Henrik Pontoppidan
Rotkäppchen
Henrik Pontoppidan

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V

Als der Nachtwächter auf Sofiehöj in der dunklen Regennacht seine dritte Runde um die großen Scheunen, vorüber an den Ställen und dem langen offenen Holzschuppen, durch den Park und zurück nach dem Schloß gemacht hatte, stieg er mit dem ihm eigentümlichen tiefen Brummen und Fluchen in den Keller hinab, um wie gewöhnlich gegen ein Uhr seine Nachtmahlzeit zu verzehren und einen Krug warmen Bieres zu trinken, der in der Ofenröhre stand und auf ihn wartete. Gleichzeitig machte er in der Regel eine kleine Unterhaltung mit den Küchenmädchen, die in der Kammer hinter dem Gesindezimmer lagen, und von denen gewöhnlich die eine oder die andere durch den Schein seiner Laterne oder das Getrampel seiner schweren Stiefel geweckt wurde, wenn er sich in seinem dicken Nachtwächtermantel, die Laterne vor sich, an den Tisch setzte, um seine Mahlzeit abzuhalten.

Da nämlich der Nachtwächter Sören ein alter Patron war, vor dem man sich nicht zu genieren brauchte, stand die Tür zwischen den beiden Räumen der Luft halber des Nachts offen; und da er außerdem trotz seines Knurrens und Brummens ein gespaßiger Kerl war, mit dem die Mädchen aus dem Schloß immer ihren Scherz hatten, waren diese nächtlichen Unterhaltungen beiden Teilen gleich unentbehrlich geworden, obwohl es im allgemeinen keineswegs Liebenswürdigkeiten waren, die man durch die Tür hindurch austauschte.

Der Anfang wurde in der Regel aus den Betten heraus gemacht mit einer halbverschlafenen Frage nach dem Wetter, einem langen Gähnen oder einem schlaftrunkenen Fluch über dies ›verdammte Rumoren‹, das er da betrieb. Aber Sören, dessen Spezialität es war, Dinge zu sagen, die kein anderer in den Mund zu nehmen wagte, und der namentlich Frauenzimmern gegenüber eine Befriedigung darin fand, die allerschrecklichsten Wörter und Wendungen zu gebrauchen, verstand es immer, selbst die unschuldigste Bemerkung so aufzufassen, daß sie eine unanständige Bedeutung erhielt. Und dann entstand ein Kichern und Lachen unter den Federbetten, wenn nach und nach auch die andern Mägde erwachten und der Alte sein loses Mundwerk so recht laufen ließ.

Als Sören diese Nacht aus dem Regen hinunterstieg, hörte er indessen schon draußen auf dem Gang ein eifriges Schwatzen aus der Kammer heraus schallen; und als er hineingetrampelt kam, bemerkten die Mägde kaum sein Kommen, so in Anspruch genommen waren sie durch ihre eigene Unterhaltung.

Sören mußte begreifen, daß etwas Besonderes vorgefallen sei; aber wie es seine Gewohnheit war, sich taub zu stellen, bis er die Laterne angezündet und seinen Krug gefunden und sich am Tisch zurecht gesetzt hatte, tat er auch jetzt, als bemerke er nichts und machte sich mit großer Gemütsruhe über seine Mahlzeit her.

Erst nachdem er eine Weile vergebens gewartet hatte, daß man Notiz von ihm nehmen solle, sagte er mit barscher Stimme, während er mit seinem rostigen Taschenmesser einen Streifen von seinem Brotknaust abschnitt:

»Was ist denn das für ein Leben bei euch, ihr Dirnen? – Ihr habt doch wohl nicht Mannsleute bei euch?«

»Du kannst ja reinkommen und nachsehen, Sören«, sagte endlich eine.

»Ach, – so! – du bist es, Lotte-Lise. Na, wart' du man, eh du dich's versiehst, bin ich da, mein Schnutechen. Ich bin ja schon alt, aber ich bin noch steif im Rücken, wie der Schneider sagt.«

»Weißt du was davon, warum die Frau morgen mit der Staatskutsche nach der Stadt will?« fragte eine andere.

