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Zweites Kapitel

Wie die Tage, die Wochen flogen! Wie berauscht trank Drude das neue Leben mit allen Seelensinnen in sich und fühlte, wie alles in ihr sich dehnte und löste, und alles stärker und bewußter wurde, und das Leben ihr klarer wurde und reicher und blühender. War das eine Lust! Manchmal staunte sie in sich hinein, wie rasch sie sich veränderte. Nicht einen Tag war sie ganz wie den vorigen.

Mit Friedel, mit Erika und Dora war sie kaum wieder zusammengekommen. Sie sah sie immer nur von weitem, woher das wohl kam? Es schien, daß für persönliche Verhältnisse in dem lebhaft bewegten Treiben des festgeordneten Tages gar kein Platz blieb. Oder lag es daran, daß sie in einer andern Familie waren? Sie waren alle drei bei Frau Hell.

Sie selbst hatte sich bei der lebhaften Schweizerin anfänglich recht wohl gefühlt, weil deren immer gleiche Liebenswürdigkeit staunende Bewunderung in ihr erregte. Das war es ja, was sie bei sich so schmerzlich vermißte. Und sie nahm sich vor, es der Romanin abzulauschen und hier gleichsam auf die hohe Schule der Liebenswürdigkeit zu gehen. Aber mit der Zeit bemerkte sie, daß, wenn sich Konflikte in den Weg stellten, Fräulein Meunier sie nicht löste, sondern über sie hinwegglitt, und das machte Drude unmutig. Denn es erschien ihr unsauber. Und in ihrer Enttäuschung richtete sie nun ihren Zorn gegen die Liebenswürdigkeit selbst. Sie wurde ungeduldig und reizbar, war es um so mehr, je freundlicher die junge Lehrerin, die sie gern hatte, um ihre Zuneigung warb. Sie war traurig, daß sie Unrecht tat. Und konnte sich doch nicht helfen.

Mit den andern Kindern, die in der Familie waren, lebte sie eine laute, lustige Kameradschaft, die sich in selbstgedichteten, neckenden Schnadahüpfeln äußerte, und an der das Herz nicht groß teilnahm.

Die ganze Kraft ihres Innenlebens wendete Drude in diesen ersten Wochen dem Unterricht zu. Von dem war sie hingerissen.

Es gab hier nicht feste Klassen, wie in andern Schulen. Sondern es hieß: Jetzt ist Geschichtskurs; an dem nehmen die und die teil. Und dann hatte man jeden Tag Geschichte, wochenlang. Und daneben nur ein anderes Fach, mehr nebenbei, und einen Wiederholungskurs noch, der das allgemeine Wissen auffrischte. Also nicht am Tage allerlei Fächer gleichwichtig nacheinander; nicht alle Lehrfächer, die es überhaupt gab, nebeneinander über die ganze Woche gleichmäßig verteilt. Sondern diese Wochen hindurch hatte man eben Geschichte. Und man sammelte alle Kräfte auf den Zeitraum, den es zu bearbeiten galt, und man konnte sich nach Herzenslust in ihn hineinvertiefen. Drude fand das wundervoll.

Ja, und dann bekam man eine Aufgabe für sich ganz allein, und die sollte man selbständig lösen. Und da gab es viele, viele herrliche Bücher in der Bibliothek, da durfte man sich aussuchen, was man brauchen zu können glaubte, und durfte sich versenken, und durfte wochenlang arbeiten an der einen Aufgabe. Ach war das schön! Man konnte sich wirklich Hineinlieben: bis alles lebendig wurde und einen vertraut anblickte und anfing zu raunen und zu erzählen, und man Zusammenhänge zu fühlen begann, und einem jeden Tag etwas Neues einfiel. Und dann fingen die andern an und lasen vor, was sie ausgearbeitet hatten. Bei manchen war auch alles so lebendig geworden, – das war so schön. Bei manchen blieb es dumpf und tot, da machte der Lehrer es lebendig. Und schließlich kam sie dran. Sie las nicht vor. Es war ihr immer so schwer, es sehr gut auszuarbeiten, – wenn man es erzählte, fügten sich die Worte viel leichter, und dann fielen einem immer noch die schönsten Dinge ein, während man erzählte. Und so erzählte sie denn, fast zwei Stunden lang. Und sie sah, wie die andern gespannt zuhörten, und wie der Lehrer immer freundlicher und freundlicher wurde, und da wurde sie immer mutiger, und es wurde immer lebendiger, und sie war so glücklich!

Dieser Geschichtslehrer gefiel ihr überhaupt so gut. Er sah aus wie ein sehr großer Junge, hatte auch solche Bewegungen, aber wenn man beim Unterricht an etwas sehr Schönes kam, dann verwandelte sich sein Gesicht und wurde ganz klar und licht, und sah edel und wissend aus. »Ein Menschenantlitz«, sagte Drude dann leise vor sich hin, und dachte: Vater müßte es sehen, der würde ihn lieben. Und dann begriff sie auch: das ist ein Dichter; der lebt aus heimlichen Wundern, – und sie ging manchmal und stellte ihm Blumen hin, ohne daß er wußte, von wem es kam.

