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Siebentes Kapitel

An einem schönen Frühlingsabend war's, da hieß es: Heut tanzen wir!

Das werden die schönen mittelalterlichen Volkstänze sein, dachte Drude. Und ein Bild aus der Vergangenheit stieg vor ihr auf: Ein schöner Sommertag im Kiefernwalde daheim, hinterm Hause in der schönen Birkenallee; Wandervogelführer, Mädchen und Jünglinge in edelfarbigen einfachen Kleidern, tanzten mit froher Hingegebenheit und künstlerischer Vollendung alte volkstümliche Reigentänze. Sie waren hinausgekommen aus der Stadt, um ihren Vater, den Maler, den verehrten Meister, mit dieser Darbringung zu erfreuen. Und ach, was für ein Fest war es geworden! Und dann hatte sie selber von ihnen diese Tänze gelernt. Und später, als Mutter und Tante Gertrud mit den Kindern an der See waren, weit im Ostpreußenland, dort auf der wunderbaren Kurischen Nehrung, da hatte sie, Drude, die Dorfkinder die alten Tänze gelehrt, ganz voll ehrfürchtiger Freude, sie dem Volke wiederzubringen. Und wie war das rührend gewesen, wenn die Dorfkinderchen erst so tapsig und unbeholfen waren und dann sich doch so bemühten und es immer besser machten – Drude dachte noch mit Rührung daran, wie ihre Mutter sich dabei ein wenig mit der reizenden jungen Lehrerin aus der Stadt verkracht hatte. Die stand daneben und sprach ganz laut und störend über irgend etwas mit einer andern Dame – und Mutti, die mit ihrem andächtigen, gesammelten Zuschauen so wunderschön zu helfen wußte, ging hin und bat sie, sie möchten ein wenig weiter gehen, oder, wenn sie bleiben wollten, stille sein und andächtig, es wäre doch Kunst. Ach, das erstaunte Gesicht, das die nette junge Lehrerin machte! Aber es wäre doch nur Spiel! Nein, es ist Kunst, hatte Mutti erwidert, wir müssen andächtig sein oder weggehen. – Ob sie hier wohl andächtig sein werden?

Sie tanzten auf einer freien Terrasse, von der man einen weiten, weiten Ausblick hatte; es war im Abendlicht, und die Wälder wurden so lebendig, und die Rheinebene blinkte herauf –

Ach, Deutschland! Deutschland!

»Wir wollen es auch so gut machen, wie wir können!« hörte Drude sich auf einmal sagen. Und sie ermahnte sich heimlich: nun nimm dich nur in acht, Drude, daß du nicht gleich wieder kritisch wirst. – Sie machten es nämlich nicht sehr gut! Ach, ohne Andacht! Die schönen Bewegungen und Figuren, bei denen man verweilend sich freuen will, gingen ja viel zu schnell vorüber, so ganz achtlos, niemand merkte, wie schön sie eigentlich waren. »Aber es ist ja selbstverständlich, daß sie es nicht so gut machen können, wie ich gewöhnt bin, es zu sehen,« sagte sich Drude. Und sie nahm sich vor, nicht zu kritisieren und zu nörgeln, sondern ein Kind zu sein und sich zu freuen.

Aber wenn sie gerufen wurde, um in der Mitte des Kreises den Vortanz zu machen, so gab sie sich Mühe, daß es so schön wurde, wie nur möglich. Sie sollen sehen, wie es gemacht werden muß, dachte sie. Sie wissen ja gar nicht, daß das alles kleine Kunstwirkungen sind, die wie Perlen da sein wollen, rund und blank und schön, – und nicht zerdrückt und zerknittert. Und sie freute sich, daß sie so oft gerufen wurde. Sie dachte: Sie merken, wie gut ich es kann und wollen es auch lernen. Und sie selber rief immer die, die es am besten machten. Am schönsten machte es Werner. Was für ein feiner Junge, dachte sie wieder. Der, ja der begreift, daß es Kunst ist. Der macht es mit Liebe und Freude.

Aber mit der Zeit bemerkte Drude etwas, das war ihr ganz schrecklich. Es riefen sich immer dieselben, und die andern kamen nie heran. Und diese selben, was war denn nur unter ihnen? Was war nur in Erikas wunderschönem Gesicht und in ihren Augen, wenn sie die großen Jungen ansah? Die gaben den Blick wieder, besonders Werner. Er geriet immer mehr hinein. Es war ja eigentlich sehr schön. Was für schöne junge Menschen! Aber es war doch ganz entsetzlich unangenehm. Auf einmal fand sie es so häßlich. Es schüttelte sie.

Sie selber holte von nun an nur noch die Kleinen.

