Henrik Pontoppidan
Rotkäppchen
Henrik Pontoppidan

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VIII

Noch am selben Abend erhielt der Kaplan einen verzweifelten Brief von seiner Braut. Sie hatte die alte Haushälterin zu ihrer Vertrauten gemacht, und diese hatte ihm den Brief durch einen sichern Boten zustellen lassen. Sie legte ihm hierin eine vollständige Beichte ab, erzählte nicht nur von ihrer Einsperrung und von dem Grunde dazu, sondern vertraute ihm auch das Geheimnis an, von dem sie am vorhergehenden Tage wegen des schrecklichen Verdachtes, den es auf ihre Mutter werfen konnte, nicht zu sprechen gewagt hatte. Jetzt konnte und wollte sie es nicht länger ertragen, deshalb flehte sie ihn an, sie zu befreien, »selbst wenn sie dann ihre Mutter nie wiedersehen sollte«.

Das allererste Gefühl des Kaplans beim Lesen dieses Briefes war unvermischtes Entzücken. Er küßte sogar die Unterschrift, während seine Augen voll Tränen standen. Er erhielt hierdurch Beruhigung für die Angst, in der er seit dem Vormittag infolge Esthers gänzlicher Unsichtbarkeit umhergegangen war.

Im nächsten Augenblick aber warf die Nachricht von ihrer Gefangenschaft einen Schatten über sein Gemüt. Es stand also ein Kampf bevor. Und er kannte Frau Engelstoft hinreichend, um zu wissen, daß dieser Kampf hart und langwierig werden würde.

Esthers Erzählung von den nächtlichen Wanderungen ihrer Mutter in dem großen Saal machte unter diesen Verhältnissen nicht sogleich weiteren Eindruck auf ihn. Er verstand sogar anfänglich nicht einmal, weswegen sie das alles so weitläufig erklärte, oder was für ein Verdacht es sein sollte, den sie bei ihm hervorzurufen gefürchtet hatte.

Lange währte es jedoch nicht, bis die wahre Bedeutung der Mitteilung – und damit die des ganzen Briefes – ihm klar wurde und ihn mit Entsetzen erfüllte. Er war so ganz unvorbereitet. Er hatte nie darauf hören wollen, was das Gerede der Leute ihm zutrug. Von seinen eignen Angelegenheiten erfüllt, wie er war, hatte ihn die ganze Sache überhaupt niemals beschäftigt.

Jetzt aber wurde ihm die Binde von den Augen gerissen. Je mehr er an Frau Engelstofts Gebaren in der letzten Zeit dachte, an die ganze innere Unruhe, die von Tag zu Tag deutlicher in ihrem Wesen hervortrat, seit jenem Abend, als er sie an das Sterbebett des Gutsbesitzers geholt hatte, um so besser verstand er Esthers Angst, daß ihre Mutter eine Betrügerin, eine Meineidige sein könne.

Nach einer ruhelosen, unter schweren Anfechtungen verbrachten Nacht ging er ganz früh am Morgen in die Stadt, um mit dem Hardesvogt über die Sache zu reden.

Es war dies ein schwerer Gang für ihn. Sein Gewissen klagte ihn an und gab seiner Handlung die häßlichsten Namen. Aber er kannte Gottes unumstößliche Gebote. Er wußte, daß er nicht das Recht hatte, etwas zu verheimlichen, was der Wahrheit dienen konnte, daß er keine Rücksicht auf die eignen Wünsche oder die Eingebungen des Herzens nehmen durfte. Niemand kannte die Wege, die Gott zu der Errettung eines Menschen ausersehen hatte, und niemand durfte in Selbstüberhebung Vorsehung für seinen Nächsten spielen.

Der Hardesvogt wurde nervös und aufgeregt, sobald der Kaplan Frau Engelstofts Namen nannte.

Es war nämlich keineswegs so gekommen, wie er es erwartet hatte, daß sie durch eine Beeidigung ihrer Erklärung alles Mißtrauen gegen ihre Redlichkeit niederschlagen würde. Ihre Gegner hatten ihn sogar gezwungen, eine Reihe neuer Vernehmungen anzusetzen, bei denen freilich nichts sonderlich Neues, geschweige denn etwas Belastendes herausgekommen war, die aber doch eine gewisse Unruhe bei ihm hinterlassen hatten, deren er nicht Herr zu werden vermochte.

