester sind sie auch gesund. Der Beppino ministriert jetzt, er kann es schon gut.

Liebe Frau, viele Küsse vom Giovanni und von

Deinem Mann.

Der Giovanni fragt jeden Morgen, wenn er aufwacht: Ist die Mamma zurückgekommen?«

Der kleine Duschan war gesättigt. Er ließ die Brust der Amme los und blickte befriedigt umher. Sein Gesichtchen war tatsächlich schon weniger blau und mager.

Santa Vianello blieb, das Kind auf dem Schoß, auf dem Schemel sitzen, und in ihren Zügen spiegelten sich alle Abstufungen von freudiger Erregung. Nachdem sie eine Weile stumm vor sich hingestrahlt hatte, begann sie ihrem Glück in Ausrufen Luft zu machen. »Ah, guter Gott! Sie sind gesund! Und die Kleine dick und rund! 75 Ah, Signor Dio! Grazie, grazie! Und der Giovanni, der jeden Morgen fragt, ob die Mamma zurückgekommen ist! Arme Seele, wird noch lang fragen müssen.« Der glückliche Wechsel im Leben des Filippo Petinelli überwältigte sie vollends. Sie schüttelte den Kopf vor Staunen und wandte sich erregt an die Gräfin mit der Frage, ob sie die Besitzung vom Vincenti kenne. Gräfin Strassoldo kannte sie nicht. »Schade«, rief die Amme aus, »ein schönes, großes Haus, und Felder! Felder, so weit man sieht. Schönes Vieh und viele Knechte. Und die Petinelli! Eine Armut, nichts als Polenta zu essen, nie etwas anderes am Morgen, zu Mittag und auch nicht abends. Und jetzt heiratet der Filippo die Vincentitochter! Ein Glück hat der!« Sie wiegte wieder den Kopf und stieß dabei mit der Zunge so heftig an den Vorderkiefer, daß es wie ein lautes Ts-Ts-Ts klang.

Pave stand auf und stellte Santa in Aussicht, daß der Herr Major auf ihr Diktat einen Brief an ihren Mann nach Rizzi schreiben werde. Santa schien an diese Möglichkeit noch nicht gedacht zu haben, nun war sie Feuer und Flamme und erkundigte sich bei der Gräfin, wann der Verwalter zurückreise. Pave jedoch meinte, man werde die Güte der Frau Gräfin nicht in Anspruch nehmen müssen, da jeder Mensch mit der kaiserlichen Post Briefe schicken könne, eine Mitteilung, die bei Santa wieder erstauntes Kopfwiegen und lautes Ts-Ts-Ts zeitigte.

Nun lud Pave die Gräfin eindringlich ein, doch aus der Kinderstube fort und mit ihr in den »Salon« zu kommen. Sie hielt dies wohl auch für ein Gebot der Schicklichkeit, hauptsächlich aber fühlte sie den dringenden Wunsch, sich mit der warmherzigen, lebhaften Frau, für die sie augenblicklich starke Sympathie gefühlt hatte, allein unterhalten zu können. Obwohl die Gräfin in keiner Weise weich oder gar sentimental schien, hatte sich Pave von ihr sogleich in lang nicht mehr empfundener Weise heimisch angeregt gefühlt. Man hatte bei ihr den Eindruck, daß sie Menschen und Dinge sofort 76 richtig und mit Wohlwollen zu durchschauen vermochte, daß alles Menschliche bei ihr wohlgeborgen war und daß Rat oder Hilfe, die im Bereich ihres Vermögens lagen, von ihr jederzeit ohne alles Pathos in vollstem Ausmaße gegeben werden würden.

Mit einer Freude, der sie lange entwöhnt gewesen, ließ Pave sich mit der Gräfin Strassoldo auf dem schmalen Sofa nieder. Während Tisch und Kredenz und die rohrgeflochtenen Stühle des Speisezimmers, der kürzlich aufgekommenen Mode folgend, breitgeschwungen, an den Ecken gerundet und mit gedrechselten Ornamenten geziert waren, war Paves kleiner, schmuckloser Salon noch ganz in dem Stil gehalten, der in den letzten Jahrzehnten der herrschende gewesen war. Die etwas steifen, schlichten und nicht sehr bequemen Möbel ruhten sämtlich auf geraden, dünnen, sich nach unten zuspitzenden Beinen; den Stoff der Überzüge, der aus starkem jägergrünem Wollrips bestand, hätte ein im Neumodischen bewanderter Tapezierer wohl voll Geringschätzung zu den Toten geworfen. Eine kleine, auf einer Kommode stehende Vitrine enthielt einen Fächer und ein paar Tassen und Figürchen. Pave hätte sie gern schnell verhängt, um sie vor der Gräfin zu verbergen. Wie ärmlich mußten diese geringen Sächelchen ihr erscheinen! Sie sah ganz so aus, als habe sie bei sich zu Hause in riesigen Glasschränken die herrlichsten Kostbarkeiten stehen. Ja, hätte Pave von daheim mitgenommen, was ihr als Eigentum und Erbe zukam, so hätte sie mehr als eine Vitrine mit erlesenen und merkwürdigen Dingen füllen können; ihr Wanderleben als Offiziersfrau voraussehend, hatte sie jedoch darauf verzichtet, die unersetzlichen Familienstücke mitzuführen und dem Zerbrechen und Verderben auszusetzen. Nachgerade war sie es gewöhnt, ganz arm und wurzellos zu scheinen, nichts zu sein als die Majorin, Peros Frau; eine Würde, die ihr seinerzeit, als Braut, allen weltlichen Rang, allen ererbten Besitz, alle adelige Verwurzelung aufzuwiegen schien. Noch immer wußte sie, daß Peros Frau zu sein etwas Hohes 77 und Unverdientes, ja in seiner vollen Bedeutung noch kaum Erfaßtes war. Doch war es bitter, immer unerkannt zu sein und außer Pero selbst nahezu nie jemand zu treffen, der wußte, wer sie eigentlich war.

Dieser Frau hier hätte sie es gern begreiflich gemacht, aber es war unmöglich. Sie konnte ihr doch nicht unversehens von dem einstigen großen Reichtum ihrer Familie berichten (der jetzt allerdings durchaus nicht so gewaltig war wie in vergangenen Tagen), von den Gutsherrschaften, den Wein- und Ölpflanzungen in Nona und Zaravecchia; von den Diplomaten und Admiralen ihres Blutes, die im Dienst der Republik Venedig kühne und verdienstvolle Taten vollbracht hatten, oder von den frommen und ehrwürdigen Bischöfen, die im Lauf der Jahrhunderte ihrem Haus entsprossen waren. Oder sollte sie ihr etwa mit der Mitteilung kommen, daß jener Graf Mastaï-Feretti, der seit sechs Jahren als Pius IX. auf Petri Stuhle saß, ihr Vetter war?

Die Gräfin sah sich ohne unhöfliche Neugierde, aber doch aufmerksam in dem kleinen Raum um, und ihr Blick fiel sofort auf eine schwere eichene Truhe mit einfacher Intarsiaarbeit und altertümlichem Schloß, die, auf kugelrunden Füßen von ziemlichem Durchmesser ruhend, neben dem einzigen Fenster stand.

»Eine schöne Truhe haben Sie da«, sagte sie sachlich. »Ich mag Truhen so gern. Diese hier muß ziemlich alt sein.«

»Ich glaube, mein Großvater hat sie angeschafft, noch lange vor den Franzosenkriegen. Sie ist immer mit mir gewandert und hat davon auch genug Schaden gelitten.«

Die Gräfin wollte wissen, ob Pave schon oft übersiedeln mußte, und Pave, an ihrer wehesten Stelle getroffen, erzählte von den vielen langen Reisen und sagte klagend, daß eine Offiziersfrau nie zur Ruhe komme.

