Henrik Pontoppidan
Rotkäppchen
Henrik Pontoppidan

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III

Mit großer Feierlichkeit und unter großer Teilnahme wurde Gutsbesitzer Engelstoft acht Tage darauf zur Erde bestattet. Obwohl das hergebrachte Begräbnisfrühstück infolge der Verhältnisse unterblieb, indem in der Bekanntmachung des Todesfalles ausdrücklich stand, daß die Beerdigung in aller Stille vom Kirchhof aus stattfinden würde, waren alle Wege um das kleine Dorf herum gegen zwei Uhr schwarz von Fußgängern und Fuhrwerken, die unter dem Läuten der Turmglocke der eine Strecke vor dem Dorfe hochgelegenen Kirche zustrebten.

In dem festlichen Sonnenschein schossen die Leute gleichsam aus der Erde auf. Die Hofplätze im ganzen Dorfe standen schließlich vollgepackt von allen Arten Wagen, von den lackierten Landauern der Provinzstadtmatadore bis zu den ungestrichenen Holzkarren der Häusler, und ringsumher auf den noch grünen Angern liefen die Pferde an ihrer angepflöckten Leine hin und her und antworteten einander mit wiesenfrischem Wiehern.

Alle hatten es übrigens vorausgesagt, daß an dem Tage, wo man den Engelstoft begraben werde, sich die ganze Bevölkerung um seinen Sarg versammeln würde. Trotzdem konnte man dies Herbeiströmen von Menschen nicht ausschließlich als Äußerungen eines Bedürfnisses, dem verstorbenen Gutsbesitzer die letzte Ehre zu erweisen, auffassen, – es war auch eine gute Portion Neugier mit im Spiel.

Schon die Nachricht, daß »die Kröte« an das Sterbebett des Gutsbesitzers gerufen und wirklich erschienen war, hatte großes Aufsehen unter den Leuten wachgerufen, obwohl man lange etwas Derartiges erwartet hatte. Aber die Bewegung wuchs, als Frau Engelstoft nach des Gutsbesitzers Tode ruhig auf Sofiehöj wohnen blieb und das Ruder ergriff als diejenige, die sich dort wieder Macht und Gewalt erworben hatte. Gleich am Morgen nach Engelstofts Tode hatte sie den Gutsschreiber, den Verwalter und den Vogt zu sich rufen lassen und ganz wie in alten Zeiten Befehle erteilt und Abrechnung verlangt.

Die Erklärung hierfür hatte denn auch nicht lange auf sich warten lassen. Zuerst schlich ein verstohlenes Gerücht durch die Gegend, bald aber erzählte man sich eine von den verschiedensten Seiten bestätigte Tatsache, daß es zwischen den geschiedenen Eheleuten zur Aussöhnung gekommen sei und daß der Preis in der Vernichtung des von dem Gutsbesitzer errichteten Testaments bestanden habe, so daß die Tochter jetzt also seine Universalerbin war und Frau Engelstoft in ihrer Vertretung rechtmäßige Herrin von Sofiehöj.

Die Geschichte klang durchaus glaubwürdig. Von den Eingeweihteren wußten jedenfalls viele sehr wohl, daß der Gutsbesitzer seine schweren Bedenken bei der Errichtung des Testaments gehabt hatte, und es war auch kein Geheimnis, daß er in der Regel derselben Ansicht war wie derjenige, mit dem er zuletzt gesprochen hatte. Außerdem hatte die Pflegerin gehört, daß die eisernen Türen zu dem eingemauerten Schrank an jenem Abend bald nach Frau Engelstofts Ankunft geöffnet wurden, und Schuldirektor Brandt, der durch das Verschwinden des Testaments um seinen Vorsteherposten und seine Testamentsvollstreckerwürde betrogen war, hatte selber zugeben müssen, daß sich das Dokument in diesem Schrank befand.

Endlich sah so ein kaltblütiges Ausnutzen der Schwäche eines Sterbenden der »Kröte« so ganz ähnlich, wie sich ihr Bild allmählich in dem Bewußtsein der Leute gestaltet hatte, und alle die alte Erbitterung erhob sich von neuem gegen dies »böse Teufelsweib«.