Der Kaplan setzte ihm sein Verhältnis zu Frau Engelstofts Tochter auseinander, erzählte von ihrer Einsperrung und las schließlich den Teil des Briefes vor, der von dem nächtlichen Treiben der Mutter handelte.

Der Hardesvogt sagte lange nichts. Es hatte ihn wie ein Stoß durchzuckt, als der Kaplan von dem Dokument »mit dem gelben Umschlag« vorlas; er erinnerte sich, daß das Testament wirklich einen solchen Umschlag gehabt hatte, und er hatte um so weniger Grund, an der Glaubwürdigkeit des im übrigen ein wenig phantastischen Berichts zu zweifeln, als er sich erinnerte, daß einer der in dieser Angelegenheit zuletzt vernommenen Leute – er ein alter Nachtwächter aus Sofiehöj – erklärt hatte, daß er ein paarmal einen Lichtschimmer aus dem Rittersaal habe dringen sehen, und zwar zu einer Zeit, wo sonst alles ringsumher im Schlosse finster war, ausgenommen in Frau Engelstofts Zimmer.

Ein paar Stunden später fuhr der Hardesvogt in voller Uniform nach Sofiehöj hinaus. Der Kaplan begleitete ihn; aber es wurden nicht viele Worte gewechselt, und der Geistliche stieg aus dem Wagen, ehe dieser in die Allee einbog. Er wollte, um ungesehen zu bleiben, zu Fuße folgen und versuchen, sich mit der Haushälterin in Verbindung zu setzen, um Esther einen Gruß zu senden und sie auf das vorzubereiten, was jetzt möglicherweise geschehen würde.

Frau Engelstoft saß in ihrem Arbeitszimmer und war im Begriff, dem Verwalter, der an der Tür stand, ihre Befehle für die Nachmittagsarbeit zu erteilen, als der Wagen auf den Hof fuhr.

»Sehen Sie nach, wer da kommt«, sagte sie.

»Es ist der Hardesvogt«, meldete der Verwalter, nachdem er von dem Gang zurückgekehrt war, dessen Fenster nach dem Hofe hinaus gingen.

»Was will der nur!« murmelte sie vor sich hin. »Ja, dann können Sie gehen, Hansen!«

Sie war ganz ohne Furcht. Es fiel ihr nicht ein, daß er wieder des Testamentes wegen kommen könne. Die Sache, glaubte sie, sei aus der Welt, ohne andere Spuren als den Kampf in ihrem eigenen Innern hinterlassen zu haben.

Erst als sie ihn unmittelbar hinter der Kammerjungfer eintreten sah, ohne abzuwarten, daß ihn diese angemeldet hatte, und obendrein in voller Uniform, ahnte sie eine Gefahr.

Sie erhob sich. Und wie ein Krieger, wenn er überrumpelt wird, Deckung hinter der ersten besten Waffe sucht, die ihm in die Hand fällt, so ging sie hastig auf ihn zu und sagte in einem barschen Ton, mit geheuchelter Empörung:

»Falls Sie mit mir zu reden wünschen, Herr Hardesvogt, muß ich Sie bitten, sich ganz kurz zu fassen. Meine Zeit ist sehr in Anspruch genommen.«

In die rotgeäderten Augen des Hardesvogts trat ein Ausdruck, als habe er einen Stoß vor die Brust bekommen. Trotz allem hatte er sich bisher nicht überwinden können, an ihre Schuld zu glauben, sondern hatte gehofft, daß sie ebenso wie bei dem letzten Verhör eine befriedigende Erklärung für das würde geben können, was gegen sie vorgebracht war. Jetzt erlosch diese Hoffnung. So schwach entwickelt sein psychologischer Sinn auch war, war er doch hinreichend lange Untersuchungsrichter gewesen, um diese erheuchelte Empörung zu kennen, hinter der sich ein schlechtes Gewissen verbarg.

Und fast noch mehr verriet ihr Aussehen sie, als der Hardesvogt erst so weit zur Besinnung gelangt war, daß er sie genauer betrachten konnte.