»Da haben Sie recht!« rief die lebhafte blonde Frau aus. »Auf Dauer werden wir uns erst in unseren Särgen einrichten können. Mit dem Wechsel müssen wir rechnen, wir dürfen uns nie einbilden, irgendwo bleiben 78 zu können, sonst bedeutet jede Versetzung Kummer und Schrecken.«

»Das tut sie doch auch!« gab Pave zu. »Mir wenigstens.«

»Darf sie aber nicht!« Die Gräfin sah Pave mit lachendem Mund, aber ernsten Augen an. Diese schöne junge Frau da, die so distinguiert und angenehm wirkte und so reizende kleine Töchter hatte, schien nicht zu wissen, wie man das Leben packen mußte.

»Traurig dürfen wir überhaupt nie sein, das schadet der Schönheit und macht uns unsere Männer abwendig. Die Männer wollen, daß wir heiter sind. Zum Traurigsein haben sie uns nicht geheiratet.«

»Ja, aber wenn die Dinge traurig sind, die wir erleben?« fragte Pave, die sich nicht wenig wunderte, und dachte dabei, der Graf Strassoldo müsse wohl ein ganz anderer Mensch sein als Pero, doch alsbald fiel ihr ein, daß Pero damals in Agram vielleicht nicht so oft und gern zu dieser schönen und lustigen Lina Schauff gegangen wäre, hätte sie selbst nicht so andauernd um Ljubomir geweint.

»Was wir erleben, das müssen wir überwinden. Glauben Sie vielleicht, ich war nicht traurig, als mein süßer, kleiner Sohn, auf den ich mich so sehr gefreut hatte, nicht leben durfte? Als das lange Tragen und Warten umsonst gewesen war? Aber wem hätte es genützt, wenn ich geweint hätte?« Das Gesicht der Gräfin war jetzt vollkommen ernst. Sie saß einen Augenblick lang ganz still und blickte ins Leere.

Pave sah es mit Teilnahme; sie wollte schweigen, dann aber lockte es sie allzu stark, das Gespräch, das sie bis in ihr tiefstes Herz traf und aufrührte, fortzusetzen.

»Ob das Weinen jemandem nützt oder nicht, was hilft es, daran zu denken, wenn man eben weinen muß?«

»Das ist es ja: man muß nicht, Man darf toben, wenn etwas Schreckliches geschehen ist, aber man muß damit fertig werden. Wir Frauen sind das Herz des Hauses. 79 In einen Mantel von Traurigkeit dürfen wir uns nicht einhüllen. Alles um uns her würde krank davon.« Die Gräfin lächelte wieder und sah Pave an:

»Wenn ich übrigens so schön wäre wie Sie, würde ich den ganzen Tag vor Freude tanzen und singen.«

Pave verspürte einen kleinen Stich. Dieser Hinweis auf ihre Schönheit in Verbindung mit den großen, traurigen Dingen des Lebens verletzte etwas Zartes und Empfindliches in ihr. Das tat aber der so schnell geborenen bewundernden Sympathie für die lebenstüchtige Frau dennoch keinen Abbruch. Sie zog auf die Bemerkung der Gräfin hin nur die Augenbrauen in die Höhe, lüpfte ein wenig die Schultern und sagte lächelnd und gedehnt: »Schön!? Was ist schön? Wer ist schön? Klug, lebhaft, witzig, das ist viel wichtiger, und all das bin ich nicht.«

»Nur nicht so bescheiden!« sagte die Gräfin lachend. »Auch bescheiden soll man nicht sein. Die Männer denken ohnedies gering genug von uns, außer wenn sie verliebt sind!«

Nun mußte auch Pave lachen. Was war doch diese Gräfin Strassoldo für eine unbezahlbare Person! Nüchtern und sachlich nannte sie alle die düsteren und bangen Probleme, um die Pave zaghaft und verzweifelt zu kreisen pflegte, beim Namen und schien sie damit aus der Welt zu schaffen. Ach, diese Frau zur Freundin haben dürfen! Welches Glück, welcher Trost, welche Stütze wäre das! Aber es mußte ja wieder gereist werden! Der armen Pave war nie etwas Gutes gegönnt.

Sie faßte nun in dem Bestreben, ihrerseits auch etwas Freundliches, eine kleine Schmeichelei zu dem Gespräch beizutragen, ihre hingebende Bewunderung in einem Kompliment über das vorzügliche Italienisch der Gräfin zusammen, da sie aus der Visitenkarte deren ungarische Abstammung erfahren zu haben glaubte.

»Mein Mann stammt aus Friaul, er hat dort seine Güter. Da muß ich wohl italienisch sprechen«, wehrte die Belobte ab. 80

»Mein Mann ist Kroate, aber mein Kroatisch ist sehr schwach«, entgegnete Pave beschämt.

»Das ist falsch!« erklärte Gräfin Strassoldo leidenschaftlich. »Zumal da mit Ihrem Mann doch etwas Besonderes los ist. Er ist doch kein gewöhnlicher Kroate. Neulich war bei uns die Rede von ihm. Ist er nicht ein Dichter?«

Pave bejahte verlegen, aber doch ein wenig stolz.

»Also sehen Sie! Nein, nein, das geht nicht! Fröhlich sein! Selbstbewußt sein! Ordentlich Kroatisch können! Ich sehe schon, ich werde Sie erziehen müssen.«

»Ach, wie gern!« seufzte Pave. »Aber ich reise ja ab.«

»Richtig, Doktor Krumbholz sagte uns, daß Sie es Ihrer Gesundheit wegen müssen. Wie schade! Reisen Sie übrigens nicht zu uns hinunter ins Friaulische?«

»Nach Motta di Livenza, zu meiner Schwester.«

»Großartig! Das ist nahe bei Udine. Im Frühjahr werde ich Sie besuchen. Bis dahin müssen Sie fröhlich, stolz und gesund sein. Freilich, mit dem Kroatischen wird es in Motta hapern.«

»Mein Schwager spricht es.«

»Um so besser! Wehe Ihnen, wenn Sie bis zum Frühjahr nicht perfekt darin sind. Die Sprache unserer Männer müssen wir Frauen doch sprechen. Ich habe Italienisch gelernt, Sie müssen Kroatisch lernen. Und wie steht es denn mit dem Deutschen?« forschte die Gräfin unbarmherzig.

Pave lächelte schwach.