Eines Abends, nachdem die Leiche des Gutsbesitzers in die Kirche übergeführt war, sauste sogar ein Regen von Steinen gegen die Mauern von Sofiehöj und zertrümmerte eine ganze Menge von Fensterscheiben. Schuldirektor Brandt und seine Mitverschworenen waren nämlich keineswegs die einzigen, die in diesen Tagen Enttäuschungen erlitten hatten. Von den Dorfschullehrern in der Gemeinde bis zu den alten Weibern im Armenhaus war auf das erwartete »Frauenheim« spekuliert worden. Der eine hatte auf einen einträglichen Revisorposten, der andere auf die Übertragung einer Ökonomieverwalterstellung gehofft, ein dritter hatte, um die Würde einer Brandwache oder eines Latrinenkutschers zu erlangen, Eier oder Butter an den Schuldirektor geschickt, der faktisch schon seit einiger Zeit als »Kurator« von Sofiehöj aufgetreten war und verschiedene gutbezahlte Stellungen versprochen hatte. Und was er selber noch nicht wagte, das hatte seine Frau, die Tochter eines ehemaligen Ministers, getan. Mit vollen Händen hatte sie Vertrauensposten an Verwandte und Bekannte ausgeteilt und ihr Dienstmädchen und ihre Waschfrau mit klingenden Titeln als Oberküchenmamsell und Reinigungsinspektorin in dem künftigen Stift begnadet.

Nirgends aber hatte der unerwartete Zustand der Dinge größere Aufregung hervorgerufen als auf Sofiehöj selber. Der verstorbene Gutsbesitzer war in der Zeit seiner Alleinherrschaft ein sehr umgänglicher Herr gewesen, der nur ein geringes Interesse für die Verwaltung des Gutes an den Tag legte und den Verwalter, Vogt und Molkereidirektor nach Belieben schalten und walten ließ, was sich diese Männer denn auch derartig zunutze gemacht hatten, daß sie mit Grund die Abrechnung fürchteten, die Frau Engelstoft von ihnen verlangte. Auch das Küchengesinde und die Stallbediensteten bis hinab zu den Milchmädchen hätten am liebsten den Hof sofort verlassen, falls ihnen das möglich gewesen wäre, – eine solche Angst und Erbitterung hatte sich ihrer aller bemächtigt. Das Steinbombardement, das an jenem Abend eine Reihe Fensterscheiben auf Sofiehöj zertrümmerte, war wesentlich von den Leuten des Gutes selbst ins Werk gesetzt und bildete ihren ersten Versuch, »die Kröte« mit Gewalt zu vertreiben.

Aus einer ähnlichen Stimmung heraus hatten sie damals gehandelt, als die Leiche des Gutsbesitzers fortgeführt war, als sie aus Trotz gegen ihren Wunsch, daß die Beerdigung in aller Stille vor sich gehen möge, den ganzen Weg bis zur Kirche mit tannenzweigumwundenen Flaggenstangen und zwei Ehrenpforten geschmückt hatten. Auch die Kirche selber war mit Blattgewächsen und langen Trauerfloren verziert, und der Sarg glich einem großen, tausendfarbigen Blumenhügel.

Viel Aufmerksamkeit für all diesen Staat blieb nun freilich nicht übrig, in der bunten Menschenmenge, die allmählich die kleine Dorfkirche bis auf die Armsünderbank an der Eingangstür füllte. Aller Augen waren auf die beiden Stühle oben im Chor gerichtet, wo Frau Engelstoft und ihre Tochter von dem fürsorglichen Küster so placiert waren, daß sie von so vielen wie nur möglich unten in der Kirche gesehen werden konnten.

Frau Engelstoft trug eine vollständige Witwentracht mit einem langen, dichten Schleier vor dem Gesicht. Sie war überhaupt in diesen Tagen aufgetreten, als wenn eine merkliche, vollkommene Versöhnung zwischen ihr und dem Verstorbenen stattgefunden, und hatte sich u. a. wieder wie in den Tagen ihrer Ehe – ohne Hinzufügung ihres Mädchennamens – unterschrieben.

Die Tochter an ihrer Seite war ein kleines blasses, ganz in Tränen aufgelöstes Wesen. Sie schmiegte sich alle Augenblick an die Mutter und machte den Eindruck einer Taube, die sich unter den Schutz eines Adlers flüchtet.