»Sie sehen ermüdet aus, gnädige Frau«, sagte er, nachdem sie einander schweigend eine Weile gegenüber gesessen hatten, jeder an seiner Seite des Tisches, in der Nähe der Tür, die auf den Vorplatz und von dort in den Saal führte.

»Hier ist auch viel zu tun. Alles ist so vernachlässigt.«

»Freilich. Das weiß ich. Und wenn der Tag nicht ausreicht, so nimmt man die Nacht mit zur Hilfe, nicht wahr? Ich meine,« fuhr er fort, als sie nicht antwortete, »ich habe gehört, daß die Leute Licht in Ihren Fenstern gesehen haben, gnädige Frau, bis in den hellen Morgen hinein.«

»Das ist nicht unwahrscheinlich.«

»Daß Sie gezwungen sind, soviel zu arbeiten!«

»Was war es, worüber Sie mit mir zu sprechen wünschten, Herr Hardesvogt?«

»Gerade hierüber! Ich wollte Sie fragen, gnädige Frau, ob Sie nie, wenn Sie des Nachts so bei der Arbeit saßen, jemanden hier in der Wohnung haben herumkramen hören?«

»Wie kommen Sie nur einmal darauf?« fragte sie und sah ihn starr an.

»Ja – dann scheint es wirklich, daß irgendein geheimnisvolles Wesen um die Zeit der Nacht hier sein Wesen treibt. Der Gutswächter will mehrmals einen eigenartig flackernden Lichtschein im Saal gesehen haben, und daß dies keine Einbildung oder Augenverblendung war, ist von anderer Seite hinreichend bestätigt.«

»Ach!« entgegnete sie mit einem kurzen, höhnischen Lachen. »Meinen Sie wirklich! Dasselbe hätte ich übrigens bestätigen können. Ich selber bin nämlich hin und wieder da drinnen umhergegangen, wenn ich von der Arbeit ermüdet war, um ein wenig Luft zu schöpfen.«

»Ach, so verhält sich die Sache, gnädige Frau! So verhält sich die Sache! – – Aber trotzdem müssen da noch andere sein, die sich dort zu so ungewohnten Zeiten zu schaffen machen. Ich habe meine bestimmten Gründe zu dieser Annahme, und ich erbitte mir deswegen die Erlaubnis, eine gründliche Untersuchung da drinnen vornehmen zu dürfen. Vielleicht wird eine solche ganz wunderbare Dinge ans Licht bringen.«

Sie sah ihn noch immer starr an. Sie glaubte noch Macht über ihn zu haben und ihn zwingen zu können, von seinem Verlangen abzustehen.

»Was erwarten Sie denn zu finden?«

»Ein Dokument – in einem gelben Umschlag – in einem Raum unter einem der Fensterbretter. Sie gestatten wohl, daß ich hineingehe und es hole?« sagte er, indem er sich mit drohender Miene erhob.

Im selben Augenblick fuhr sie mit einem halberstickten Schrei vom Stuhle auf und stellte sich mit ausgebreiteten Armen vor die Tür, die zum Vorplatz führte – leichenblaß und zitternd.

So standen sie einander einige Sekunden schweigend gegenüber und starrten sich in die Augen, wie ein paar wilde Tiere in der Angreifstellung.

Es war bei dem Hardesvogt ebensosehr die tiefe, persönliche Kränkung, die sie ihm zugefügt hatte, indem sie ihn hinters Licht führte, wie das Entsetzen über das begangene Verbrechen, das sein Gesicht verzerrte und ihm die Zunge band. Er hatte ja, sozusagen, seine Amtsehre zum Pfand für ihre Unschuld eingesetzt und hatte sich die besten Leute der Gegend verfeindet, weil er sie in Schutz nahm.

Lange währte es jedoch nicht, bis die alten Gefühle und die Macht der Jugenderinnerungen wieder die Oberhand in ihm gewannen. Indem er sich mit zitternder Hand auf die Lehne des Stuhles stützte, von dem er soeben aufgestanden war, sagte er:

»Dann ist es also wirklich wahr!«

Frau Engelstofts Körper sank plötzlich bleischwer zusammen. Sie schwankte von der Tür fort und glitt auf ihren Stuhl nieder, wo sie, die Hand unter dem Kinn, sitzenblieb.