»O weh, da steht es noch schlechter. Ich habe Deutsch gelernt, aber es ist so schwer!«

»Aha, schwer! Freilich ist das Deutsche schwer! Ich habe mich selbst genug damit geplagt. Was hilft's. Eine österreichische Offiziersfrau muß Deutsch verstehen. Glauben Sie ja nicht, daß ich keine ungarische Patriotin bin! Wir Ungarn sind glühende Patrioten. Unsere kleine Heimat geht uns über die ganze große, weite Welt, und unsere Sprache, die außerhalb von Ungarn keine Katze versteht, ist uns doch von allen Sprachen die herrlichste. 81 Trotzdem wäre ich ein Narr und verdiente Prügel, wenn ich als Offiziersfrau nicht Deutsch verstünde. Denn Deutsch, das ist die Sprache der Armee. Und Deutsch, das ist die Sprache eines großen Volkes, eines tüchtigen Volkes. Wir können nur lernen, wenn wir Deutsch verstehen.«

»Es ist herrlich, wie Sie das alles sagen, Gräfin!« Pave lächelte sie scheu an. »Aber es kann nicht jeder das vollbringen, was er für richtig und nützlich hält. Zu manchem ist man einfach nicht imstande.«

»Da haben Sie recht. Wenn man anständig geboren ist, gibt es Dinge, die man nicht fertig bringt. Ich könnte zum Beispiel meinen Mann nicht betrügen, und wenn ich es mich die größte Mühe kosten ließe, und ich sehe es Ihnen an der Nase an, daß auch Sie es nicht könnten.«

Pave sah ihre elegante Besucherin verblüfft an und dachte: Um Gottes willen, so etwas sagt man doch nicht einmal! Sie ist bewundernswert, aber sie nennt die Dinge allzu unverhüllt beim Namen. Die Gräfin sprach weiter:

»Was nützlich und richtig ist, muß man können und vollbringen, sonst bleibt man sein Leben lang ein armer Stümper. Und Sie mit Ihren famosen, wunderschönen kleinen Mädchen, mit Ihrem Sohn, den Sie gesund zur Welt gebracht haben, und mit Ihrem Dichter-Mann, Sie werden doch keine Stümperin sein wollen.«

Die beiden Frauen sahen einander an und lächelten. Die Gräfin dachte: Was ist mit dieser bildhübschen jungen Frau los? Ist sie krank vor Heimweh? Ist es die angegriffene Lunge, von der Doktor Krumbholz sprach, die ihr das Leben verdunkelt? Ich möchte ihr helfen. Zu dumm, daß sie fortreist.

Pave aber dachte: Liebe, gescheite, herzerquickende Gräfin, du hast gut reden! Du bist reich und ich bin arm, du bist die Nichte des Marschalls, und mich kennt hier niemand; du bist gesund und ich bin krank. Hilf mir! Aber ich reise ja fort. Schade!

Die Gräfin erhob sich. 82

»Jetzt schaue ich noch einmal zu den Kindern hinein, dann muß ich aufbrechen.«

»Ihre Kinder sind entzückend«, sagte sie, als sie im Kinderzimmer standen. »Die Mädchen sind ganz ungewöhnlich hübsch. Sie können stolz sein. Und der Bub wird sich auch herausmachen, das kann ich schon jetzt sehen.«

»Wieso wissen Sie mit Kindern so gut Bescheid?« fragte Pave.

»Das wußte ich seit jeher. Ich will doch selbst Kinder haben, viele, bei mir muß es einmal wimmeln im Kinderzimmer. Es muß!«

Man hörte Türen gehen, und plötzlich stand der Major im Zimmer, nicht wenig überrascht, Besuch vorzufinden und Pave, die er müde vom Packen anzutreffen gefürchtet hatte, im grünen Kleid und mit glücklich erregter Miene zu sehen.

Pave stellte ihn der Gräfin vor und diese rief fröhlich aus: »Ecce poeta!«

Lateinisch spricht sie auch, dachte Pave, der Major aber küßte dem Gaste die Hand, erkundigte sich nach dem Befinden und erzählte, er sei dem Herrn Rittmeister vor einer knappen Stunde im Hofkriegsrat begegnet.

»Ich habe Ihre Familie inspiziert, Herr Major, und ich gratuliere Ihnen. Zu schade, daß Ihre Frau mit den Kindern verreist. Wir hätten uns öfter sehen müssen. Aber Sie werden uns das Vergnügen schenken! Ja?«

Der Major verneigte sich, rot vor Freude, nicht wegen der an ihn ergangenen Einladung, sondern weil er fühlte, daß Pave von dieser Frau Wärme und Güte widerfahren war.

Die Gräfin empfahl sich nun rasch, gab den Mädchen humoristische Nasenstüber, und legte ihnen ans Herz, bei der bevorstehenden Reise gut auf ihre Puppen zu achten; denn diese nähmen gern die Gelegenheit einer Reise wahr, um sich aus dem Staub zu machen; eine Warnung, die von der kleinen Cotia nicht in ihrer vollen Tragweite erfaßt, von der verständigen Miliza aber mit 83 Bestürzung aufgenommen wurde, bis der Vater beruhigend erklärte, er wisse ein sicheres Mittel, die Puppen am Fortlaufen zu hindern, und er werde es Miliza später verraten.

Dem Säugling, der nun in seinem Korbe lag und an seinem Daumen sog, machte die Gräfin ein Kreuzchen auf die Stirn, der Amme nickte sie lebhaft zu, wünschte ihr gute Heimkehr nach Friaul und ein freudiges Wiedersehen mit ihrer Familie; dann schritt sie, geleitet von Pave und deren Gatten, durch die bescheidene Flucht der majorischen Wohnung und nahm im Vorzimmer herzlichen Abschied.

»Ich habe Ihrer Frau schön zugesetzt!« sagte sie lachend zum Major, »sie wird es sich nicht verlangen, mich wiederzusehen.«

Pave errötete. »O doch. Wie gern!« sagte sie verlegen. »«Werden Sie mich wirklich in Motta besuchen?«

»Bestimmt. Ich hole Sie ab und Sie bleiben dann zu Erziehungszwecken eine Weile bei mir in Udine. Einverstanden?«

Pave nickte lächelnd, die Gräfin reichte dem Major die Hand zum Kusse, lud ihn nochmals ein, sie bald zu besuchen, und entschwand in ihrer geschwinden Art durch die Eingangstüre.

Netti, die nicht gewagt hatte, während der Anwesenheit des Besuches den Mittagstisch zu decken, stellte eilig Teller und Gläser auf das Tischtuch.

»So hat der Wagen unten vor der Haustüre der Gräfin Strassoldo gehört«, sagte der Major, als er seiner Frau bei der Suppe gegenübersaß.

»Eine großartige Frau!« seufzte Pave, die im grünen Kleid und angeregt vom Erlebnis des Besuches bildschön am Tische saß. »Wer so sein könnte, wie sie!«

»Was Schönheit betrifft, nimmst du es zehnmal mit ihr auf. Du siehst heute sehr gut aus; niemand würde denken, daß du krank bist.«

»Ach, ihr mit eurer Schönheit!« Pave lachte ärgerlich. »Davon rede ich doch nicht. Denke dir, die Gräfin tut 84 immer, was sie für richtig und nützlich hält. Wer das könnte!«

»Laß dir doch nicht von jedem Menschen imponieren! Die Gräfin mag eine vorzügliche Frau sein, auch Doktor Krumbholz sagte dergleichen, aber glaube doch nicht, daß sie wirklich imstande ist, alles zu tun, was sie für recht und geboten hält. Dazu ist niemand imstande. Und je wacher und empfindlicher das Gewissen, desto unmöglicher ist es, allen seinen Mahnungen zu folgen. Sie hat mehr Selbstbewußtsein als du, sie hat es leichter im Leben und überdies wird sie es ganz gewiß verstehen, sich mitunter mit einer kleinen, tröstlichen Lüge zu beschwichtigen. Meiner schönen, kleinen Pave aber erscheint sie als unvergleichliche Heldin.« Der Major sah seine Frau liebevoll, aber etwas ungeduldig an. Besäße ihre Seele doch mehr von der Flügelleichtigkeit, die Paves äußerer Erscheinung noch heute, da sie vier Kinder getragen, geboren, genährt hatte, so süßen Zauber verlieh, welche Hilfe könnte dies seiner eigenen schweifenden, werkenden, zukunftsträchtigen Seele sein!

Netti hatte nach der Suppe gekochtes Rindfleisch mit Erdäpfelschmarren und Zwiebelsauce und zum Schluß in Teig gebackene Apfelspalten aufgetragen.

