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Zehntes Kapitel

Drude und Marianne waren sich nun doch nähergetreten in jenen Tagen, in denen sie allein in der Waldschule geblieben waren, und eines Tages holte Marianne Drude zu einem Spaziergange ab. Sie gingen auf den Lindenstein, von dem man einen weiten herrlichen Ausblick hatte, und sie erzählten einander von tiefen, schönen Dingen und verstanden sich so gut und hatten daran ihre Freude. Da fing Drude auf einmal an, Marianne zu sagen, wie sehr sie sie bewundere, weil es ihr so leicht werde, liebevoll zu sein. Ihr werde es doch so schwer. »Manchmal muß ich mich auch ein bißchen ärgern, Marianne, daß du gar so ungeheuer vollkommen bist,« sagte sie dann, halb scherzend, halb ernsthaft. »Aber Drude,« antwortete Marianne indessen ganz liebevoll, »da ist doch ein Gedankenfehler. Du darfst doch nicht einfach vollkommen nennen, so wie ich bin, wenn du dich daran ärgern kannst. Du bist kein Mensch, Drude, der sich an Vollkommenheit ärgert, – das ist wirklich eine ganz andere Menschenart. Wenn du dich über mich ärgern mußt, dann wird da wohl etwas Unvollkommenes sein!«

Siehst du, sagte Drude, nun kommt schon wieder die schreckliche Bescheidenheit! Schimpf doch ein bißchen: Drude, du bist neidisch!

Aber nein, du! Marianne lachte herzlich. Ich glaub's ja nicht, daß du neidisch bist, Drude. Wenn du dich über meine Vollkommenheit, wie du sagst, ärgerst, so wird das den Grund haben –

Nun?

Daß es ein einseitiges Vorgeschrittensein ist! bei dem mir etwas fehlt, was du besitzest und als dein gutes Recht empfindest und nicht hingeben willst und darfst.

Und das wäre? fragte Drude gespannt.

Kritik! Unterscheidungsgabe! Wie kannst du die Menschen unterscheiden! Ich bin nur immer so liebevoll, wie ich irgend kann zu allen, weil mich das so beglückt. Aber unterscheiden kann ich sie gar nicht.

Du bist gut zu ihnen, weil dich das so beglückt?

Ja. Und siehst du, jetzt setzt deine Kritik ein und sagt dir, daß das eigentlich Selbstsucht ist! Nicht wahr?

Drude errötete. Ich denke so: In dem Fall, daß es für den andern schädlich wäre, mit Freundlichkeit behandelt zu werden, denn so wie er jetzt ist, brauchte er Strenge, ja Kälte und Ablehnung – und man wäre doch freundlich, nur weil es einem angenehmer ist, freundlich zu sein – da wäre es Selbstsucht.

Ja, sagte Marianne, und siehst du, ich glaube – das würde ich gar nicht unterscheiden können. Ich würde immer nur liebend sein wollen.

Sie waren eine ganze Weile still.

Mutter sagte einmal, fing Marianne an, daß es zwei Dinge gibt, die ausgebildet werden müssen. Das eine ist: Liebeskraft. Und das andere: Weisheit. Und beides muß durch viele, viele Stufen gehn. Und nun gibt es individuelle Wege. Bei mir ist die Liebeskraft schon mehr ausgebildet, bei dir die Weisheit –.

Drude lachte hell auf. Aber Marianne, ich bin doch nicht weise!

Nein, noch nicht. Aber wahrhaftig.

Ja, wenigstens bemühe ich mich.

Und Wahrhaftigkeit ist wohl eigentlich der Weg zur Weisheit. Also sprach Frau Hells kluge Tochter.

Ja, sagte Drude sinnend.

Ja, sagte Marianne, und du, Drude, du bist der wahrhaftigste Mensch, den ich je gesehen habe.

Drude wurde ganz rot vor staunender Freude. Aber Marianne, sagte sie bestürzt und beschämt.

Ja, Drude, ja. Mutter sagt es auch. Darum lieben wir dich alle so.

Ach, deswegen seid ihr alle so gut zu mir? sagte Drude verwirrt. Ich muß mich nämlich immer wundern. Ich bin doch gar nicht liebenswürdig, wenigstens meistens nicht. Es ist immer nur ein Glücksfall, wenn ich liebenswürdig bin. Meistens bin ich direkt eklig. Und doch sind alle gut zu mir.

Ja, es liegt daran, sagte Marianne. Du bist so unerbittlich wahrhaftig gegen dich und die andern. Man hat das Gefühl: Wenn man eine Sache dir unter die Augen schiebt, so wird sie davon gereinigt. Drude verstummte staunend. – Und dann bist du ja so himmlisch demütig, süße, süße Drude, dachte Marianne. Aber das sprach sie nicht aus. Das war ihr zu zart – die allerzartesten Dinge sagt man ja nicht.

Aber sie blieb stehn und sah Drude liebevoll an, und die hielt dem Blicke dankbar stand. Und sie blieben eine ganze Weile so, die Blicke tief und innig ineinander versenkt. Und beiden war, als sagten sie sich noch viele tiefe, süße, zarte Dinge, ohne Worte, und als strömte ein holdes, inniges Seelenverstehen herüber und hinüber, wie war das schön!

Vielleicht stecken wir mit der Zeit einander ein bißchen an, jeder mit dem seinen, sagte Drude.

Marianne lächelte. Jedenfalls, – sich so freuen an der fremden Art, wie ich tue an dir, das muß doch auch ein Weg zur Wahrhaftigkeit, – und damit zur Weisheit sein.

Stecke mich auch mit Liebeskraft an, liebe, liebe Marianne!

Wenn du die Liebe so liebst, kommt sie schon zu dir, sagte Marianne.


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