Aber langsam stieg ein Unmut in ihr auf. Denn sie mußte sich gestehen, daß das Tanzen nicht besser wurde mit der Zeit, sondern immer schlechter. Immer schludriger machten sie die schönen Figuren, die entzückendsten Dinge gingen vorbei, ohne daß ein Mensch sie genoß und nur im entferntesten ahnte, wie sie gemeint waren. Was für ein Unrecht, sagte sich Drude, was für ein Unrecht gegen die schönen Tänze! Was ist Kunst für eine Verantwortung! Sag nur nichts, sonst schimpfst du ganz fürchterlich – und da hatte sie plötzlich auch schon aufgehört: der ganze Kreis mußte stehen bleiben, der Tanz stockte. Und sie hörte sich sagen: Nein, das geht nicht, Kinder, das ist unmöglich.

Was? fragten sie erstaunt.

Warum macht ihr es bloß so furchtbar schlecht? Es ist ja gar nicht zu sagen, wie schlecht ihr es macht!

Sie standen und rissen die Mäuler auf.

Ich habe es nie für möglich gehalten, daß Menschen solche holden Reigen so fühllos tanzen können, so achtlos, so ungetreu – so – Merkt ihr denn gar nicht, was für ein Unrecht das ist?

Sie umdrängten sie, um besser zu hören. Unrecht? fragte einer erstaunt.

Alle schlechte Kunst ist Unrecht, fuhr ihn Drude zornig an.

Kunst? fragte ein anderer in unbegreifendem Staunen.

Na ja, ihr denkt wohl, es sind Gesellschaftsspiele? fragte Drude, nun schon halb versöhnt, – schon lachend, bereit, zu erklären und zu belehren.

Wir denken, es ist ein Poussierklub! hörte sie auf einmal ein großes Mädchen mit höhnischem Ton sagen.

Pfui! rief Drude, wie häßlich! Sie wurde blutrot, und Tränen kamen ihr in die Augen.

Es ist doch aber wahr! sagte jene. Rufen sich nicht immer dieselben? Die andern nehmen doch überhaupt nicht teil?

Ja, das ist wahr, sagte Drude, wenn ich nicht die Kleinen gerufen hätte, wären die überhaupt nicht dran gekommen.

Und manche Großen auch nicht, sagte die Stimme wieder, und da besann sich Drude, daß dies Mädchen wirklich nicht einmal in den Kreis gekommen war. Dich haben deine Anbeter doch auch immerzu gerufen, sagte jene. Sie sagte es in einem Ton, als wenn es Drudes persönliche Schuld wäre. Da trat Friedel heran und nahm das Mädchen beim Arm. Laß die Drude in Ruh, sagte er, die merkt gar nicht, wenn sie einen Anbeter hat, sie merkt es gar nicht. Die andern lachten, und einige der großen Jungen wurden rot.

Es ist eine Affenschande, sagte Drude, und sie empörte sich und wurde ganz heftig: Mein Gott, wenn ich zu Hause hörte: Gemeinsame Erziehung von Knaben und Mädchen, und was das für eine wichtige Sache ist, die einzuführen und auszuprobieren, und wie verantwortungsvoll, und nun bin ich mitten drin und muß hören: poussieren und den Hof machen und Anbeter, als wären wir schlecht erzogene Jungen und Mädchen aus der Stadt, – wo ist da nun der Sinn der gemeinsamen Erziehung?

Da begegnete sie einem Blick –! das war Werner. Ach, was für ein Blick, dachte sie. Du lieber, feiner Junge! Und dabei hast du es doch selber so falsch gemacht! Und sie schalt weiter, sie war auch schon so im Zug, es war gar kein Halten: Ich aber bin das nicht gewöhnt. Und ich will mich auch nicht daran gewöhnen. Anbeter, das verbitte ich mir. Ich bin ein Kind. Vielleicht finde ich einmal Freundschaft. Sonst will ich allein sein. Ich will nicht mit euch mitmachen. Mir ist das nicht gut genug. Und dann lief sie davon.

 

Sie lief durch den Garten. Unter den Büschen, wo sie nicht gesehen werden konnte, lief sie hin und her, und fuchste sich! und fuchste sich! Und das war nun nicht zu unterscheiden, ob sie nun eigentlich mehr auf sich böse sein mußte oder mehr auf die andern. Natürlich durfte sie nicht so schimpfen! Natürlich nicht! Wie durfte sie nur zu ihnen allen in dem Tone reden! Das war natürlich ganz anmaßend. Als ob sie etwas Besseres wäre! Und sie war auch etwas Besseres, und das war eben das Schlimme! Sie war so enttäuscht! so enttäuscht! Das war das Schlimme! Und sie lief und lief.

Nein, sie wollte auch nicht darunter sein. Und wenn das wahr war, so sollten sie es auch hören. Und sie lief und kämpfte mit ihren Tränen. Daß sie so enttäuscht sein würde von der lieben Waldschule! so enttäuscht! »Wir haben nicht enttäuscht zu sein, wir haben es zu schaffen.« Na und wie denn nun? Was ist da zu schaffen? Wo gibt's dazu einen Weg?