Hinter ihnen saßen auf zwei Reihen Stühlen die ferneren Angehörigen und nächsten Freunde des Verstorbenen. Auf der anderen Seite des Sarges hatten einige Beamte in Uniformen Platz genommen wie auch die Abgesandten von Vereinen und Stiftungen, mit denen der Gutsbesitzer auf irgendeine Weise in Verbindung gestanden hatte. Diese Herren (Damen erblickte man fast gar nicht in der Kirche) hatten Frau Engelstoft sämtlich mit mehr oder weniger deutlicher Verlegenheit begrüßt, als sie vom Küster an ihr vorüber auf ihre Plätze geführt worden waren. Es war auch eine etwas heikle Sache für so würdige Männer, die sich ihrer Bedeutung in der menschlichen Gesellschaft wohl bewußt waren, so zum zweiten Male dieser zweifelhaften Dame gegenüber das Mäntelchen wenden zu müssen. Aber in Anbetracht dessen, daß sie jetzt – wenigstens auf eine Reihe von Jahren – die Patronesse der Umgegend werden würde, hatten sie es doch alle ohne langes Besinnen getan, – die meisten aus Bequemlichkeit, andere aus Geschäftsrücksichten, einige einzig und allein aus Feigheit.

Jetzt schwieg endlich der Glockenklöppel oben im Turm, und nachdem ein Gesang gesungen war, schwankte der alte Propst aus der Sakristei herein und stellte sich am Kopfende des Sarges auf.

Die gefalteten Hände auf dem vorspringenden Bauch wie auf einem Betpult, ließ er sein Auge träumerisch über die große Versammlung gleiten, die Kopf an Kopf den halbdunklen Raum zwischen den weißen Mauern füllte und sich durch die Eingangstür bis auf den sonnenbeschienenen Platz vor der Kirche fortpflanzte, wo der freisinnige Wahlverein der Umgegend mit seinem Banner und vier Messinginstrumenten, die einen Choral über dem Grabe blasen sollten, aufgestellt war.

Der ergraute Diener der Kirche hatte erst einige Worte gesprochen, als es schon allen klar war, daß auch er resolut Partei ergriffen hatte. Seine lange Rede gestaltete sich förmlich zu einer Wiedereinsetzung Frau Engelstofts in alle ihre ehemaligen Würden. Freilich wagte er es nicht, sie mit seiner gewohnten Begräbniswendung als die »untröstliche Gattin des Entschlafenen!« zu bezeichnen, dafür aber brachte er den Ausdruck »die lieben, ehrenwerten und tiefbetrübten Hinterbliebenen« um so häufiger in seiner Rede an; und damit niemand, namentlich Frau Engelstoft nicht, im Irrtum sein sollte, wen er damit meinte, machte er regelmäßig bei dem Worte »ehrenwert« eine kleine Verbeugung zu ihr hinauf.

Ringsumher in der Kirche flüsterte und lächelte man ein wenig darüber. Aber des Propsten Amt war nicht groß, und das Geldopfer aus Sofiehöj war für einen schuldenüberlasteten Mann nicht zu verachten. Er gehörte außerdem nicht zu den neumodischen, unverträglichen Geistlichen, sondern war ein Gemütsmensch, der sich das vielumfassende Wort: »Richtet nicht!« zum Wahlspruch gewählt hatte.

Alle seine Mühe, sich bei Frau Engelstoft einzuschmeicheln, war indes umsonst. Sie hörte nur flüchtig und gleichgültig zu. Es rührte sie nicht einmal, als gegen Ende der Rede infolge aufrichtiger Ergriffenheit ein paar große Tränen über seine Wangen rollten. Während die Tochter an ihrer Seite laut schluchzte und das Taschentuch gegen ihre Augen preßte, saß sie die stundenlange Feier hindurch offenbar ohne Teilnahme für alles, was um sie her vor sich ging. da.

In Wirklichkeit war sie jedoch ganz Aufmerksamkeit.

Hinter ihrem langen, dichten Schleier starrte sie wie durch ein Helmgitter auf die langen Reihen aufwärts gewendeter Gesichter da unten in der Kirche und auf diese vielen, weit geöffneten Augen, die alle auf sie gerichtet waren und in dem Halbdunkel wie die Mündungen blanker Büchsenrohre glänzten.

