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Sechstes Kapitel

Werner Lenz hatte sich in den nächsten Tagen sehr zu wundern. Wie wurde ihm nur?

Er stand im Garten und sah die ganze Schar von Knaben und Mädchen an sich vorüberziehen. Das sollten seine Mitschüler sein? die er da barfuß, mit nackten Beinen, in kurzen Hosen und Blusenhemden mit weit offenem Kragen daherkommen sah? O Himmel! Himmel! dachte er, soll ich vielleicht hier auch so herumlaufen? Schauerlich!

Und dabei waren sie so braun und gesund und frisch und so voll freudiger, kühner Kraft im Blick, daß er sich gestehen mußte: Das hat Stil! diese Tracht paßt dazu.

Aber auch die Mädchen! daß sie einfach barfuß gingen! selbst die großen! Daß die sich nicht genierten! Es fiel ihnen gar nicht ein, sich zu genieren. Sie gingen so unbefangen barfuß, wie sie ohne Handschuhe gingen. Er mußte lachen. Ja, Stil hat es freilich, das Ganze.

Er sah an sich hernieder. Er trug einen Anzug, auf dessen modische Eleganz er Wert gelegt hatte. Auf einmal kam er sich ein wenig lächerlich vor. »Herrchen!« sagte er.

Da durchfuhr es ihn: Ja, da liegt's! Die hier sind mit Bewußtsein jung. Ich wollte immer erwachsen sein.

Neben ihm stand ein anderer Neuer, ein schwarzer Krauskopf, der auch erst vor einigen Tagen gekommen war. Dem schien es sehr, sehr ungemütlich. Und er sagte zu Werner halb verzweifelt: »Alles mitmachen. Das ist das einzige. Sonst ist man verloren.«

Werner wandte sich jäh ab. Mitmachen? um nicht verloren zu sein? Noch lange nicht.

Nein, er mußte sich das erst einmal ordentlich überlegen. Wenn er sich auch so trug, dann mußte es sein, weil es ihm entsprach.

Weil er eine innere Entscheidung gefällt hatte. Die sehr fordernd war. Die von ihm fordern würde – was denn? was? Sich nie nach der Konvention des Weltlebens zu richten.

Herrgott, ja! Das mußte er sich erst überlegen. – Nein, nein, so einfach mitmachen und sich nichts dabei denken? – Wahrhaftiger Ausdruck des inneren Lebens mußte es sein. Eines Wesens, das unbekümmert aus sich selber lebte.

Und ob ich das kann – und ob ich das nur will –

Vorläufig erst einmal abwarten.

So trug er weiter seine Schneideranzüge. Und die andern ließen ihn. Es suchte ihn niemand zu beeinflussen. Sie schienen gar nicht darauf zu achten, was er anhatte. Sie waren alle viel zu sehr mit dem Wesentlichen beschäftigt, das es zu tun gab.

Werner stand in seinem Zimmer und sah sich um. Er war sehr freudig überrascht davon, daß er nicht, wie er erwartet hatte, mit vielen andern in einem großen öden Saal schlafen mußte, sondern zum Arbeiten und Wohnen und Schlafen ein Zimmer nur mit einem Kameraden teilte. Er hörte, daß man mit der Zeit sogar so weit kommen könnte, ein Zimmer für sich allein zu haben. Man wurde also wirklich ein bißchen als Mensch behandelt.

Aber wie erstaunte ihn die Ausstattung des Zimmers! welch eine Sorgfalt und welch ein Geschmack in Formen und Farben und Raumgliederung! Trotz der Einfachheit! Er lächelte. Ach, was für eine andere Welt als zu Hause! wieder dieser selbstsichere Stil der freudigen Schönheit in Einfachheit! und wie fordernd –

Was forderte es nur? Nun ja: Echtheit! Schlichtheit! Wesentlichkeit! Ach, wie gut.

Es war alles durchdacht und durchfühlt, nichts war ohne Sinn, nichts war bloß nachgemacht. Wenn man in diesem Zimmer wohnte und arbeitete – Herrgott, man würde jeden Gedanken nachprüfen müssen, ob er auch davor bestand. Er lachte, halb ärgerlich und doch beglückt. Er fühlte sich unter einem Zwang und gab sich ihm doch gern hin.

Ob ich mich wirklich entscheiden könnte, so leben zu wollen? Ich weiß es noch nicht. Zuletzt würde es womöglich zu mir sagen: Verkaufe alles, was du hast und gib es den Armen. – Und er hatte viele Güter.