»Sie kocht nicht schlecht«, sagte der Major und sprach der süßen Mehlspeise zu.

»Ja, aber sie ist unsympathisch. Ich bin sicher, daß sie stiehlt«, entgegnete Pave. »Wenn ich fort sein werde, mußt du alles versperrt halten.«

»Hast du Grund zu diesem Mißtrauen? Pave, Pave, auf der einen Seite demütigst du dich über Gebühr vor jedem Menschen, hältst dich für geringer als alle, und nun mißtraust du ohne Grund einem armen, braven Mädchen!«

»Ja, ich bin ein untaugliches Geschöpf und ich sollte nicht leben!« Tränen stürzten aus Paves schönen Augen, ihr Mund verzog sich, sie stand eilig auf und wollte hinauseilen.

»Draga moja Pavice!« schmeichelte der Major, der sie 85 mit einem Schritt eingeholt und wieder auf ihren Stuhl niedergedrückt hatte. »Du wirst doch deinem Pero heute, da du einen angenehmen Besuch gehabt hast und so schön bist wie eine Vila, nicht eine Szene machen wollen!« Über den Tisch legte er seine Hand auf die ihre und lächelte sie beschwörend an.

Pave trocknete sich die Augen, verzog schmollend den Mund und suchte ihre Hand zu befreien.

Da ertönte aus dem Vorzimmer eine männliche Stimme. Sollte Doktor Krumbholz gekommen sein? Netti steckte den Kopf zur Türe herein und ersuchte den Major herauszukommen. Ein serbischer Herr sei hier und wünsche ihn zu sprechen.

Als der Major ins Vorzimmer trat, sah er sich mit Staunen einem alten Mann gegenüber, dessen Erscheinung sich von allem, was man in Wien zu sehen gewohnt war, nachdrücklichst unterschied und dessen Anblick ihn in Gefühl und Gedanken mit einem Schlag in seine slawische Heimat versetzte.

Dichtes weißes Haar quoll dem Ankömmling unter einer länglichen Pelzmütze hervor, weiße Brauen überbuschten kühne, alte Augen, eine große Adlernase sprang energisch vor, ein dicker weißer und sehr langer Schnurrbart, dessen Enden spitz zuliefen, hing steif und steil übers Kinn hinaus. Bis auf die nicht ortsübliche Pelzmütze unterschied sich die Kleidung des Mannes nicht wesentlich von der eines saloppen alten Wieners, trotzdem machte der Besucher einen durchaus fremdartigen, südöstlichen und auf irgendeine Weise soldatischen Eindruck. Der letztere war vielleicht dadurch verursacht, daß das linke Bein im Knie abgebogen war und auf einem ledergepolsterten Stelzfuß ruhte.

Der Fremde sagte ruhig und mit kindlich verborgenem Lachen auf serbisch: »Ich bin der Vuk.« Als sich daraufhin im Gesicht des Hausherrn die zuwartende Frage nicht sogleich aufhellte, trat er näher, faßte den Major am Arm und sagte: »Bruder, ich bin Vuk Stefanović Karadžić. Kennst du mich jetzt?« 86

Nun verwandelte sich das Gesicht des Zaudernden. Helle Freude brach ihm aus den Augen und durchleuchtete jeden Zug von Wange und Mund.

»Doktor Karadžić kommt mich besuchen! Unser großer Doktor! Nur herein!« Nach der Küche gewendet, aus der die typischen Geräusche des Geschirrwaschens drangen, bestellte der Major schwarzen Kaffee.

Pave hörte den Stimmenaufwand und sah mit Mißtrauen und Ablehnung Pero einen alten Stelzfüßigen ehrfurchtsvoll und freudig ins Zimmer geleiten. Für den da sollte schwarzer Kaffee gekocht werden, und das heute, da es wegen des Besuches der Gräfin schon so spät war! Sie erhob sich fragend, und Pero sah augenblicklich die neue Wolke auf ihrer Stirn. Er sagte ihr schmeichelnd und leise: »Pavica, hier bringe ich dir einen berühmten Gast. Doktor Karadžić, der unsere Volkslieder gesammelt und aufgeschrieben hat. Sei nett mit ihm, ja, Pave?«

Pave sah Peros freudige Erregung und ihr Unmut schwand dahin, obwohl sie sich nachgerade müde zu fühlen begann. Sie ging dem alten Invaliden entgegen, bot ihm mit freundlichem Lächeln die Hand und lud ihn ein, weiterzukommen. Pero aber war stolz und froh über Paves Schönheit und Güte. Denn er wußte wohl, wie sehr ein neuerlicher Besuch am heutigen Tage eine Zumutung an die Kranke bildete und einen wie ängstlichen Widerwillen sie gegen die meisten Fremden hegte. In gerührt einander zugewandter Stimmung umgab das Ehepaar den unerwarteten und seltsamen Gast nun mit doppelter Zuvorkommenheit. Doktor Karadžić, der sich auf Paves Einladung mit ihr auf dem Sofa niedergelassen hatte, wobei sein notgedrungenerweise vorgestreckter Stelzfuß die kleine Sitzecke nach der einen Seite absperrte, sah mit unverhohlener Freude auf seine Gastgeber, und als Netti mit dem Kaffee erschien, nahm er begeistert eine der kleinen blumenbemalten Tassen entgegen, die Paves adelige Hand ihm reichte.

»Sehr gütig von Ihnen, Gnädige, daß Sie einen alten Krüppel so freundlich bewirten! Ich wollte hier nicht 87 stören. Keineswegs stören wollte ich. Nur sehen wollte ich den Dichter, der den ›Zar Dušan‹ geschrieben hat!«

Er stellte sein Täßchen auf den dünnbeinigen Tisch, wandte seinen ganzen schweren Körper nach Pero herum, der auf einem der steifen Stühle saß, und schlug ihm kräftig auf die Schulter.

»Ein feines Lied hast du da geschrieben, Bruder, ein schönes Lied. Ich kenne alle deine Gedichte. Sie sind schön. Du bist ein von Gott Begnadeter. Aber der ›Zar Dušan‹, das ist dein schönstes. Weißt du, ich alter Mann tue seit vierzig Jahren nichts anderes, als dort unten in Serbien unseren alten Volksliedern nachspüren und sie aufschreiben. Wo bin ich nicht überall gehockt, wo nicht überall hineingeschloffen, von was für ungewaschenen Lippen habe ich sie nicht abgehört, unsere schönen alten Lieder. Die Lieder von den Helden, von den Kriegern, von den Jägern und Fischern, von der heißen Liebe unserer Frauen, von den Vilen im grünen Wald, vom Teufel und seiner List. Immer wieder bin ich ausgereist, trotz meines Beines, trotz meines ewigen Hustens und obwohl ich stets arm war. Bin ausgereist und habe mich zu den Bauern und den alten Weibern am Webstuhl, zu den blinden Bettlern und zu den unartigen, wilden Kindern hingesetzt und habe gefragt und geforscht, bis sie herausgerückt sind mit diesem Lied oder mit jenem. Und ich habe sie niederschreiben und mit diesen herrlichen, kräftigen, frischen Liedern Zeugnis geben dürfen für unseres Volkes Sprache, Wesen und Sein. Aber siehst du, Bruder, daß nun schon Dichter aufstehen und in dieser unserer Sprache, ob man sie nun Serbisch nennt wie ich, oder Kroatisch wie du, die man aber damals, als ich anfing, ihre Tausende von taufrischen Wörtern in Wörterbüchern und Grammatiken einzufangen, eine Ochsenhirtensprache geschimpft hat, daß in dieser Sprache nun gedichtet wird im ganzen Land, siehst du, Bruder, das freut mich so, daß ich habe kommen und es dir sagen müssen, wie ich gehört habe, daß du auch hier in Wien bist. Und das noch wollte ich, der alte 88 Vuk, dir sagen: nicht alles, was die neuen Dichter, die in Schulen gelernt haben und Politik machen wollen, heute schreiben, ist so schön und stark wie die alten Lieder, glaube mir, nicht alles. Weniges sogar. Aber dein ›Zar Dušan‹, der nimmt's auf mit jedem von den Liedern, der nimmt's auf. Wie ich ihn zuerst gelesen habe, sind mir die Tränen heruntergelaufen und ich habe gewußt: der das geschrieben hat, der ist ein Rechter.«

Der weißhaarige Mann holte ein großes dunkelblaues Taschentuch aus dem Rock, hustete hinein, steckte es wieder zu sich und sah Pero an. Pave hatte der langen serbischen Rede trotz gutgewillter Bemühung nicht in allem folgen können, doch hatte sie begriffen, daß Pero darin gelobt wurde, und auch sie blickte nach ihm hin.

