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Fünfzehntes Kapitel

Am nächsten Abend kam für Drude die andere Seite des Erlebnisses wieder in den Vordergrund. Und die war ja auch so furchtbar schwer, wie sollte sich denn nun ihr Verhältnis zu Erika und zu Werner gestalten?

Es konnte ja nie wieder so werden, wie es vor den Ferien gewesen war. »Das ist seit Swinemünde so,« sagte Erika? O Gott! Nein, nein, sie mußte ein Ende machen.

Vor allem mit Werner muß ich ganz brechen, sagte sie sich. Es tat ihr ja furchtbar leid, sie hatte ihn so lieb, und sie fühlte, daß seine Freundschaft sie sehr bereicherte. Wenn sie von daheim erzählte und er so ehrerbietig zuhörte, ach Gott! wie wurde ihr alles neu und bedeutend. Und wenn er von seinem Vaterhause erzählte und von seinem Umgangskreise und von der Schule, in der er gewesen, das gehörte zu einer Welt, die sie nicht kannte, einer Welt, die sie doch rund umher als Gegenwart umgab. Zu der sie doch Stellung nehmen mußte. Wie war es schön, mit ihm zusammen das Menschendasein zu entdecken! Es wurde alles so lebendig, worauf sein Blick fiel! Ihr tat das Herz sehr weh, wenn sie dachte, daß es mit dieser Freundschaft ein Ende haben sollte! Aber da half nichts! – Man mußte Ordnung halten in seinem Leben.

So machte sich Drude tapferen Herzens auf und ging zu Werner.

In sein Zimmer ging sie. Er sprang auf, als sie kam, und wurde rot vor Freude. Drude stand in steinerner Haltung: Ich möchte dir nur sagen, daß ich nicht wieder mit dir Lautenlieder singen will.

Er erbleichte. – Warum nicht, Drude?

Weil ich gestern abend gehört habe, – es war ein Zufall, daß ich in die Nähe kam, ich wollte zu der Bank unter den Rosenbüschen –, und da hörte ich, wie du zu Erika sagtest: Geh jetzt, du bist mir lästig! – Ich will nicht mit einem Jungen persönlichen Umgang haben, der zu einer meines Geschlechts in diesem empörend achtlosen Tone redet.

Er stand da, weiß bis in die Lippen.

Und auf einmal wurde ihm klar, wie sehr es mit ihm schon abwärts getrieben war und wie weit er schon fort war von dem stolzen Anrecht auf Herrn Gehrkes Vertrauen. Dies war ein fürchterliches Gericht, was hier geschah.

Und er fühlte auch, daß, wenn Drudes Freundschaft ihn nun verließ, ihn das einzige verließ, das ihn hätte retten können. Und er sah auf und nickte, ergeben. Und Drude ging.

*

Drude war hinausgegangen. Aber sie blieb vor dem Hause stehn, lehnte sich an den Pfosten und bebte. Mit welchem Blick hatte er sie angesehn! O Gott! wie ein gefangenes Tier! Da war doch etwas gar nicht in Ordnung! Vielleicht hatte sie gar nicht recht getan?!

Ob sie zurückgehn sollte?

Auf einmal fiel es ihr auf, wie anständig das jetzt von ihm gewesen war. daß er ihr nicht geantwortet: Erika hat doch schuld, sie läuft mir doch nach! und wie ungerecht sie im Grunde war, daß sie das wußte und nicht erwähnte. Sie war eben ganz einseitig das Mädchen, das, verletzt durch den Mangel an Stolz in der andern, um so stolzer war –

Aber es gab ja nicht nur Geschlechtsgenossinnen, es gab auch Menschenbrüder. Man durfte es ihn doch nicht einfach alles entgelten lassen, auch was sie verschuldet.

Sie wird ihm so sehr gefährlich, und er kann sich nicht erwehren, sagte sie sich. Er will sich vielleicht erwehren. Und seine rauhe, rohe Abwehr war vielleicht die Verzweiflung des Edleren in ihm! – Nun war sie ganz erschrocken. Mein Gott, wie schrecklich! wie schrecklich!

Aber wie kann er so schwach sein?

Ob sie zurückgehn sollte? Aber was sagen? Wenn sie ihn nur verstand? Wenn er nur sprechen wollte! – Aber das war ja eben in seinem Blick!

Ein Hülfesuchen war in seinem Blick! So als ob eine Macht über ihm war, die er gar nicht wollte! – Und so wird es auch sein, sagte sich Drude, und schließlich wird es bei Erika auch so sein. Und ich mit meinem Urteilen komme mir sittlich und sauber vor und bin vielleicht nur hart und dumm und engherzig und unerfahren.

Es war Drude, wie sie da stand, als stiege langsam vor ihr etwas auf: das wirkliche Menschenleben. Bei dem war gar nichts zu machen mit bloßen Theorien und festen Grundsätzen, nach denen man verurteilen dürfe, – o Gott, nein!