Aber vielleicht ist das alles Unsinn, dachte er. Ich bin jetzt so überwach von den Erregungen zu Hause und von den vielen neuen Eindrücken hier. Mit der Zeit wird sich das alles zudecken; alles wird ganz behaglich sein und nicht mehr fordern, als daß man sich verständig hindurchwindet und zuletzt das Einjährigenexamen macht.

Er fand aber zu seinem Staunen, daß er dringend wünschte, es möchte so fordernd bleiben. Ach, nein! nur nicht in das platte Behagen wieder zurücksinken.

Ein Gongzeichen ertönte. Lustig wimmelte alles hinüber in den Eßsaal, bunt und freudig angeregt. Jetzt bin ich doch neugierig, dachte Werner, wie diese Herren Lehrer, die da behaupten, die Kameraden ihrer Schüler zu sein, in dem Gewimmel Ordnung halten werden. Das wird doch wohl ohne Unteroffizierston nicht abgehen.

Nach dem Anfang, der für Werner so überwältigend gewesen war, hatte sein Herz den leidenschaftlichen Wunsch, alles echt zu finden. Dabei spürte er in sich eine grausame Wahrhaftigkeit wachsam, welche angstvoll acht gab, ob er nun nicht doch die Beweise finden würde, daß der Ausspruch: wir Lehrer sind die Kameraden unsrer Schüler, nur eine freundliche Phrase war. Denn es kann ja doch nicht sein! Wie sollen sie sonst Disziplin halten? Zur Disziplin gehört Macht, die von oben herunter befiehlt.

Er sah ja, daß sie recht gute Disziplin hier hatten, wie sie alle, die Knaben und Mädchen, zu Tische liefen, bei all ihrer frischen Fröhlichkeit war eine heimliche Zucht unter ihnen.

Als er in den Eßsaal trat, sah er, daß noch gar keine Lehrer da waren, nur die Schüler waren alle schon versammelt. Lebhaft unterhielten sie sich, es war ein fröhliches Rauschen von Stimmen, und das schwoll und schwoll. Auf einmal klingelte es. Lautlose Stille! Was bedeutet das? fragte Werner leise seinen Nachbar.

Es war zu laut, sagte der. Sieh mal, nun fangen sie alle wieder an zu reden. Aber es ist eine neue Grundlage hergestellt. Eine Weile geht es viel besser, wenn sie wieder anfangen, einander zu überschreien, wird wieder geklingelt.

Ach! aber wer hat es denn getan?

Geklingelt? Na, der das Amt hat! Der Saalordner.

Was? Die Schüler halten selbst Disziplin? fragte Werner erstaunt.

Natürlich! sagte der andere mit Überzeugung. Das werden doch nicht die Lehrer tun! Die Lehrer unterrichten.

Donnerwetter! Das imponiert mir, sagte Werner. Sie lassen eben die Schüler selbst Disziplin halten.

Wir sind doch eine demokratische Gemeinschaft, sagte der andere.

Was? fragte Werner mit offenem Munde.

Na ja, das ist doch der eigentliche Sinn all dieser Reformschulen. Alle Gesetze gibt die Schulgemeinde. Und da haben alle gleiche Stimmen, die Lehrer und die Schüler.

Was ist das: Schulgemeinde?

Die Gesamtheit der Lehrer und Schüler. Mittwoch nachmittag kommen wir zusammen. Und wir beraten die Gesetze. Alle sind stimmfähig; alle Stimmen gelten gleich. Ein sonniges Lächeln ging über des Jungen Gesicht. Es ist schon ein Unterschied, ob Friedel etwas richtig findet oder Julius. Die Stimmen werden eben gewichtig durch das Gewicht der Persönlichkeit.

Wer ist Friedel, und wer ist Julius?

Na, Friedel bin ich, und Julius ist doch Herr Gehrke.

Werner staunte. Sie legen einfach die Verantwortung in die Schüler selbst! Jetzt begriff er auch etwas, was ihm viel zu denken gegeben hatte: es war ihm, wenn er den Gesprächen der Schüler zuhörte, aufgefallen, daß der Ton unter ihnen so ganz anders war als unter den Schülern der Anstalt, die er kannte. Etwas, was dort als das ganz Selbstverständliche galt und dem Schülerleben die eigentliche Würze gegeben hatte, schien hier ganz zu fehlen: die Stimmung der Gegensätzlichkeit gegen die Lehrer. Sie schienen sich hier alle auf derselben Seite zu fühlen mit den Lehrern. Und er hatte gedacht: Wie ist das möglich? Wie lange kann das vorhalten? Und – wie kann das reizvoll sein?