Er saß auf seinem Stuhl, so schön entflammt, wie sie ihn dereinst in Zara gekannt hatte, da er der junge, unbeschwerte Offizier und der eben berühmt gewordene Dichter gewesen war. Es war, als sei der Schleier von Müdigkeit, von Amt und Verantwortung, der dünn und kaum zu sehen, aber immer spürbar um ihn lag, zerrissen und verflogen, als sei der Mann eben dem Haupte eines Gottes entsprungen, Urbild gehaltener Kraft, Künder der Schönheit, Bote des Lichtes, unantastbar dem Schmerz. »Pero, Pero!« jubelte Paves sonst so tief verschüttetes Herz. »Wie könnte ich deiner je würdig sein! Mein Pero, du bist herrlich wie in den Tagen der Jugend! Wer könnte Schritt halten mit dir! Laß mich nicht am Wege liegen, behalte mich bei dir, wenn ich auch nichts habe, das dir genügen kann!«

Der Major fühlte den Blick der Frau so liebebrennend auf sich wie seit langen, langen Zeiten nicht mehr; er sah Pave mädchenschlank, zierlich und aufrecht neben dem alten Vuk in der Sofaecke sitzen, und auch in ihm wallte eine neue Zärtlichkeit auf, eine unnennbare Freude darüber, daß ihr Herz wieder einmal den Dichter in ihm gegrüßt hatte. Doktor Karadžić saß in diesem Kreuzfeuer der Liebesblicke und fühlte eine lang vergessene Rührung, Wärme und Helligkeit sich überkommen. Er 89 wollte sich mit einem galanten Wort an Pave wenden, da aber kam die Stimme des Majors, vibrierend von festlicher Bewegtheit, zu ihm hin. Gekleidet in den Glanz seiner Sendung saß der Mann dort, kein sorgender, fronender Familienvater mehr, kein Untergebener hoher militärischer Vorgesetzter, nein, ein Erlauchter, ein Königlicher, einer, der sich zu höchster Aufgabe erkoren wußte.

»Ein Rechter bin ich? Das ist ein schönes Lob! Ein hohes Lob!« sagte er, und auf seiner Stirne brannte ein überweltliches, außermenschliches Glück. »Wertvoll ist mir dieses Lob aus Ihrem Mund, Herr Doktor Karadžić. Aber sie sollten mich nicht so sehr preisen. »Wenn es Gott gefällt, fängt es aus mir zu singen und zu strömen an, ich habe nichts zu tun, als zu lauschen und festzuhalten. Ich bin nichts anderes als eines Brunnens Mund, aus dem die ewige Dichtung, die immer da war, ihren Weg nimmt. Ob ich auf Schulen gewesen bin oder nicht, was verschlägt es? Ich bin doch auch Volk, so wie Ihre Bauern, Ihre alten Weiber am Webstuhl, Ihre schlimmen, unartigen Buben. Wir Grenzer, wir sind Volk, Soldaten und Bauern zugleich. Gibt es ein heiligeres Volkstum als dieses, das zugleich nährt und wehrt!«

Er hielt aufatmend inne, fast schien er Scham zu empfinden, weil er so vieles über sich ausgesagt hatte.

Doktor Karadžić sah den um soviel Jüngeren mit Ergriffenheit an.

»Ja, Bruder, Volk bist du schon, aber du bist noch etwas anderes. Du bist ein Künstler. Einer, der aus dem uralten goldenen Rohstoff bewundernswerte Geschmeide macht. Und du bist einer, der mitreißt. Dein ›Wanderer‹ ist in aller Mund. Viele, die selbst nichts können als dumpf fühlen und wirr denken, die führst du hinein in die wache, stürmische Begeisterung.«

»Ihr Gatte ist ein großer Mann!« wandte der Alte sich an Pave und fuhr fort, indem er sich, auf dem Sofa sitzend, gegen die Hausfrau verneigte: »Und unser Dichter hat eine schöne, eine liebe Gnädige heimgeführt, 90 schön wie eine Blume, an der die Bienen Honig saugen.«

»O weh!« meinte Pero lachend, »solche Dinge will meine Frau nicht hören.«

Pave errötete, aber dieser Alte gefiel ihr nun. Seine Schmeichelworte machten sie nicht unmutig.

Der Major erzählte von Paves Krankheit und bevorstehender Abreise. Das Gesicht des Besuchers wurde ernst: »Ach! Krank ist sie? Husten hat die schöne Gnädige? Husten ist schlimm. Ich hatte immer Husten. Und meine Kinder!« Er seufzte tief und hielt inne.

»Sind Ihre Kinder krank?« wagte sich Pave zaghaft auf kroatisch ins Gespräch.

Der alte Vuk seufzte noch tiefer. »Krank! »Wenn sie doch krank wären!« Er faßte Pave am Arm und sah sie verzweifelt an: »Wird mir die schöne Gnädige glauben, daß ich zwölf Kinder gehabt habe, liebe Kinder, gute Kinder, und daß nur zwei am Leben sind!« Das Kriegergesicht mit den steifen, langen weißen Schnurrbartenden, der kühnen Nase, den alten Adleraugen war in unsäglicher Trauer Pave zugewandt.

Pave war außer sich vor Teilnahme. Tränen stiegen ihr den Hals hinauf und traten in ihre Augen. »Zehn Kinder sind Ihnen gestorben! Du gütiger Himmel, zehn Kinder! Wie konnten Sie, wie konnte Ihre Frau das ertragen!?«

»Ja, die Arme! Die Gute! Wohl hat sie einen Kreuzweg durchgemacht, die teure, fühlende Seele. Immer wieder hoffend zur Welt gebracht hat sie diese süßen Kinder, hat sie gestillt, gepflegt, geliebt. Und dann ist irgend etwas gekommen, die Bräune, oder der Durchfall, oder der Husten. Und dahin waren sie, die so hold gelallt, so lieb getrippelt, so süß, ach so süß gelächelt hatten. Und wieder ein Sarg, und wieder ein Grab, und wieder Leid und Tränen. Zwei waren schon groß, auch sie wurden uns genommen. Ich stecke in keiner gesunden Haut, das ist es, und dann die Armut, die bittere Armut, da wir jung waren. Heute habe ich die Pension von Seiner Majestät dem Kaiser von Rußland, aber damals, 91 da mußten wir alles ins Versatzamt tragen, da hatten wir kein Holz, uns zu wärmen, da, guter Gott, da hatten wir einmal selbst am heiligen Weihnachtsabend nicht ein Stücklein Fleisch zu Hause.«

»Auch uns ist ein Kind gestorben«, sagte Pave still; sie fand es unerträglich, zu diesem Meer von Leid nicht ein weniges beizusteuern, dem guten, fremden Mann nicht zu zeigen, daß er nicht der einzige war, der um Verlorenes Trauer trug.