Wenn die Ereignisse der letzten Tage sie nicht davon überzeugt hätten, würde sie es hier begriffen haben, daß der Krieg zwischen ihr und der Welt jetzt offen erklärt war. Deshalb war sie auf ihrem Posten. Auch nicht einer räusperte sich, ohne daß sie es bemerkt hätte, nicht zwei konnten zusammen flüstern, ohne daß sie nicht Verdacht schöpfte und Hinterlist und Verschwörungen witterte. Wohl kannte sie die Feigheit der Menge, aber auch ihre Bosheit und das unauflösliche Zusammenhalten, worin die Stärke der Gemeinheit besteht.

Es war namentlich eine Stelle hinter dem Taufbecken, wohin ihre kreisenden Blicke immer wieder und unter wachsender Unruhe zurückkehrten. Ein Sonnenstrahl, der von einem Fenster in der Decke durch die staubgeschwängerte Luft fiel, beleuchtete hier ein Paar Brillen, die dem Schuldirektor Brandt und dem Rechtsanwalt Sandberg gehörten.

Sie hatte sowohl gesehen, daß sie in demselben Wagen gekommen waren, als auch, daß sie, als der Küster sie zu dem Ehrenplatz neben dem Sarge hatte führen wollen, dies abgeschlagen und sich den weniger in die Augen fallenden Platz hinter dem geschnitzten Gitter gesucht hatten, das den Chor von dem übrigen Teil der Kirche trennte. Sie konnte sich eigentlich nicht erklären, weshalb, aber in diesem Gebaren wie in den Blicken, mit denen sie sie beobachteten, und in der selbstbewußten Weise, in der der Rechtsanwalt nur mit einem bloßen Kopfnicken die flüsternden Bemerkungen seines Nachbarn beantwortete, lag etwas, das sie nervös machte. Sie meinte auch bemerkt zu haben, daß der Schuldirektor mit einer kleinen Kopfbewegung und mit einer Bewegung des Daumens dem anderen mehrmals die Umhersitzenden bezeichnet hatte, und dieser hatte einmal nach einem solchen Hinweis den Bleistift hervorgezogen und eine Aufzeichnung auf seinem schwarzumrandeten Trauerliederheft gemacht, das er in seinem hohen Hut hielt.

Der Propst war nun endlich fertig mit seiner Rede und schlurfte auf seinen Elefantenfüßen an die Seite des Altars, wo er ganz ermattet und schweißtriefend vor Gemütserregung auf einen Stuhl niedersank. Es wurde noch ein Gesang gesungen, worauf sechs von den männlichen Bediensteten von Sofiehöj unter Orgelgebrause und Glockengeläute den Sarg auf den Friedhof hinaustrugen.

In Übereinstimmung mit dem Wunsche des Verstorbenen verrichtete der Kaplan das Erdeaufwerfen und betete ein Vaterunser. Und kaum war sein Amen über das Grab geschallt, als schon der freisinnige Wählerverein mit seinen vier Blasinstrumenten einen Choral anstimmte, der die Kettenhunde im Dorf zu lautem Geheul veranlaßte.

In dem ersten Wagen, der wegfuhr, saß Frau Engelstoft mit Esther an ihrer Seite. Als Schutz gegen die verschiedenen Neugierigen, die sich in kleinen Haufen zu beiden Seiten des Weges aufgestellt hatten, zog sie die Gardine vor dem Fenster zu, an dem sie saß. Erst als sie durch das Dorf gekommen waren, zog sie sie wieder zurück und ließ das Fenster herab. –

Sie hatte ein Bedürfnis nach Luft. Ihre Wangen waren rot, das Herz hämmerte. Die angestrengte Ruhe, mit der sie ungefähr zwei Stunden lang die forschenden Blicke der Menge ertragen, hatte ihre Kräfte erschöpft.