»Das ist nichts für euch, ihr kleinen Mädchen! Setzt ihr euch auf euren Hintern, Kinder, und steckt eure Nase nicht in anderer Leute Angelegenheiten.«

»Kutscher Anders sagt, sie soll zum Verhör bei der Polizei«, sagte eine dritte.

»Herr Jemine, guten Abend, Sine Fettlamm! Sprichst du von Anders? Kriech du man zu ihm 'raus, dann wirst du schon Bescheid kriegen. Er ist ein Kerl, der seine Sachen in Ordnung hat. Frag' du die kleine Ellen man!«

Es entstand plötzlich ein fürchterliches Gekicher unter den Federbetten, während eine junge Stimme in ganz beleidigtem Ton fragte:

»Was meinst du damit, Sören?«

»Was ich damit meine? Ja, wenn ich das nur wüßte, woher sie so rundlich geworden ist, wie der Küster von der Braut sagte, als er Amen sagen sollte.«

So fuhren sie eine Weile fort, bis eine mit einer tiefen, heiseren Stimme sagte:

»Ach, verschone uns mit deinem Unsinn. Mir deucht, wir haben dein albernes Gerede lange genug mit angehört. Iß du dein Abendbrot und laß uns andre in Ruh'; wir woll'n schlafen!«

»So! Bist du auch noch da, Mutter Malene? du hast heut abend ja ein gewaltiges Maulwerk!«

Aber die Mägde waren jetzt wirklich müde geworden; sie hatten auch über zwei Stunden wach gelegen und über das geschwatzt, was alle Gemüter auf Sofiehöj in Erregung gebracht hatte: nämlich, daß Frau Engelstoft am Nachmittag den Bescheid erhalten hatte, am nächsten Tage vor Gericht zu erscheinen, um eine Erklärung abzugeben. Eine nach der andern legten sie sich jetzt aufs Ohr und zogen die Federkissen in die Höhe, um zu schlafen.

»Gute Nacht, mein Schatz!« rief die eine.

»Grüß' deine Großmutter und laß dir Tee kochen!« sagte eine andere.

Sören murmelte: »Ja, wartet ihr nur! Ich will euch mal zeigen, was 'ne Harke ist, dann werd't ihr schon aus 'em andern Loch pfeifen. Was meinst du, mein Lotteken?«

Aber jetzt antwortete ihm niemand mehr. Bald ertönte von drinnen her ein mehrstimmiges Schnarchen, begleitet von dem melancholischen Flötenton einer verstopften Nase.

Nach einer Weile klappte Sören sein Messer zusammen, trank noch einen Schluck aus dem Bierkrug, fuhr sich mit dem Rücken seiner braunen Hand über den fettigen Mund, stieß ein paarmal mit großem Wohlbehagen auf und stand endlich auf, um zu gehen.

Draußen hatte der Regen aufgehört. Auch der Nebel hatte sich ein wenig gelichtet, und unter dem schwarzen, sternlosen Himmel trieben niedrighängende graue Wolken über die Wiesen dahin. Sören stieß seinen Krummstock gegen die Pflastersteine und sah zu der Wetterfahne über der hohen Scheune hinauf. Und indem er einige Worte von stürmischem Wetter vor sich hin murmelte, ging er zum Hoftor hinaus, um seine einsame nächtliche Wanderung von neuem zu beginnen.

Nachdem er eine neue Runde gemacht hatte, ging er auf eine kleine Anhöhe hinter den Stallgebäuden und setzte sich auf einen Erdhügel, unter eine dunkle Tannenschonung, die den Gipfel der Anhöhe bedeckte. Hier stopfte er in aller Gemütsruhe eine kleine hölzerne Pfeife und zündete sie in seiner Pelzmütze an; und während er abwechselnd an der Pfeife sog und laut mit sich selber redete, starrte er mit einem grübelnden Blick vor sich hin.

Er konnte von seinem Platz aus den weitläufigen Gebäudekomplex übersehen bis hinab zu dem Eiskeller und der Schmiede und den geringsten Laut von da unten her bis zu dem Pfeifen der jungen Mäuse in den Heumieten auffangen. Da lag nun das alte Schloß vor ihm und ragte mit seinem kleinen Turme dunkel zu dem finstern Nachthimmel auf. Die Wolken hatten sich gerade über dem Schloß ein wenig gelichtet, und ein Stück des Mondes guckte aus ihnen hervor und beleuchtete die blaue Uhrscheibe und die vergoldeten römischen Zahlen.