»Aber wie ich höre, haben Sie noch mehr Kinder!« sagte Vuk, der nun wieder mit selbstlos gleichmütiger Freundlichkeit dasaß; er hob lauschend den Zeigefinger und wandte das Ohr nach der Tür, hinter der die Stimmen der kleinen Mädchen sich jetzt vernehmen ließen.

Der Major öffnete und ließ Miliza und Cotia eintreten, die, von Vuks Holzbein eingeschüchtert, ihrer gewohnten Höflichkeit vergaßen und sich stumm an der Wand herumdrückten.

Doktor Karadžić geriet in Verzückung.

»Kommt her zu mir, meine Engelchen!« rief er auf serbisch und wiederholte den Ausruf auf italienisch, als er hörte, daß die Kinder nichts anderes verstünden.

»Oh, ihr schönen, lieben Kinder! Ihr süßen Seelchen!« rief er ein ums andere Mal und warf den Verdutzten Kußhände zu. »Kommt her zu mir! Kommt doch zum alten Vuk!« Zu den Eltern gewandt, fuhr er ekstatisch fort: »Kinder sind das Liebste auf der Welt! Mit Kindern kann man nichts vergleichen! Gott erhalte euch diese Blümchen, diese Vögelchen, diese holden, holden Engelein!«

Miliza war zu ihrem Vater geeilt, schmiegte sich an sein Knie und flüsterte ihm mit ängstlichen Seitenblicken auf den aufgeregten Fremden ins Ohr, der Miu habe doch versprochen, ihr ein Geheimnis wegen der Puppen mitzuteilen. Cotia jedoch, nicht gewillt, allein den Zurufen und Kußhänden des Stelzfüßigen standzuhalten, lief mit geschwinden Schrittchen auf die Mutter zu, stellte sich neben sie und lehnte ihr Köpfchen an deren 92 Arm. Die Schwestern trugen gleiche, der Quere nach blau und weiß gestreifte Wollkleidchen, die nach der Mode der Erwachsenen enge Leibchen und weite, faltig eingereihte Röcke aufwiesen.

»Ach, nichts habe ich da, das ich euch schenken könnte! Kein Zuckerzeug, kein Perlchen, nichts!« Der Alte fingerte in seinen Taschen herum und förderte schließlich eine dicke silberne Uhr zutage, die er Cotia lockend hinhielt. Sie näherte sich auch alsbald und verlangte das Ticken zu hören.

Pave hob Cotia auf ihren Schoß, und das Kind saß nun glücklich in die Mutter hineingeschmiegt da; es fühlte sich von allen Seiten durch das geliebte mütterliche Sein umhüllt, und ein rührender Ausdruck von gesichertem Behagen lag auf dem kleinen Gesicht; dieselbe glückliche Ruhe und Gelöstheit zeigte sich jetzt aber auch auf Paves Zügen; alles Bangen, alle Sorge, alle unsichere Schüchternheit waren daraus gewichen; das schöne Haupt zum Lockenkopf des Kindes herabgebogen, die Arme in einer weit umgreifenden Gebärde um den rundlichen Körper des Mädchens gelegt, schien die Frau Sinnbild und Ausdruck züchtiger Fruchtbarkeit, gesegneten Muttertums, ja der reichen, spendenden Natur selbst zu sein. Ströme einer aus den innersten Seinsgründen quellenden Zärtlichkeit webten zwischen Mutter und Kind, und fast schien es Pave, als sei Cotia noch nicht geboren, als ruhe sie noch in purpurner Unbewußtheit tief hineingefaltet in die warme Geborgenheit ihres mütterlichen Leibes. Eine holde, unschuldige Wollust erfüllte ihr Herz, eine blutwarme Sicherheit ließ ihren Mund leise lächeln, ja, sie fühlte sich als kräftige und mutige Herrin des fremden und feindlichen Lebens und in einer Art von Königinnenstolz sah sie zu Pero hinüber.

Dieser bedauerte einen Augenblick lang die Anwesenheit des Alten. Er hätte auf Pave zustürzen, sie an sich drücken und küssen, sie in seinem Arm vergehen lassen mögen. So, wie sie dort saß, das Kind auf ihrem süßen Schoß, 93 war sie die prangende Frucht, die ihre holde Mädchenblüte ihm dereinst vor Jahren versprochen hatte. Mitunter schon hatte es ihm scheinen wollen, als habe das harte Leben diese Blüte ganz und gar vernichtet, als sei trotz dem zart gebliebenen Leib, trotz dem noch immer lieblichen und rosigen Gesicht von der Verheißung ihres Wesens nichts zur Entfaltung gekommen, als sei die überwältigende Süße ihres Kernes ganz und gar in bittere Sorge verwandelt worden. Könnte ich ein festes Haus um dich bauen, meine Pave! rief sein Herz. Könnte ich dir ein ruhiges Leben unter Blumen, unter Bäumen schaffen, ein wurzelhaftes Leben, wie du Zarte es brauchst. Aber wie soll ich es, ich Armer!

Vuk hatte neuerdings seine Taschenuhr hervorgezogen, doch diesmal nicht zu Cotias Ergötzung. Erschrocken betrachtete er das Zifferblatt. »Es ist spät, spät, spät!« ächzte er hervor. »Ich falle Ihnen schon zu lange lästig, Gnädige, und auch dir, Bruder. Und meine Minna wartet zu Hause.«

»Minna ist meine Tochter«, erläuterte er nach einer Pause, »meine Tochter und meine Helferin. Sie übersetzt die serbischen Lieder ins Deutsche. Grimm, mein Freund, der große Jakob Grimm, lobt ihre Übersetzungen. Meine Freude und mein Trost ist sie, zusammen mit dem einen Sohn, der mir geblieben ist. Sie müssen kommen, Gnädige, und du, Bruder, wir werden serbische Hechtsuppe essen und Lammfleisch und Käse aus Užice. Die Freunde zu Hause schicken mir solche Leckerbissen, gottlob werden sie nicht müde, sie mir zu schicken, denn ich könnte nicht leben ohne unser heimisches Essen.« Ohne eine Antwort auf seine Einladung abzuwarten, wandte er sich an Pero mit der Frage, ob er schon unten in Serbien gewesen sei.

»Nein«, sagte Pero, »noch nicht. Aber vielleicht, wer kann's wissen, ziehen wir eines Tages, möglicherweise schon bald, nach Belgrad.«

Pave hob erschrocken den Kopf.

»Nach Belgrad? Wieso? Wie meinst du das, Pero?« 94

»Es ist da so ein Plan aufgetaucht. Ich könnte eine Stelle am Konsulat bekommen. Wir reden später davon. Es ist ganz unwahrscheinlich. Beunruhige dich nicht.«

Aber alle süße Sicherheit war aus Paves Gesicht verschwunden. Was nahte wieder? Was bereitete sich vor? Welche neue Fremde drohte her? Sie seufzte und ließ Cotia auf den Boden gleiten.

Doktor Karadžić hatte aufmerksam zugehört.