Wenn ich mir das vorher hätte vorstellen sollen, mir wäre es als das Langweiligste erschienen, das es gibt. Aber sie sind alle freudig angeregt. Wovon denn nur?

Nun begriff er's. Sie fühlen sich alle verantwortlich! Das ist's! Sie schaffen gemeinsam an der Verwirklichung einer Idee! Davon sind sie so freudig angeregt. Der starke Gesamtgeist trägt sie, und der ist schon an sich etwas so Anregendes, Kraftgebendes. Besonders für die, die sich ihm bewußt hingeben.

– Als Werner dann allmählich die neue Art des Unterrichts kennenlernte, die ein so ruhevolles Vertiefen in den Stoff ermöglichte, sah er mit Schrecken zurück auf den Unterricht im Gymnasium, mit seiner Überfülle des Stoffes. Als wäre das Ziel, so grollte er, den jungen Menschen von jeder Sammlung und Vertiefung, von jedem selbständigen Eindringen fern zu halten! Ja, das war die alte Welt. Äußerlich, gedankenlos, materialistisch. Es war ihm nie bewußt gewesen, jetzt aber erfüllte es ihn mit Zorn. Er dachte an einen Lehrer, der versucht hatte, Vertiefung hineinzubringen und sie zu selbständigem Denken anzuhalten. Ein stiller, feiner Mensch war er, der manchmal so schöne, tiefe Gedanken aussprach und dann ganz auflebte. Aber man hatte nie darauf acht gegeben, und Disziplin halten konnte er auch nicht. Sie hatten immer nur daran gedacht, wie sie ihm einen Schabernack spielen konnten. Werner schämte sich jetzt. Er war immer der Führer gewesen. Ach Gott, wieviel hatte er ihn geärgert! Was für eine Grausamkeit in solchen dummen Jungen stecken kann, dachte er. Aber weil eben das System dumm und grausam ist. Ach, wenn ich den jetzt hier hätte, wie würde ich jetzt aufpassen, wenn er seine feinen Gedanken sagt! Was für ein Verhältnis würde das werden! – Und so waren die ersten Früchte, die der neue Geist in Werner hervorbrachte, zwei Briefe, die er in seine Vaterstadt schrieb. Der erste war an die alten Mitschüler: Jungens! Ich bin hier in einer ganz andern Welt, und da lernt man alles anders ansehn. Denkt mal: hier sind die Schüler auf derselben Seite wie die Lehrer, und was dabei herauskommt, ist fein. Und ich muß euch sagen: Das ist überhaupt etwas ganz Rohes, der Betrieb in so einer Schule alten Stils, und die guten Lehrer leiden sehr darunter. Die feinen am meisten, am meisten also Doktor Hildebrand. Jungens, nun ärgert ihn wenigstens nicht noch, das ist grausam und ungerecht, Ihr müßt mit ihm fühlen! Ihr müßt mit ihm auf derselben Seite sein! Das müßt Ihr tun, Jungens, Ihr müßt ihn vor Eurer eigenen Roheit schützen, die immerzu an dumme Streiche denkt, vor der Roheit des Betriebs könnt Ihr ihn ja nicht schützen, wir müssen warten, bis wir erwachsen sind und mitzubestimmen haben in der Welt, dann müssen wir sehen, daß das alles anders wird irgendwie. Einfacher und echter. Lebt wohl, Jungens. Werner Lenz.

Der andere Brief war an Doktor Hildebrand und lautete: Lieber Herr Doktor! Das war ganz infam, daß ich Sie immer so geärgert habe, ich schäme mich sehr und wollte, ich könnte es gut machen. Hier bin ich nämlich in einer Schule, da sind die Schüler immer auf derselben Seite wie die Lehrer und nicht wie bei uns immer im Kriegszustand mit ihnen. Das kommt davon, die Schüler sorgen für ihre Disziplin selbst und fühlen sich überhaupt ganz voller Verantwortung gegenüber der Schule, das ist so fein. Und die Lehrer nennen sich die Kameraden der Schüler und haben Zeit, alle ihre guten Gedanken in sie hineinzuleben. Nun begreife ich erst, daß das auch das Richtige ist und wie dumm und roh es ist, wenn Schüler immer nur an Schabernack gegen die Lehrer denken, aber es liegt an dem rohen Betrieb, hier ist eben alles ganz anders. Lieber Herr Doktor, Sie haben so viele feine, vornehme Dinge gesagt, und wir haben nie recht darauf geachtet. Ich wollte, Sie wären hier, wie würde ich jetzt aufpassen und mitarbeiten. Lieber Herr Doktor, was würde das für ein Verhältnis werden. Ich schreibe Ihnen dies, damit Sie sehen, daß doch nicht alles verloren war, sondern daß wir Jungen im Grunde doch fühlen, wie viel Sie geben. Ich bin Ihnen dankbar. Werner Lenz.