Vierzig Jahre hatte er – Nacht für Nacht – hier gesessen und dies Heiligtum bewacht.

Und um die langen Stunden hinzubringen, durchlebte er im Geiste immer wieder das bewegte Leben, dessen stummer Zeuge er in diesen vielen Jahren gewesen war. Aber was hatte er hier auch nicht alles gesehen und erlebt! Er konnte bis zu dem allerältesten Geheimrat zurückdenken, der ihn immer »einen Esel« gescholten und ihm einmal im Zorn ins Gesicht gespien hatte. Er erinnerte sich noch ganz genau des Tages, als der König selber mit allen seinen Generalen hier gewesen war und ein Goldstück in seinen Hut geworfen hatte, als er durch das Tor fuhr.

Am längsten verweilten jedoch seine Gedanken in dieser Zeit bei alledem, was sich seit der Rückkehr »der Kröte« zugetragen hatte. In der Nacht, als der Gutsherr starb, hatte er hier auf demselben Hügel gesessen und drinnen im Park einen Uhu schreien hören, so daß ihm ganz schlecht dabei zumute geworden war. Denn, gerade als die Uhr elf schlug, war unten aus dem Schloß ein so wunderbares Geräusch zu ihm gedrungen, und als er unten angelangt war, kam der Schreiber gerade barhäuptig über den Hof gelaufen und erzählte, der Gutsbesitzer sei gestorben.

Er hatte sich gleich seine eigenen Gedanken über die Sache gemacht. Denn es war doch ganz sonderbar, daß sich der Tod gerade drei Stunden nach Ankunft der »Kröte« einstellen mußte. Er würde seine Hand dafür ins Feuer legen, daß sie ihm etwas eingegeben hatte, um zu dem Testament gelangen zu können.

Aber – Gott sei Dank! – das böse Weib bekam jetzt wohl ihre wohlverdiente Strafe. Er hatte selber den Ortsrichter gesehen, als er mit der Vorladung zu ihr kam. Er hatte auch gerade im Stall gestanden, als dann etwas später der Verwalter mit der Order kam, daß Anders am nächsten Vormittag Schlag 10 Uhr mit dem großen Landauer vor der Treppe halten solle. –

Aber während der alte Nachtwächter dasaß und sich mit diesen Gedanken beschäftigte, war plötzlich in ein paar Fenstern an der Seite des Schlosses, die nach dem Park hinaus lag und wo Frau Engelstoft ihre Zimmer hatte, Licht erschienen.

»Jetzt spukt sie!« sagte er.

Jede Nacht waren dieselben Fenster erleuchtet gewesen, zuweilen nur auf einen Augenblick, zuweilen stundenlang hintereinander, und er erklärte es sich damit, daß das böse Gewissen der »Kröte« eine natürliche Furcht vor der Dunkelheit habe. Jetzt aber stutzte er, als er einen Lichtschimmer auch hinter der langen Reihe von Saalfenstern an der anderen Seite des Ganges erblickte. Einmal hatte er nämlich früher schon dasselbe schwache, flackernde Licht auf den weißen Rouleaus gesehen, und er konnte nicht begreifen, was sie zu dieser Zeit der Nacht in dem leeren Saal zu tun haben könne, wo kaum ein Stück Möbel stand, in dem etwas zu verschließen war, nur einige Stühle und die alte Leierkastenuhr.

Er stand auf, fing an hinabzuschleichen, um möglicherweise vom Park aus etwas entdecken zu können. Im selben Augenblick aber verschwand das Licht im Saal, und gleich darauf erlosch es auch hinter den roten Fenstervorhängen in ihrem Arbeitszimmer.