»Ich habe eine Hiesige geheiratet, eine Wienerin. Sie ist eine gute Frau, eine treue Seele, eine emsige, eine besorgte. Aber bei uns in Serbien würde sie sich wie in der Türkei vorkommen. Das wollte ich ihr nicht antun. Also bin ich hier geblieben und nur immer wieder ausgereist, trotz meinem Bein, trotz meinem Husten, und obwohl sie mich wegen meiner vielen Reisen hier für einen russischen Spion gehalten haben und dort für einen deutschen.«

»Ach, Bruder«, fuhr er fort, »was haben sie mich nicht verfolgt, überall, was mir nicht alles angetan, am schlimmsten aber die Popen, der Metropolit und alle die anderen. Weil ich aus der alten Kirchensprache ein paar vertrocknete tote Buchstaben, die für nichts mehr nutz sind, denen kein lebendiger Laut entspricht, habe hinauswerfen wollen, haben sie gesagt, ich sei ein Ketzer, ein Feind der Religion. Das Jota, diesen unschuldigen, kleinen Buchstaben, den ich aus dem Lateinischen habe herübernehmen wollen, weil er in unserer Sprache nötig ist, haben sie eine Teufelssichel genannt, denke dir, eine Teufelssichel, das unschuldige, kleine Zeichen. Wie die russische Bibelgesellschaft auf Vermittlung meiner mächtigen, meiner lieben, guten deutschen Freunde das Neue Testament, das ich ins Serbische übersetzt habe, hat drucken und herausgeben wollen, haben die serbischen Pfaffen es aus lauter Haß hintertrieben!«

»Ja, ja!« seufzte er. »Wenn man alt wird, erfährt man viel Böses!«

»Man erfährt viel Böses, auch wenn man jung ist«, warf Pero ein; »wenn man sein Volk liebt und nach den 95 hohen Dingen strebt, dann wird man verdächtigt, das weiß auch ich. Man muß es ertragen.«

»Freilich muß man es ertragen, Bruder, denn die Liebe zum Volk ist das erste. Wem sie so hell und flammend eingeboren ist wie dir und mir, der muß um ihretwillen vieles hinnehmen. Aber es kommt auch Gutes. Wieviel Gutes hat mir Gott nicht gegeben! Hier in der Fremde habe ich meine Frau gefunden, die so zärtlich, so liebend für mich sorgt seit vielen Jahren. Und Kopitar ließ er mich hier finden! Gott laß es seiner Seele leicht sein! Kopitar! Ihn, der meinen Beruf für mich erspürt hat, ihn, den ersten Mittler zwischen uns Slawen und Europa, ihn, den Getreuen, Hochgelehrten, ihn, dem ich alles, alles verdanke, ohne den der Vuk nicht der Vuk geworden wäre! Ohne den ich nicht zum großen Goethe gekommen wäre, ohne den ich den Jakob Grimm und den Humboldt nicht kennengelernt hätte, sie alle, die wie gute Schutzgötter unser Volkslied gehegt, geschützt und geliebt haben. Dahin ist er, mein Kopitarius, dahin seit zehn Jahren.« Der Alte lehnte sich trüb in seinen Sofawinkel und schien das Heimgehen vergessen zu haben.

Pave saß erloschen da. Sie war nicht mehr imstande, zuzuhören und sich um Verständnis zu bemühen. Jenes Wort über den Posten beim Konsulat in Belgrad zermarterte ihr Herz und verstörte sie völlig. Sie wünschte sehnlich, daß der Besuch sich erheben und sie der Ruhe ihres Krankenzimmers zurückgeben möge.

Aber Pero ergriff wieder das Wort. Er sah den Alten mit flammendem Interesse an: »Sie waren bei Goethe? Er hat Sie empfangen?«

»Zweimal. Im dreiundzwanziger und im vierundzwanziger Jahr. Und einzig gut hat er mich aufgenommen. Was für ein Mensch! Berühmt, gefeiert, geehrt von der ganzen Welt, und doch, denk dir, Bruder, wie ich, der fremde, junge, arme Vuk, zu ihm gekommen bin, was ist auf dem Tisch gelegen, was hat er vor sich aufgeschlagen gehabt? Nie würdest du es erraten: die 96 Rezension von meiner serbischen Grammatik! Um mich zu ehren, um mich zu erfreuen, hat er sie aus dem Zeitungsband herausgesucht und hingelegt und aufgeschlagen! Es war der ruhmreichste Tag meines Lebens. Einunddreißig Jahre ist es her, aber nie würde ich's vergessen, und wenn ich noch einmal so alt werden müßte, wie er dagesessen ist, der Große, der Weise, der Berühmte, und mich angeschaut hat mit seinen funkelnden alten Augen und von unseren serbischen Liedern mit mir geredet hat, von der Hasanaginica und von der Dioba Jakšića, die er beide selbst übersetzt hat. Weißt du, Bruder, trotz allem Schlimmen, trotz aller Bosheit, die uns widerfährt, ist das Leben doch sehr schön.«

»Ich weiß es«, sagte Pero leise.

»Freilich weißt du's«, fuhr es dem Alten ganz wild heraus, »freilich weißt du's, sonst hättest du doch dein Gedicht von der Jugendfreude nicht schreiben können, dieses Lied, in dem der Kehrreim wie ein Trompetenstoß, wie ein lustiger Peitschenhieb, ja, wie der fröhliche Schwertstreich eines jungen Helden zur Freude aufruft. Du weißt von der Freude und du weißt vom Leid. Du weißt von der Liebe und du weißt vom Tod. Du weißt vom Volk und du weißt von Gott, weil du ein Dichter bist. Und darum bin ich gekommen und habe dich aufgesucht, hab' dir deine Zeit gestohlen und der Gnädigen ihren guten Kaffee weggesoffen, weil ich dich anschauen wollte, wie du aussiehst.«

Peros Gesicht trug noch immer den glücklichen und geschlossenen Ausdruck, den es sogleich angenommen hatte, als er der Begeisterung des Alten gewahr geworden war.

»Es freut mich, Doktor Karadžić, daß Sie vorhin meinen Zar Dušan so lobend hervorgehoben haben. Auch mir ist dieses Gedicht lieb. Dieser Stoff bezaubert mich, wie ja alles Tragische uns immerzu ans Herz greifen wird. Zu denken, wie groß, wie mächtig das Slawenreich zu jener Zeit gewesen ist, so daß nicht viel gefehlt hat, und es hätte bis Byzanz gereicht, ja, wer kann's wissen, 97 es hätte Byzanz überwältigt und in sich einbezogen! Das Angesicht der Erde wäre ein anderes geworden, das halbe Jahrtausend des Türkenjoches wäre uns vielleicht erspart geblieben. Und zu denken, daß der eine, dem Glück, Wagemut und eine starke Hand verliehen waren, vom Fieber, von irgendeiner unsinnigen Krankheit gefällt werden mußte! Immer wieder lockt es mich, den Tod des Zaren Dušan darzustellen, wie er auf dem Heereszug tief in den mazedonischen Wäldern in seinem Zelt vom Tode überwältigt wird, wie er noch seine Großen dem Reich und dem jungen Uroš Treue schwören läßt, eine Treue, die sie gebrochen haben. Ich sehe, wie Scharen von Vilen in den Lüften über dem Todeszelt hin und wider fliegen, ganze Schwärme von weinenden Vilen, die wissen, daß mit diesem Mann fast für ein Jahrtausend die Größe des südslawischen Volkes dahin ist. Sie hängen in den Wipfeln der riesigen Bäume, unter denen das Zelt steht und die von Regen triefen. Jammernd hocken sie auf den tief segelnden Wolken, treiben sie mit den Nebeln. Mit ihnen fliegen Vögel, Falken und Raben, schmerzvoll schreiend und krächzend und ängstlich mit ihren schwarzen und roten Flügeln schlagend.«

Pero hielt inne, und Vuk Karadžić sah ihn aufmerksam an.