Sie hatte außerdem, als sie in den Wagen stieg, den Schuldirektor und den Rechtsanwalt Sandberg mit noch einigen anderen auf dem Kirchhof stehen und die Köpfe zusammenstecken sehen. Trotz der Entfernung hatte sie sehen können, daß sie alle sehr interessiert waren. Der Rechtsanwalt hatte mit seinem Bleistift dagestanden und eine neue Notiz auf sein Liederheft gemacht, und unter den Personen, die sich um ihn geschart, hatte sie den Vogt aus Sofiehöj selber an seinem großen roten Bart erkannt. Auch den Gutsschreiber glaubte sie in der Nähe der Gruppe entdeckt zu haben.

Sie ärgerte sich über sich selbst, weil sie sich durch eine so törichte Zusammenrottung beunruhigen ließ. Was hatte sie denn zu befürchten? Solange die Toten nicht zum Reden gebracht werden konnten, sollte kein Mensch ihr Geheimnis erfahren. Wenn auch an jenem Abend ein Paar Ohren hinter jeder Tür, ein Auge an jedem Schlüsselloch gewesen war, niemals würde man beweisen können, was zwischen ihr und Niels vorgegangen war. Und übrigens wußte sie mit Bestimmtheit, nach einer sofort vorgenommenen Untersuchung, daß sie nicht belauscht sein konnten. Die einzige, die möglicherweise irgendein Wort aus ihrer Unterhaltung hätte aufschnappen können, war die Pflegerin, aber gerade Schwester Bodils Äußerungen – das wußte sie ganz bestimmt – hatten das Vertrauen zu ihren Aussagen über die Vernichtung des Testaments bestärkt.

Ihr eigenes Gewissen erhob keine Anklage gegen sie. Im Gegenteil, sie erblickte etwas Göttliches in der Eingebung, die sie in jenem Augenblick veranlaßt hatte, zu handeln, ehe sie sich noch über den Zweck oder die Tragweite ihrer Handlung klar gewesen war. Und wenn sie dann ohne Gewissensbisse die Wahrheit hatte verschweigen und den Betrug fortsetzen können, so geschah das, weil sie fühlte, daß sie nach höheren und heiligeren Gesetzen als nach denen der menschlichen Gerechtigkeit handelte, wenn sie Verrat mit Verrat und Raub mit Raub vergalt, um das Geburtsrecht ihres Kindes zu schützen und die Erinnerung an dessen Vater von Schimpf und Schande zu befreien.

Außerdem war sie fest davon überzeugt, daß Niels schließlich selber sein Unrecht eingesehen haben würde, wenn sie nur noch eine einzige Stunde mit ihm hätte reden können, – so daß sie in Wirklichkeit nur getan hatte, was selber auszuführen, ein Zufall ihn verhindert hatte.

Sie hatte den langen Schleier zurückgeschlagen, damit die frische Luft, die durch das Fenster drang, ihre Wangen kühlen könne. Ihre Nerven zitterten vor Erschöpfung. Bei jeder ein wenig stärkeren Bewegung des Wagens schwindelte es sie. Sie hatte jetzt seit sieben Tagen kaum geschlafen.

Bei einer Biegung des Weges kam plötzlich Sofiehöj über einem gepflügten Acker, der nach den Wiesen zu abfiel, in Sicht. Die Sonne beschien im Sinken den kleinen, weißgetünchten Turm mit der blauen Uhrscheibe und den vergoldeten römischen Zahlen, während das Dach des Hauptgebäudes mit den zahlreichen Schornsteinen Schatten auf die rostbraunen Bäume des Gartens warf.

Sie entsann sich, daß sich Sofiehöj ihr in einer ganz ähnlichen Beleuchtung gezeigt hatte, als sie an jenem Herbsttag vor achtzehn Jahren diesen selben Weg von der Kirche zum Schloß als Braut gefahren war und ihre Zukunft im Sonnenglanz mit geheimnisvollen, aber weichen Schatten vor sich liegen sah. Sie hatte mehr als einmal während dieser Begräbnisfeier gegen ihren Willen an ihren Hochzeitstag und dessen reiche Verheißungen denken müssen. Auch damals waren Ehrenpforten errichtet und tannenumwundene Flaggenstangen am Wege aufgepflanzt worden. Und die Glocken der Kirche hatten geläutet, und die Leute hatten sich so wie heute um den Wagen gedrängt, um sie zu sehen. Und sie war in ihrer Unerfahrenheit froh wie ein Kind gewesen und hatte die vielen neugierigen und neidischen Blicke mit Lächeln und Kopfnicken beantwortet. Und sie hatte an die schallenden Hurrarufe geglaubt und an die Kanonenschüsse und den Schwulst der Festreden und an das Amen des Geistlichen und das feierliche Gelöbnis ihres wunderschönen Bräutigams.