Schlag 10 Uhr hielt ein geschlossener Wagen mit florumwundenen Laternen unten an der hohen, halbbogenförmigen Fliesentreppe im inneren Hofe, und drinnen hinter den Kellerfenstern und hinter den Fenstern der Gutsschreiberstube in dem einen Seitenflügel waren eine Menge von Gesichtern flach gegen die Scheiben gedrückt; alle wollten einen Schimmer von Frau Engelstoft erhaschen, wenn sie in den Wagen stieg.

Jetzt, nachdem sich die Polizei der Sache angenommen hatte, glaubte eigentlich niemand außer dem alten Nachtwächter Sören mehr an ihre Schuld. Von dem Augenblick an, wo der Ortsrichter dagewesen, war die Stimmung aus Sofiehöj umgeschlagen, weil in Wirklichkeit nur die wenigsten im vollen Ernst an ein Verbrechen geglaubt hatten. Die übrigen hatten sich nur zu den Demonstrationen gegen sie verlocken lassen, aus der allgemeinen menschlichen Freude, anderen wehe zu tun.

Die meisten waren jetzt wohl gar der Ansicht, daß man reichlich hart gegen sie vorgegangen war, freuten sich aber doch bei dem Gedanken, sie vor der Gerichtsschranke zu sehen, gezwungen, alle gestellten Fragen wie jeder Bettler zu beantworten. Es lag etwas so Berauschendes in diesem Gefühl, die Macht, zu demütigen, in der Hand zu haben.

Die Leute hinter den Fenstern sollten nicht lange warten. Nach Verlauf von wenigen Minuten erschien Frau Engelstoft auf der obersten Treppenstufe, tief verhüllt von dem langen, faltenreichen Witwenschleier, der den neugierigen Blicken auch nicht einen Ohrzipfel preisgab.

Der dicke Kutscher auf dem Bock machte vorschriftsmäßig Honneur mit seiner Peitsche. Die Haushälterin und die Kammerjungfer begleiteten sie schweigend mit Decken und Schals an den Wagen.

»Vergessen Sie auch nicht, die Möbel in meinem Zimmer während meiner Abwesenheit zu klopfen«, hörte man sie zu der letzteren sagen, und ihre Stimme war so ruhig, ihr Ton so natürlich, als ob außer ihrem Haushalt nichts in der Welt ihren Sinn beschäftigte.

Oben im Zimmer, von einer Gardine verborgen, stand Esther und starrte mit ihren großen, luftblauen Augen zu der Mutter hinaus. Und als der Wagen davongefahren war, ging sie bleich und angstvoll im Zimmer auf und nieder, die gefalteten Hände gegen den Mund gepreßt. Schließlich setzte sie sich in die Ecke des Sofas, wo sie mehr und mehr zusammenkroch, während sie sich mit einem bangen Ausdruck im Zimmer umsah und bei jedem Laut in die Höhe fuhr.

Als die Haushälterin hereinkam, um nach dem Ofen zu sehen, faßte sie nach langem Besinnen endlich Mut und fragte, was denn eigentlich in dieser Morgenstunde vor sich gehe.

»Was vor sich geht? – Was meinen Fräulein Esther?« sagte die Alte und stellte sich ganz verständnislos.

»Weshalb seid ihr heute alle so sonderbar – und warum ist Mutter weggefahren? Sie wollte es mir nicht sagen.«

»Aber mein Gott, daß die gnädige Frau in die Stadt fährt, ist doch nichts so Sonderbares. Die gnädige Frau hat wohl Geschäfte dort.«

»Aber was sollte sie auf dem Polizeiamt? – Ja, ich weiß es recht gut, ich hörte heute morgen, daß Anna und Maren Sophie draußen auf dem Gang darüber flüsterten. Hat jemand gestohlen?«

»Wozu wollen Fräulein sich daran kehren, was so ein paar dumme Dirnen zusammen schwatzen?« sagte die Haushälterin, nachdem sie sich mit großer Anstrengung vor dem Ofen auf die Knie gelegt hatte.