»Wie du das siehst, Bruder, wie deutlich und ergreifend. Bilde den Stoff, forme ihn! Es wird ein herrliches Lied werden. Deine Vision von Dušans Ende ist gewaltig. Wohl habe ich ihn auch vor mir gesehen, auf dem Sterbebette, Vukašin und die andern um sein Lager versammelt und den falschen Schwur leistend. Du aber, weil du ein Dichter bist, siehst Bäume, Wolken und Vilen, die Erde und den Himmel um den unersetzlichen Helden weinen. Ich beneide dich, Bruder. – Jetzt aber gehe ich.«

Er erhob sich mühsam, verneigte sich vor Pave, küßte ihr inbrünstig die Hand, empfahl sich ihrer Gnade und wiederholte seine Einladung zu einem Hechtsuppenessen. Die erschöpfte Frau gab eine beiläufige Zusage und 98 drückte dem Alten freundlich die Hand. Dieser wandte sich an Pero, packte ihn am Arm und sagte, während er der Tür zuzuhumpeln begann: »Und tu mir die schöne Gnädige nicht zuviel herumschleppen, hörst du! Die Frauen vertragen das nicht. Sie müssen wachsen können wie die Bäume, weißt du, mit Wurzeln in der Erde und Zweigen in der Sonne. Sie müssen ja die Nester tragen, in die wir unsteten Vögel heimkehren können.«

Pero seufzte: »Was soll ich tun als Offizier? Und Belgrad, das wäre vielleicht die Ruhe. Dort könnten wir bleiben.«

»Aber fremd, fremd wäre es für sie.«

»Für sie ist alles fremd außer Dalmatien. Manchmal denke ich, ich hätte sie nicht von dort wegführen dürfen.«

Als Vuk schon unter der Eingangstür stand, wandte er sich noch einmal zurück: »Das wollte ich dich noch fragen, Bruder: Sohn hast du keinen?«

»Ja, ich habe einen Sohn, aber er ist erst drei Monate alt und schläft jetzt.«

»Und welchen Namen hast du ihm gegeben?«

»Er heißt Duschan.«

Da strahlte das Gesicht des Alten, er schlug Pero auf die Schulter, wie er es schon einmal getan hatte, und stieß begeistert hervor: »Das hätte ich mir denken können! Zar Dušan! Gut, Bruder, gut! Gott schütze dich, Bruder, du mein gesegneter Dichter du! Siehst du, das habe ich gut gemacht, daß ich gekommen bin, dich besuchen. Jetzt kenne ich dich und bin froh darüber!«

Pero war bewegt. Er nahm die Hand des Einbeinigen und hielt sie lang in der seinen. Dann ging er mit ihm auf den Vorplatz hinaus und sah ihm nach, wie er mühselig die runde Treppe hinabstieg. Als die weißhaarige Gestalt schon seinen Blicken entschwunden war, hörte er noch das stumpfe Aufklopfen des Holzbeines auf den steinernen Stufen und den schlürfenden Schuh.

Als Pave das Schlafzimmer betrat, fand sie alles so, wie sie es am Vormittag verlassen hatte. Die Koffer 99 standen offen, die geschichtete Wäsche lag auf dem Bett. Sie war todmüde. Jetzt konnte sie nicht mehr packen. Sie schob das Ausgebreitete in den Schrank zurück, deckte das Bett ab, entkleidete sich rasch und ließ sich in die Kissen sinken. Als Pero eintrat, winkte sie ihn heran, und er setzte sich an den Rand des Bettes.

»Was ist das mit Belgrad, Pero? Sag es mir!« Erregt und mit zuckenden Lippen sah sie ihrem Mann ins Gesicht.

»Man hat mir einen schönen Posten am österreichischen Konsulat in Belgrad angeboten. Ich hätte Lust, hinzugehen. Hier wird der Dienst mir widerwärtiger von Tag zu Tag.«

»Warum?«

»Wegen des Alten, des Generals. Er ist pedantisch und mürrisch und behandelt mich wie den letzten Stümper. Ich ertrage es nicht! Ich bin kein Schulbub. Ich lasse mich nicht hunzen und schurigeln.«

Er stand auf, seufzte schwer, und seine Augen sahen Pave voll verzweifelten Unmuts an. Nach einer Weile sagte er noch: »Und wir bekämen dort auch mehr Geld.«

Damit trat er ans Fenster. Pave wagte keine weitere Frage. Sie sah ihren Mann vor der Scheibe stehen und in den sinkenden Novembertag hinausblicken. Seine Hände fingerten an dem Messingknopf, der das Fenster schloß, sie sah sie die Scheibe abtasten und auf dem Fensterbrett trommeln. Schließlich hingen sie zu Fäusten geballt hinab.

Pero wandte sich um. Die Frau im Bett erschrak vor seinem Gesicht. Zorniger Unmut, ja, etwas wie verhaltene, aber wilde Wut lag in seinen Augen und auf dem bebenden Mund. An den Schläfenmuskeln spielte es wie Krampf, als er erstickt sagte: »Wisse, daß ich es nicht mehr ertrage. Nein, ich ertrage es nicht mehr!«

Pave lag bleich und reglos. Diese lautlosen Ausbrüche, die sich mitunter aus Peros Innerstem bahnten, waren das Schlimmste, was ihr geschehen konnte. Nichts anderes vermochte sie mit so hilflosem Entsetzen zu 100 erfüllen. Denn sie war machtlos. Sie wußte, daß kein Wort von ihr, keine Liebkosung, kein Vorschlag oder Rat gegen diese schwergereizte Verzweiflung das Allermindeste vermochten. Und sie war sich gleichfalls bewußt, daß sie von der tiefsten Natur dieser Anfälle von wütendem Gram eigentlich nichts begriff. Sie verstand nur, daß Pero unter seinem Beruf litt, daß er sich durch die Willkür von Vorgesetzten in einer ihr rätselhaft und übertrieben scheinenden Weise herabgewürdigt, ja geschändet fühlen konnte. Selbst in den hellen Tagen der Verliebtheit, damals, da er als glückseliger Bräutigam Nachmittag für Nachmittag in ihr Vaterhaus in der Via Sant Antonio zu Zara gekommen war, da ihr Augenaufschlag, ihr Händedruck, ihr Kuß gar, für ihn die Bedeutung schicksalbestimmender Gewalten gehabt hatten, selbst damals schon war sie oft tief und ohnmächtig erschrocken vor den Äußerungen eines düsteren Zornes, der sich gegen die nichtswürdige Fesselung in einer ihm unangemessenen Laufbahn wandte, einer Laufbahn, der der acht Jahre lang auf kaiserliche Kosten Erzogene damals noch nicht entfliehen konnte. Heute aber hätte er es gedurft. Mußte sie ihm raten, den Posten in Belgrad anzunehmen? Durfte sie ihm ihr Grauen vor einem fremden Land, fremder als alle bisherigen, nicht zeigen? Ach, grundgütiger Gott, warum kam nun wieder dies?

Ihr Mund war wie versiegelt. Sie lag stumm und schwer da, unfähig, sich mit Pero durch die mindeste Gebärde, das leiseste Wort zu verständigen. Ihr war, als rollten Wogen über sie hin und begrüben sie völlig. Ihr war, als läge sie am Meersgrund, ungeheure Lasten von dunklem, undurchsichtigem Wasser wuchteten auf ihr. Ihr graute, und doch fühlte sie sich erlöst.

Sie lag stumm, und nur ihre weit aufgerissenen Augen folgten Pero, da er, ohne sie anzusehen, die Tür öffnete und zu den Kindern hinausging. 101

 


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