Sie wußte, daß jetzt alles vorbei war; aber im Grunde empfand sie nur eine Erleichterung. Das Leben war ihr schon lange eine Last geworden. Nur ihre Mutterpflicht hatte sie in einer Welt und in einer menschlichen Gesellschaft zurückgehalten, für die sie Verachtung empfand. Jetzt gebot ihr dieselbe Pflicht, fortzugehen und die Schande mit sich ins Grab zu nehmen, wodurch sie schneller in Vergessenheit geraten würde.

Sie fühlte sich schon von allem Irdischen losgelöst, in der Unendlichkeit schwebend, befreit, gleichsam betäubt. Sie hörte wohl, daß der Hardesvogt mit ihr sprach, daß er ihr vierundzwanzig Stunden Frist anbot, um wegzureisen, obwohl er – wie er sich ausdrückte – sein Amt und seine Ehre dabei aufs Spiel setzte; daß er ihr sogar versprach, seine Beamten auf eine falsche Spur zu lenken, bis sie in Sicherheit war, und ihr behilflich zu sein, einen Ort zu finden, wo sie auch später gegen Nachforschungen sicher sein konnte, – – sie hörte das alles, aber nur undeutlich, wie aus der Ferne.

Sie antwortete auch anfänglich nur mit einem Kopfschütteln, sagte dann aber, daß sie keinerlei Dienste anzunehmen wünsche, weder von ihm noch von sonst irgend jemand.

Nur einen Wunsch habe sie noch, und sie bat ihn, ihr den zu erfüllen, indem er ihr sagte, wie er der Wahrheit auf die Spur gekommen sei. Und als der Hardesvogt ihr das erzählte und sie hörte, daß ihre eigene Tochter sie verraten hatte, Esther, die sie mit ihrem Herzblut genährt und deren Glück sie jetzt mit dem Leben büßen mußte, sah sie ihn zuerst verständnislos an, brach dann aber in ein schallendes Gelächter aus, das ihm durch Mark und Bein ging.

Das war das aus dem Herzen kommende Lachen, wonach sie sich so sehr gesehnt hatte. Jetzt kam es mit der letzten Erlösung, dem endlichen Rausch. Dies hatte ihr noch gefehlt, – von ihrem eigenen Kinde in den Schmutz getreten zu werden. Mehr würde sie kaum noch erleben können. Der Kelch des Lebens war für sie bis auf die Neige geleert.

Wie sie sich freute, als sie den Hardesvogt bestätigen hörte (was dieser von dem Kaplan wußte), daß seine Verlobung mit Esther eine vollendete Tatsache war. Sie dachte an ihre viertausend Kronen, die bald in den Händen des Missionsdirektors sein würden. Die beiden würden sich nun wahrscheinlich so bald wie möglich heiraten, um in ihrer Verblendung dem sichern Tode drüben in den Sumpfländern der Pest entgegenzureisen, und sie würde noch im Tode Rache an ihrer Tochter nehmen!

Obwohl – weshalb sterben? Sie schuldete niemandem dies Opfer mehr. Sie wollte jetzt gerade, daß ihre Schande leben und für ewige Zeiten den Namen brandmarken sollte, den sie getragen hatte. Sie wollte keine Versöhnung, kein Mitleid. Sie verachtete die Tränen, die an einer Leiche vergossen wurden, die Reue, die zu spät kam. Sie wollte gerade jetzt leben, damit der Haß flammen und die Gemeinheit triumphieren konnte, und die Diebe sich hier auf Sofiehöj ohne Gewissensqualen mästen konnten. Wie sie sich selbst und den Schoß ihrer Mutter verfluchte, dessen Besudelung sie ihr Leben verdankte, sollte Fluch auf allem liegen, was ihr gehört hatte. – –

Sie empfand außerdem einen Widerwillen davor, Hand an sich zu legen. Ihr graute vor ihrer eigenen Person, vor diesem welken Körper, der mit jedem Tage deutlicher seinen Kern offenbarte: das grinsende Knochengerippe. Ein Selbstmord war auch etwas viel zu lächerlich Feierliches für diese elenden Überreste eines Menschenlebens. Sie war so großen Aufhebens wirklich nicht wert. Was noch an ihr übrig war, konnte ebensogut in dem lebendigen Begräbnis, das man ein Gefängnis nannte, verfaulen.