»Sie verbergen mir etwas, Mamsell Andersen.«

»Na ja, wenn Fräulein schon so viel wissen, können Sie ja gern den Rest auch noch erfahren. Es ist sonst was, wovon Fräulein doch nichts verstehen und sich auch nicht mit zu befassen brauchen.«

»Was ist es denn?«

»Ach, es ist nichts weiter, als ein Papier von dem seligen Herrn, das weggekommen ist. Und darüber will das Erbschaftsgericht jetzt gern Bescheid haben. So hab' ich es wenigstens verstanden.«

»Ein Papier? – – Dann muß es doch wohl ein wichtiges Papier sein?«

»Ja, es ist wohl so was man ein Dokument zu nennen pflegt.«

»Aber was hat denn Mutter damit zu tun? Sie kann doch nicht wissen, wo es geblieben ist.«

»Ja, sehen Fräulein, vielleicht glaubt das Erbschaftsgericht das doch,« – sagte die alte Haushälterin, besann sich aber sofort und fing auf das eifrigste an, in den glühenden Torfkohlen herumzustochern, aus Furcht, daß sie sich schon zu weit hatte fortreißen lassen.

Esther bemerkte es indessen nicht; sie war zu sehr von dem in Anspruch genommen, was sie selber in der letzten Nacht erlebt hatte. Schon am vorhergehenden Abend hatte sie bemerkt, daß etwas geschehen war, was die Mutter in Unruhe versetzte. Sie hatte sie bis zur Schlafenszeit in ihrem Zimmer auf und nieder gehen hören, und beim Abendbrot hatte sie nicht nur nichts gegessen, sondern war so geistesabwesend gewesen, daß sie »Guten Morgen« statt »Gesegnete Mahlzeit« gesagt hatte, als sie aufgestanden waren. Ganz gegen ihre Gewohnheit hatte sie sich früh zur Ruhe begeben, und da die Türen zwischen ihren Schlafzimmern des Nachts immer offen standen, hatte Esther hören können, daß sie ein Schlafpulver nahm, ehe sie sich hinlegte. Jeden Augenblick drehte sie sich im Bett herum, und mehrmals im Laufe der Nacht war sie aufgestanden und hatte – wie das ihre Gewohnheit war, wenn sie nicht schlafen konnte – die Lampe im Arbeitszimmer angezündet. Was jedoch Esther namentlich gewundert hatte, war, daß die Mutter einmal die abgeschlossene Tür nach dem Vorplatz geöffnet hatte und von hier aus in den großen Saal auf der anderen Seite gegangen war. Und als sie nach Verlauf einiger Zeit nicht zurückkehrte, war Esther von Angst erfaßt und hatte sich auf nackten Füßen durch das Zimmer geschlichen. Durch die Reihe der geöffneten Türen hatte sie da die Mutter an einem der Fenster drinnen im Saal stehen und beim Schein des Lichts, das sie vor sich auf die Fensterbank gestellt hatte, in einem großen Papier lesen sehen. Niemals hatte sie die Mutter so alt aussehend gefunden. Sie war in ihrem Nachtgewand, das graue Haar fiel ihr über die Schulter herab, die rechte Hand lag mit gekrümmten Fingern über dem Mund und um das Kinn und erinnerte Esther an das schreckeneinflößende Bild einer Sibylle, das sie einmal in einem Reisewerk gesehen hatte. – Sie hatte sie noch nicht lange beobachtet, als die Mutter das Papier zusammenlegte und in einen verborgenen Raum unter dem Fensterbrett steckte. Im selben Augenblick sah sie sie zusammenfahren, als ob irgendein Laut sie erschreckt habe, und gleich darauf löschte sie das Licht aus. Esther war schleunigst in ihr Bett zurückgeschlichen und lag längst unter der Decke, als sie hörte, wie die Mutter die Lampe in ihrem Zimmer ergriff und sich in die Tür zu ihrem Schlafzimmer stellte. »Schläfst du, Esther?« hatte sie mit gedämpfter Stimme gefragt, Esther aber hatte still wie eine Maus gelegen und nichts geantwortet.

Diese nächtliche Erinnerung hatte sie während dieses ganzen unruhigen Morgens verfolgt, die Worte der Haushälterin stellten sie in noch unheimlichere Beleuchtung für sie.