 

Werner war recht gespannt auf die Religionsstunden, die er hier bekommen würde. Bisher waren ihm die Religionsstunden der Inbegriff von Langerweile gewesen. Hier, wo alles auf innere Lebendigkeit eingestellt war, was würden sie hier für Religionsstunden geben?

Zunächst bekam er gar keine, denn es war eben gerade jetzt kein Religionskurs. Dagegen geschah es, daß jeden Tag im Eßsaal in dem Augenblick, wo Herr Gehrke eintrat, eine feierliche Stille entstand, und daß er, an seinen Platz getreten, einen schönen Dichterspruch vorlas, das war wie ein Tagessegen. Und dann gab es im Eßsaal auch einen Eckplatz, von dem aus gewöhnlich durch den Schüler, der das Amt dazu hatte, die Tagesansagen gemacht wurden über den äußeren Gang der Dinge. An der Ecke aber erschien abends einer der andern Schüler und verkündete mit lauter, feierlicher Stimme einen schönen, starken, fordernden Dichterspruch, den er gefunden, und der ihm ins Herz gedrungen war, so daß es davon überströmte. Dann freuten sich die andern mit. Das gab ein liebes Bild innerer Gemeinschaft, gemeinsamen Strebens nach dem Guten. Das war wie ein täglich Brot geistigen Lebens.

Aber das hatte alles keine religiöse Färbung. Oder doch? War das etwa gewollt? Vermied man die alten religiösen Formen, Vorstellungen und Ausdrucksweisen mit Absicht, weil sie abgenutzt waren? und daher nicht mehr wirksam genug? Manchmal erschien ein Bibelspruch mitten unter den Dichtersprüchen.

 

Die Tage gingen dahin, Werner lebte sich ein.

Eines Abends aber geschah etwas Merkwürdiges. Werner ging zu der Bank in den Gebüschen, an der er den ersten Tag gewesen. Er wollte sich zurückrufen, was er damals hier gefühlt. Halb hatte er die Hoffnung, Drude wieder einmal hier zu begegnen. Er wußte nun, daß sie Drude hieß und daß jedermann in der Schule sie besonders wichtig nahm, und sah, daß einige von den Kameraden ihr sehr den Hof machten, und daß sie das gar nicht zu bemerken schien, – und er hütete sich, dieselbe Rolle zu spielen. Aber er dachte viel an sie, still und freudig. Wiewohl er sie immer nur von weitem sah.

Als er sich schon zum Gehen wandte, kam jemand. Er horchte auf. Drude? Nein, es war eine andere. Er kannte sie von ferne und wußte, daß sie Erika hieß.

Sie blieb stehen und sah ihn an.

Und er erschrak fast, was für ein schönes Mädchen! dachte er. Und er konnte die Augen nicht abwenden. Und wie seltsam! Sie sagte nichts. Sie stand und sah ihn an. Blühen und Kraft, dachte er, welch eine Kraft! – Was sieht sie mich denn so an? Was will sie denn? – Ihm war, als wenn es ihn umspann – mit einem Ruck wandte er sich und ging. Ihm klopfte das Herz, und er war zornig: Dies Mädchen gehört doch gar nicht hierher! Und er erschrak wieder, als er sich ihr Bild zurückrief. Herrgott, was ist sie schön! Aber schön, nein, das ist es ja nicht, was ich meine, wie kann sie mich so ansehen! Und Herr Gehrke läßt zu, daß solch ein Wesen hier ist? Das ist meine erste Enttäuschung hier. Und er schämte sich, – denn er fühlte, daß er eigentlich gar nicht enttäuscht war. Aber nein! aber nein! sie gefiel ihm ja so ungeheuer gut! Welch eine atemberaubende, blühende Schönheit. Ach, nein, es war keine Enttäuschung, es war – Angst.