Sie erhob sich und sagte, sie kenne ihr Schicksal und sei darauf gefaßt. Sie bat ihn, nur eine Viertelstunde auf sie zu warten, dann würde sie bereit sein, ihm zu folgen.

Gleich nachdem sie gegangen war, kam der Kaplan leise aus dem Nebenzimmer herein. Er hatte sie in ihr Schlafzimmer gehen hören und wollte gern wissen, ob sie gestanden habe.

Der Hardesvogt ging im Zimmer auf und nieder. Er war ganz außer sich, und der Anblick des jungen Geistlichen, ohne dessen Eifer vielleicht noch Gras über das ganze Elend hätte wachsen können, machte seine Worte und sein Benehmen noch unbeherrschter, so daß er sich zu Äußerungen hinreißen ließ, die für einen königlichen Beamten sehr kühn waren.

Er sagte, Frau Engelstoft sei im Grunde nur insofern zu bedauern, als sie für eine Zeitlang der Freiheit beraubt werden würde. Von der Schande zu sprechen, verlohne sich gar nicht der Mühe, und was die Gesellschaft anbeträfe, in der sie jetzt leben würde, so sei er eigentlich der Ansicht, daß das die alleranständigsten Menschen im ganzen Lande seien, »weil diese Leute doch im allgemeinen eingestanden hätten, daß sie Verbrecher seien«. Er klagte sich selber an, daß er die Hand dazu gereicht habe, ihren Glauben an die Menschheit und an die Gerechtigkeit zu untergraben, als er kraft eines unbarmherzigen und wahnsinnigen Gesetzes ihre Ehe aufgelöst hatte. Und er erklärte schließlich sehr feierlich, wie bereits schon mehrmals früher, daß er nun Ernst machen und sein Amt niederlegen wolle, um nicht länger Henkersknecht im Dienst der Unmenschlichkeit zu sein.

»Ich wage die Behauptung aufzustellen, daß dies verbrecherische Ehescheidungsgesetz in erster Linie Schuld trägt an der Unzuverlässigkeit, die der Krebsschaden der modernen Gesellschaft ist. Kann man sich auch etwas Unlogischeres denken, als so an dem Fundamente selber zu rütteln, auf dem die ganze bürgerliche Gesellschaft aufgebaut ist – an dem ehelichen Heim! Ist es zu verwundern, daß ein Haus schwankt, wenn man jahraus, jahrein den Grund darunter aushöhlt? – Aber unsere bürgerliche Gesellschaft wird auch eines Tages in Schutt und Trümmer zusammenstürzen. Nichts ist so gewiß als das! Eine Rückkehr zu den alten Eheformen ist jetzt eine Unmöglichkeit. Es muß die Aufgabe des neuen Jahrhunderts sein, den Grund zu einer neuen Gesellschaftsordnung auf breiterer Basis und mit freierer Aussicht zu legen!«


Eine halbe Stunde später verließ Frau Engelstoft Sofiehöj als Arrestantin. Sie hatte von niemand Abschied genommen, auch nicht von ihrer Tochter.

In den folgenden Tagen wimmelten die Zeitungen von den Berichten über ihre Untaten; und in ihnen allen wurde sie als eine Person dargestellt, die ihr Leben lang ein Ungeheuer gewesen, die sozusagen von ihrer Geburt an zur Verbrecherin bestimmt gewesen war.

Obwohl der Hardesvogt besser Bescheid wußte, nahm er trotzdem auch diesmal seinen Abschied nicht. Er begnügte sich damit, seine allabendlichen Grogs im Klub noch einen Grad stärker zu brauen und mit ihrer Hilfe die Gegenwart zu vergessen und sich mit der Erinnerung an das »kleine Rotkäppchen« zu trösten, so wie er sich ihrer aus jenen Weihnachtsferien in seiner Jugend entsann, wo er sie jeden Tag im Sonnenschein, den kleinen Bruder getreulich an der Hand, über die großen Schneefelder daherkommen sah.

Im übrigen sollte ihr Gefängnisleben nicht von langer Dauer sein. Bald nachdem ihr Urteil gesprochen und sie in das Zuchthaus abgeführt war, starb sie.

Sie blieb sich bis zuletzt treu und verlangte, in ihrer Gefängnistracht begraben zu werden, ohne Geistlichen und Glockengeläute.

 


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