»Sagen Sie mir doch, Mamsell Andersen,« fragte sie, sie hatte das Kinn in die eine Hand gestützt, und ihre Stimme klang ganz einschmeichelnd unschuldig: »Wie sieht eigentlich ein Dokument aus?«

»Ein Dokument?«

»Ja, das ist doch ein großer Bogen Papier, nicht wahr? – Mit etwas darauf geschrieben?«

»Ja!«

»Und in einem gelben Umschlag?«

Die Alte am Ofen wandte sich mit einem Lächeln um.

»Warum meinen Fräulein denn, daß der Umschlag gerade gelb sein soll?«

Jetzt war Esther bange, daß sie etwas verraten haben könne.

»Nein, ich meine ja nur«, beeilte sie sich hinzuzufügen. »Er kann ja auch ebensogut rot oder blau oder grün sein.«

»Ja, oder was sagen Sie zu gar keinem Umschlag?«

»Ja, freilich – freilich«, rief sie mit krampfhafter Heiterkeit. »Gott, wie dumm das von mir gesagt war.«

»Ja«, sagte die Alte, indem sie sich stöhnend erhob. »Ich habe aber wirklich keine Zeit, hier zu sitzen und zu schnacken, Fräulein müssen ja auch bald Frühstück haben!«

»Ach nein –, Sie dürfen nicht gehen! – – Sie dürfen nicht weggehen!« schrie Esther beinahe in ihrer Angst. Und als die Alte an ihr vorüberkam, um zur Tür hinauszugehen, faßte sie sie mit beiden Händen um den Arm, um sie zurückzuhalten. »Liebe, gute, prächtige Mamsell Andersen – bleiben Sie hier bei mir. Hören Sie doch! Sie dürfen nicht weggehen!«

»Aber Fräulein Esther!«

»Ich fürchte mich so, Mamsell Andersen! Ich mag nicht allein sein. Ich habe fortwährend ein Gefühl, als wenn jemand da drinnen im Saale ginge. Können Sie nicht noch ein wenig hierbleiben? Nur noch eine Stunde – nur fünf Minuten!«

»Sie müssen sich nicht so ängstigen, kleines Fräulein. Hier im Hause ist wirklich niemand außer uns. Beruhigen Sie sich nur. Ich will schon von Zeit zu Zeit bei Ihnen einsehen, wenn ich vorüberkomme. – Aber da kommt ja der Kaplan durch das Hoftor gegangen! Dann haben Fräulein ja Gesellschaft. Und er sieht noch obendrein aus, als wenn er etwas Neues zu erzählen hätte.«

Das hatte er auch wirklich. Und der junge Geistliche war selber so davon erfüllt, daß er beinahe mit den Galoschen ins Zimmer gekommen wäre. Als er erfuhr, daß Frau Engelstoft nicht zu Hause war, sah er durchaus nicht enttäuscht, sondern vielmehr erfreut aus und fragte gar nicht, wo sie sei.

Dahingegen ergriff er Esthers beide Hände, hielt sie lange fest und sagte, noch ehe die Haushälterin zur Tür hinausgegangen war:

»Jetzt habe ich meinen großen Entschluß gefaßt. Heute morgen habe ich mein Gesuch abgeschickt. Und nun wollte ich, daß Sie, Fräulein Esther, die erste sein möchten, die mir Glück wünscht.«

Das, was er beschlossen, und was er seit längerer Zeit bei sich selber erwogen und worüber er auf seine offene Weise mit Freunden und Bekannten geredet hatte, war das Aufgeben seines Pfarramtes, um als Missionar in ein barbarisches Land im Innern Asiens zu ziehen. Schon seit mehreren Jahren, ja, eigentlich schon seit seiner Kindheit hatte er sich zur Missionswirksamkeit hingezogen gefühlt. Und im Grunde hatte er sich nie so recht wohl gefühlt als Pfarrer in der dänischen Volkskirche, wo – wie er fand – der wirklich lebendige und brennende Glaube von der Lauheit und der fromm maskierten Heidenschaft stets mit scheelen Blicken angesehen wurde.

Auch Frau Engelstoft gegenüber hatte er kürzlich von seinen Plänen gesprochen, und zu seiner großen Überraschung hatte sie dieselben sofort mit großer Wärme gebilligt. Namentlich aber hatte er Esther zu seiner Vertrauten in dieser Sache gemacht.