Auf einmal sah sie Herrn Gehrke kommen. Ach, ach, dachte Drude, und womöglich hat der es gehört. Es war ja vor seinem Hause, und die Fenster waren offen, und ich habe ja so furchtbar geschrien. Wenn Tante Gertrud so wurde, dann dachte ich: wie ein feuerspeiender Berg. Na ja, nun hab ich selbst so gemacht. Jetzt will ich mich bloß verstecken, daß Herr Gehrke mich nicht sieht.

Aber Herr Gehrke kam gerade auf sie zu. Ich suchte Sie, meine liebe Drude, ich wollte Ihnen danken.

Danken? wofür? Sie starrte ihn fassungslos an.

Daß Sie mir so gut helfen.

Ich habe doch nur geschimpft, sagte sie beschämt und hilflos.

Da leuchtete wieder der goldene Blick.

Es gibt viel wichtige Dinge in dieser kleinen Welt, – und es sind gerade die allerkostbarsten und wichtigsten, – die können wir Erwachsenen allein nicht schaffen. Wir sind da auf die Mitarbeit der Jungen angewiesen. Wir können nicht mehr tun als die, die die Fähigkeit und den Willen zu solcher Mitarbeit haben, an uns heranzuziehen, um durch sie auf die andern zu wirken. Nun bin ich erfreut, zu sehen, wie sehr Sie mir helfen werden.

Ach Gott, wie war Drude glücklich! Wie klopfte ihr das Herz! Nur leider überschätzte er sie ja.

Ja, aber der Weg? sagte sie zaghaft. Ich sehe doch keinen!

Die niedrige Linie mit Zorn ablehnen! Die höhere bewußt erstreben! Das ist wohl der Weg, Drude.

Drude staunte. Aber nun weiter? sagte sie.

Sie werden auch schon weiter finden.

Vor allem will ich versuchen, fing sie an, – und war doch zaghaft, daß sie so als die Lehrende auftreten sollte, den andern gegenüber.

Nun? fragte er freundlich.

Vor allem will ich versuchen, sie zu lehren, daß diese Tänze Kunst sind. Kunst wollen, das macht so sachlich. Das befreit so von sich selbst. Sachlich, sie lachte ein wenig verlegen, ich denke, so würde mein Vater sagen.

Wie schön ist das, Drude, daß Sie von dem Reichtum, den Ihr Vaterhaus Ihnen gegeben, weiter geben können an diese kleine Welt. Wie schön ist das!

Drude wurde rot vor Freude. Ja, sagte sie eifrig, wenn sie lernten, diese Tänze mit Treue tanzen! Mit Liebe, mit Hingebung. Vater sagt –

Nun?

Vater sagt: Kunst entsteht, wenn man eine Sache so anfängt, als ob das Heil der ganzen Welt davon abhinge, daß gerade diese Sache gut wird. Dann wird Kunst. Sonst ist's Dilettantismus. – Und Dilettantismus darf nicht sein. Untreue Kunst ist Sünde, sagt Vater.

Herr Gehrke nickte lächelnd. Ja, immer ist es nur die Liebe, von der die Dinge auf Erden gedeihen können; und je höhere Dinge, desto nötiger die Liebe.

Drude sagte: Ja und da sind einige unter den Kindern, unter den großen und auch unter den kleinen, die könnten das gut verstehen. Die muß ich mir aussuchen. Einen Bund müssen wir schließen. Wir müssen es ganz wie eine heilige Pflicht ausfassen und müssen die Tänze miteinander einüben so schön wie möglich. Und dann lehren wir es die andern. Das kommt dann von selbst. Und der rechte Ton untereinander: das kommt dann auch ganz von selbst.

Ja, sagte Herr Gehrke, es müssen sich nur einige mit der Idee davon durchdringen, und die müssen den Geist halten. Es ist das heimliche Wissen der Wenigen, das die Welt lenkt. Drude sah erfreut auf: Das sagen sie zu Hause auch immer. Herr Gehrke lächelte: Das dachte ich mir wohl. Also willst du es versuchen?

Ach Gott, daß er nun auf einmal du zu ihr sagte! Drude sah zu ihm auf, ganz voll Dank und zarter Hingabe, und da sagte doch dies Wesen mit den goldenen Augen: Willst du auch du zu mir sagen? meine junge Mitarbeiterin! Ja? Es ist eine heimliche Bruderschaft!

O Gott, wie es Drude wurde! Die Augen voll Tränen sah sie ihn an und konnte nicht antworten. Sie nickte nur.

Und nun war er gegangen. Und sie stand. Lange.

Herrgott, dachte Drude dann, welche Verantwortung! Und ich Kindskopf!

Wenn sie so die Büsche ansah, unter denen sie eben auf und ab gelaufen war, mit so krausen durcheinanderrennenden Gefühlen, und jetzt – Ich Kindskopf! sagte sie noch einmal. Aber sie war voll Freude. Voll Hoffnung und voll Mut. Es wird schon gehn.

Und auf einmal schüttelte sie den Kopf, wie zu Frau Hell hin. Dumme Streiche? Nein! dazu habe ich nun nicht mehr Zeit.

Ach Gott, das Leben!


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