Als er gegangen war, setzte Erika sich auf die Bank und staunte. Den bekomme ich auch, dachte sie. Woher kommt das nur, daß ich alle großen Jungen gleich gewinne, ob ich will oder nicht? Hier wollte ich. Aber wenn ich gar nichts danach frage, kommt es auch. Bei meiner Schwester ist es ebenso: So lange wir denken können, sind alle, die wir gern haben, gleich unsere Verehrer geworden. Na und dann? Sie hat sich den Reichsten genommen; hat viel zu früh geheiratet, und ihr Leben ist jetzt recht reizlos. Lauter Vergnügungen, die kein Vergnügen mehr machen zuletzt. Und sie hat weiter Verehrer, einen nach dem andern. Und wozu? Sie schüttelte staunend den Kopf.

Was ist das nur, wenn ich einen von den großen Jungen ansehe, daß es über mich kommt wie eine fremde Macht, von der ich mich beherrschen lasse? Sie lenkt mir meine Bewegungen, sie gibt mir meine Haltung, sie geht in meine Sprache, sie dringt mir aus den Augen, – ich genieße sie und fürchte mich – und die Jungen fürchten sich auch und verlieben sich.

Sie lachte ein bißchen und seufzte. Eigentlich möchte ich ganz etwas anderes. Aber ich kann nicht hinein – Drude ist darin. Aber ich kann nicht hinein. Ach, Drude, Drudelein! Wie habe ich Sehnsucht nach dir. – Aber sie wird mich immer ablehnen. Dies, wovor ich mich fürchte und dem ich gehorche, es ist ihr ganz fremd. Sie ist so sicher in sich, weil sie eine ganze Welt hat, in der sie ruht. Ach Drudelein! wie könntest du mir helfen, wenn du nicht an mir vorübergingest!

 

Werner aber, als er erregt, aufgewühlt und in sich verloren auf der Terrasse des Gartens unter einem der Häuser vorüberging, hörte durch eines der geöffneten Fenster, daß droben eine warme, klare Frauenstimme zu jemand im Zimmer mit starkem Tone sagte: Nur unbeirrt vorwärts! Nur nicht verzagen, Kind! Wenn du in der Kraft bleibst, dann bleibt die Kraft in dir und treibt die Unkraft aus.

Werner horchte auf: die Kraft? – Was der Frau wohl die Kraft sein mag?! –

Gott! natürlich! Gott ist die Kraft.

Wer wohnt da oben? fragte er ein kleines Mädchen.

Frau Hell, sagte sie.

Ja natürlich, Frau Hell! dachte er. Der sieht man's, an, daß sie immer in der Kraft ist. In seiner Seele wallte es freudig und sehnsüchtig.

 

An einem der nächsten Tage traf er Herrn Gehrke. Nun, wie geht's, Werner? fragte der. Gut, Herr Gehrke! Werner, fuhr jener fort, jetzt kennen Sie schon alle Lehrer und überschauen die Verschiedenheit der Persönlichkeiten. Fühlen Sie wohl zu einem unter ihnen ein besonderes Vertrauen? Wenn Sie sich jetzt aussuchen dürften, welcher Familie Sie angehören wollten, wie würden Sie wählen?

Dann möchte ich wohl zu Frau Hell!

Herr Gehrke lächelte. Das ist mir eine große Freude, Werner. Frau Hell ist nämlich diejenige in unserer Anstalt, die die reichste Wirklichkeit hat. Und als Werner stand und ihn fragend ansah, fuhr er fort: Wir Menschen leben ja in verschiedenen Höhenlagen. Ein jeder hat eine etwas andere Wirklichkeit. Frau Hell ist in dieser kleinen Welt diejenige, die auf der höchsten Linie lebt. Ihre Wirklichkeit ist die erhabenste und reichste. Und er nickte Werner freundlich zu. Ich will mit Frau Hell sprechen. Ich glaube, es wird sich machen lassen.

Ach Gott, wie schön ist das Leben! dachte Werner. – wie rein lag über den Bergen der Glanz der blauen Frühlingsluft! O Menschenleben!

 

Als Werner bei Frau Hell einzog und das erste Mal mit den neuen Familienmitgliedern zusammen war, sah er, daß Drude zu ihnen gehörte. Da war er sehr froh. Aber als er sich wandte, begegnete er einem Blick, daß er erschrak. Erika! Erika war auch bei Frau Hell!

Da begriff er, daß er sich an den Versuchungen seines Inneren nicht würde vorbeidrücken können, indem er sie sich allmählich abgewöhnte, sondern daß er sie würde durchkämpfen müssen.

»Wenn du in der Kraft bleibst –«

Ach, ob die wunderbare Frau einen auch lehren können wird, wie man in die Kraft kommt? Er war doch noch gar nicht darin!


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