Gerade mit einer kühnen Hoffnung auf ihre junge, schwärmerische Seele hatte er jetzt angefangen zu handeln. Er wußte sehr wohl, daß sie selber noch ein Heidenkind war, eine kleine Wilde, unwissend und verzaubert. Aber in allen ihren kindlichen Phantasien mit Blumen und Sternen erblickte er nur eine irregeführte religiöse Sehnsucht, einen schlummernden Gottesdrang, der – einmal erweckt – die Pforten des Himmels stürmen würde.

Ganz aus der Luft gegriffen war seine Hoffnung nun auch nicht. Wie wenig Esther seine Gefühle für sie wohl noch ahnte, geschweige denn seine Absichten in bezug auf sie kannte, war sie doch ganz Ohr gewesen, wenn er in Gegenwart der Mutter oder mit ihr allein von dem fernen Lande erzählt hatte, wohin er reisen wolle. Sie hatte still dagesessen und gelauscht wie ein Kind, das Märchen hört; und der Kaplan hatte in ihren Augen gelesen, wie alles, was er erzählte, in ihr lebendig wurde, zu Bildern ihrer noch unreifen Sehnsuchtsträume wurde: die blühenden Magnolienbäume, die die Hänge der Berge bedeckten und die Luft in meilenweitem Umkreise mit Wohlgerüchen erfüllten, die Flußufer, wo Büffel lagen und sich in dem weichen Schlamm kühlten, und Scharen blaßroter Flamingos zwischen kohlkopfgroßen Wasserrosen einherstolzierten – die Myriaden von Feuerfliegen, die des Nachts die paradiesische Landschaft erhellten –, die Strohhütten der Eingeborenen und die mächtigen grasreichen Ebenen, wo man – wie am Morgen der Zeiten – tagelang reisen konnte, ohne ein menschliches Wesen zu treffen, sorglos unter dem Sonnensegel in einer Ochsenkarre ruhend, oder auf dem Rücken eines Kamels schaukelnd –


Der Kaplan war ganz enttäuscht durch die zerstreute Art und Weise, mit der sie ihm gerade heute empfing und ihm zuhörte. Kaum daß sie sich hinreichend zusammennehmen konnte, um ihm den Glückwunsch auszusprechen, um den er gebeten hatte. Fast als fürchte sie sich vor ihm, hatte sie sich in die Sofaecke gedrückt und saß nun dort, die Hand unter dem Kinn und starrte mit großen toten Augen vor sich hin.

Er konnte schließlich nicht umhin, sie zu fragen, weshalb sie so geistesabwesend sei. Und da erhob sie sich plötzlich, trat an das eine Fenster, preßte den Arm gegen die Stirn und stützte sich schwer gegen den Fensterpfosten, indem sie ganz unbeherrscht stöhnte:

»Ach ja, wenn man nur weit, weit von hier fort wäre!«

Im selben Augenblick fiel ihm erst der Grund zu Frau Engelstofts Abwesenheit ein, und damit erhielt er auch die Erklärung zu Esthers sonderbarem Wesen.

Er trat jetzt an sie heran, legte die Hand auf ihre Schulter und sagte in seiner ruhigen, offenen Weise:

»Wissen Sie, Fräulein Esther, daß ich heute auch mit einem anderen Anliegen hierher gekommen bin? Ich wollte Sie fragen, ob Sie sich wohl vorstellen könnten, daß Sie meine Reisebegleiterin drüben nach dem fernen Lande würden – – ja, jetzt sehen Sie mich so entsetzt an. Aber ich meine es buchstäblich. Ich wollte Sie fragen, ob Sie meine Gattin werden wollten. Aber Sie sind heute, was ich sehr wohl verstehe, zu sehr von anderen Gedanken in Anspruch genommen, um mir antworten zu können. Morgen oder übermorgen, wenn Sie wieder mehr Ruhe und Frieden gefunden haben, um mit sich selber und mit Gott zu Rate zu gehen, will ich kommen, um mir Ihre Antwort abzuholen. Leben Sie wohl bis dahin. Im Namen unseres Herrn Jesu Christi!«

 


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