Das ist das wirkliche Menschenleben: daß Mächte über den Menschen kommen können, die er nicht will. Da muß man nicht vorbeigehn und kühl verurteilen; man muß zu helfen suchen.

Ich geh noch einmal zurück zu Werner.

Aber wie kann ich es nur tun, ohne ihn zu demütigen? Denn er spricht doch nicht! Wenn er doch sprechen wollte! Aber er ist zu stolz. – Sie liebte ihn dafür, daß er stolz war.

Und Drude ging zurück.

Er stand noch so wie vorhin. Schneeweiß und still. Werner, sagte sie, ich muß dich noch etwas bitten!

Er sah staunend auf. Bitten? Du?

Es war so sehr anständig von dir, Werner, daß du nicht gesagt hast: Erika ist schuld.

Werner errötete. Und stammelte: Ich dachte, es wäre nicht gut, deine Geschlechtsgenossin vor dir herabzusetzen.

Eben, sagte Drude. Und das ist so sehr anständig von dir, Werner. Ich danke dir dafür. Und nun hör, ich weiß, daß Erika es dir so furchtbar schwer macht.

Ja –? Drude –? fragte er leise. Und nun klang es doch wie ein Hülferuf.

Drude war eine Weile still. – Dann sagte sie: Das Menschenleben ist so seltsam schwer. Er nickte. – Und Erika möchte gewiß auch gern anders machen, wenn sie nur könnte. Er staunte. Und wieder waren sie eine Weile still.

Und Drude fuhr fort, langsam, suchend, grabend: Das ist das wirkliche Menschenleben: daß Mächte über den Menschen Gewalt bekommen können, die er nicht gerufen, die er nicht gewählt. Die er nicht will. Gegen die er sich aber noch nicht wehren kann. Weil er ihnen auch noch gar nicht recht ins Gesicht gesehen hat. Das muß alles erst allmählich gelernt werden. Durch Falschmachen. Durch Irren. Es sind gar nicht die wertvollsten Naturen, die nie falsch machen. Nicht die reichsten, die nie sündigen. Gerade der Reichtum ihres Innern läßt sie kühne, gefährliche, verbotene Wege gehn.

Drude! Drude! rief er erstaunt.

Ich habe doch auch das Bedürfnis gehabt, auf Abwege zu gehn. Na ja, mir genügte, einmal mit dem goldigen Friedel-Dichtermenschlein durchs Klassenfenster zu klettern, um in der Mainacht die Blütenträume zu belauschen. Es ist in einer andern Sphäre, schließlich aber ist es doch dasselbe.

Ach Gott, Drude, ich schäme mich so, ich schäme mich nun noch viel mehr! sagte Werner. Denn alles, was du sagst, ist eben eine ganz andere Sphäre! Und diese hier, in der ich sündigte, die war so gemein. Ach, Drude, mir ist so angst, wenn du das erkennen wirst, dann wirst du mich fallen lassen.

Wenn du es erkennst, Werner? und heraus willst aus der Sphäre? Warum dann fallen lassen? Dann kann man doch höchstens deine Hand nehmen und sagen: Sieh, Lieber, da ist das, was du meinst! Das Klare, das Reine, das Hohe, das meinst du! Komm!

Drude! Drude! ja, da will ich hin! Ins Klare, ins Reine, ins Hohe! Dahin, wo du bist!

Wir sind alle erst auf dem Wege! Also komm. Wir fassen uns an der Hand. Und nun vorwärts. Mir hilft es auch. Andern hinaufhelfen, das hilft einem selbst hinauf. Und darum hör! Nun kommt das, was ich dich bitten wollte: Du mußt Erika helfen.

Ich?

Du mußt dich für sie verantwortlich fühlen, Werner. Hör, Lieber! Du mußt Erika schützen vor sich und vor dir! Es ist so furchtbar schade um Erika, findest du nicht?

Ja, Drude, das ist sehr wahr!

Werner, wollen wir nicht Freunde sein und zusammen versuchen, Erika zu schützen?

Mein Gott, dem Jungen sprangen ja die Tränen aus den Augen! Er wischte sie mit dem Rücken der Hand ab. Ich habe das nicht verdient, stammelte er.

Nein, lachte Drude beglückt. Verdient hast du Prügel. Das hat schon Hamlet gesagt, weißt du! »Wenn wir alle bekämen, was wir verdienen, wer wäre vor Schlägen sicher?« – Also gut. Wir halten Freundschaft zu Dreien. Komm nur morgen in die Lautenstunde, ja? Da machen wir einen Plan. – Und Drude war draußen. – – –

Mein Gott! sagte Werner.

Er setzte sich und legte die Stirn in die Hand.

Dies ist die Gnade, dachte er. Die Gnade, die den Sünder nicht umkommen läßt.

»Verdient hast du Prügel.« Ja, weiß Gott!

Dies aber ist die Gnade –!


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