Übrigens trugen die Lehrer selten vor, meistens wandten sie alle Kunst daran, die Schüler dazu zu bringen, selber auf die guten Dinge zu kommen. Das war nun sehr schwer. Aber wie war es interessant! Man mußte sehr denken. Und dann durfte jeder das Seine sagen, wie bunt es manchmal wurde! Und manchmal fielen einem so wundervolle Dinge ein, das war dann wie ein Blitz. Gerade durch das, was die andern sagten, wurde es geweckt. Manchmal kam's im Gegensatz dazu, manchmal als Ergänzung; manchmal konnte man noch mehr zur Entfaltung bringen, was die andern sagten, so als wenn es langsam aufblühte; war das schön! Ach ja, mit vielen Kindern zusammenarbeiten, das war eine Luft! Und wie es interessant war, durch die Antworten in die Menschenseelen hineinzublicken! Man kam ganz ab von der Vorstellung: richtig oder falsch. Man staunte über die verschiedenen Arten und freute sich; man liebte das Bunte daran. Man fragte nur nach echt, nach ursprünglich, und so tat auch der Lehrer. Dieser liebe Geschichtslehrer.

Der hatte noch etwas an sich, was Drude über die Maßen gefiel. Er sagte, daß er selbst noch nicht fertig sei. Wenigstens nicht so, daß er glaube, bei seinen Ansichten stehen bleiben zu dürfen. Er verändere seine Ansichten noch sehr, weil er ein Werdender sei. Aber er hoffe, ihnen gerade dadurch helfen zu können. So könnten sie miteinander suchen und werden.

Ach, ach, wie war ihr das lieb! Denn das war es ja, was sie zu Hause manchmal zur Verzweiflung gebracht hatte: sie warm alle so viel weiter als sie, und es war ihr so ungeheuer lockend gewesen, das Hohe, Herrliche zu hören, was sie unter sich sprachen, aber ihr fehlten die Zwischenstufen, und sie wagte nicht zu fragen. Hermann aber (sie sagten alle kurz Hermann, obwohl das sein Vorname war), ihn würde sie fragen können. Sie brauchte dann ja gar nicht derselben Meinung zu sein. Man konnte ja erst recht vorwärtskommen, wenn man dem andern widersprach.

Wie richtig es war für einen heranwachsenden Menschen wie sie, Lehrer zu haben, die selbst Werdende waren! Es schien auch, daß die Schule dies so meinte und mit Bewußtsein bezweckte. Denn Drude bemerkte, daß die Grenzen überhaupt fließend waren zwischen Lehrern und Schülern. Manche junge Lehrerinnen nahmen noch zugleich am Unterricht mit teil.

Die allerschönsten Stunden gab ja Frau Hell, wie sie der schönste Mensch in der Schule war. Sie verstand es besonders gut, aus den Schülern herauszulocken, was sie wollte, ohne daß sie es aussprach. Aber ihre Art war dabei ganz anders. Frau Hell war so reif und so wissend! Das Menschenleben lag unter ihr, still und klar. Und ihre eigene Auffassung war so stark, daß sie die Schüler, wenn sie einen Gedanken suchen ließ, doch immer heimlich zog und schob und lenkte. Man hatte das Gefühl, man müßte zuletzt dahin, wohin sie einen haben wollte, und dort würde etwas ganz Tiefes und Reiches zu finden sein. Aber dann sprach sie es nicht etwa aus. Alle hatten das Ihre gesagt, und das schob sie alles in eine bestimmte Richtung. Und da stand nun vor ihnen, was sie meinte: groß und tief und geheimnisvoll und unausgesprochen – und wirkte auf sie alle ein. Wenn es sich nämlich zum Beispiel darum handelte, das ergreifende Geheimnis in der Seele Macbeths zu erfassen, die seltsame Unfreiheit in seinen Entschließungen, dann ging es auf einmal wie eine Offenbarung übers Herz: daß es ja überhaupt im Menschenleben so sehr viel Unfreiheit gäbe! So daß man unwillkürlich die Hände falten mußte: Ich will frei sein zum Guten! Ich will! Ich will mich nicht binden lassen! Aber Frau Hell sagte das alles nicht: es lag in der ehrfürchtigen Stimme, mit der sie sprach, wie von einem großen, tragischen Geheimnis, es lag in der pathetischen Haltung, so als wenn darin ausgedrückt wäre: Menschenlos! Menschenleid! und darüber Gottes lebendige Güte! Ach, die herrliche, herrliche Frau! Ja, das war Frau Hell.

Und in der ganzen Atmosphäre der Schule war etwas, was Drude sehr neu war und sehr beglückte. Allmählich erst erkannte sie, was es war. Und drückte es so aus: hier sind die Erwachsenen auf Kinderperspektive eingestellt. Das Malerkind hatte von Vater das Wort gehört: aus Kinderperspektive sehen. Vater kauerte sich manchmal zu einem Kindchen hin, um aus seiner Höhe die Welt zu sehen. Da sah sie so anders aus, die Hunde waren so groß und so nah, und die Blumen; und die erwachsenen Menschen so weit und so klein; und die Sträucher und Bäume so ungeheuer. Hier in der Schule stellten sich die Erwachsenen geistig auf Kinderperspektive ein, und nahmen sie ernst und wichtig. Und entwickelten sie langsam hinauf zu der Perspektive der überschauenden Menschen. Das war so ungeheuer fördernd.


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