Sie wunderte sich jetzt von neuem darüber, daß sie an diesen Tag zurückdenken konnte, ohne die geringste Bitterkeit zu empfinden. Aber gerade diese Gleichgültigkeit gegen die betörendste Erinnerung ihres Lebens enthielt einen Schmerz, der etwas von dem versteinernden Grausen des Todes und der Auflösung in sich trug. So vollständig war es also verraucht, dieses Gefühl, das einstmals den ganzen Inhalt ihres Lebens gebildet hatte! Tränenlos hatte sie an dem Grabe des Menschen gestanden, den sie eine Zeitlang so sinnlos geliebt hatte, daß sie ihm mit Freuden Jahre ihres Lebens geopfert haben würde, nur um ihm einen geringen Schmerz zu ersparen. Jetzt verachtete sie ihn sogar noch im Tode. Wenn sie ihn aus der Qual der Hölle hätte erretten können, indem sie ihm nur den ruhigen Schlaf einer einzigen Nacht opferte, sie hätte es nicht getan.

Aber weshalb wunderte sie das? Das Leben war nun einmal nicht anders. Sie klagte deswegen auch niemand an, wie sie sich selber nicht zu beschönigen suchte. Sie wußte es sehr wohl, sie war ein Mensch wie die andern, nach dem Bilde eines unbekannten Dämons geschaffen, ein Tummelplatz für Böse und gute Triebe, von denen die schlechtesten immer siegten. Das war es, was sie in den achtzehn Jahren gelernt hatte, seit sie hier diesen selben Weg als einfältig lächelnde Braut gefahren war: die Bosheit war die eigentliche Triebfeder in der Welt; wie der Mensch schon im Embryozustand seinen Platz mitten zwischen dem Kot hatte, gedieh er auch späterhin am besten in Schmutz und Fäulnis. Sie hatte gelernt, daß nur das verhärtete Herz Lebenskraft besitzt, daß ein jeder, der auch nur den geringsten Überrest von Liebe, Aufopferung oder nur Nachsicht den Menschen gegenüber bewahrt, dem Untergang geweiht war. Wenn sie an diejenigen dachte, die sie im Laufe ihres Lebens um ihrer Güte und Treue willen geliebt hatte, an ihre Mutter, ihren Bruder, einige Kindheitsfreundinnen – was war aus ihnen geworden? Niedergetreten! – Vernichtet! – während alle diejenigen, die sie von Jugend auf wegen ihrer Falschheit, ihrer Frechheit oder Feigheit verabscheut und verachtet hatte, jetzt mit den leitenden Männern der Gesellschaft zu Tisch saßen, betitelt und bekränzt, ein Ruhm für Land und Volk. Und sah sie über ihren eigenen engen Bekanntenkreis hinaus, überall trat ihr dieselbe Erscheinung, die Erhöhung der Gemeinheit und der Triumph der Lüge und des Betrugs entgegen. Es nahm im Lande kaum ein Mann eine angesehene oder hervorragende Stellung ein, ohne daß er sie nicht durch irgendeine Treulosigkeit, einen Verrat an Freunden, eine Verleugnung von Mutter oder Bruder erlangt hätte.

Nichts war zu gut, um geopfert zu werden, wenn das vorwärts helfen konnte. – Eltern opferten ihre Kinder, Frauen ihre Ehre, Fürstentöchter ihren Glauben, – das ganze christliche Europa sah mit Gleichgültigkeit den unmenschlichsten Massenmorden von Glaubensgenossen zu, wenn nicht Aussicht vorhanden war, durch Einmischung etwas zu verdienen, während ein Heer gerüstet wurde, um den Totschlag eines einzigen Missionars zu rächen, sobald sich dabei eine Gelegenheit zum Plündern bot. – Aber es nützte nicht, Ach und Weh zu rufen und die Hände zu ringen. Das Leben war nun einmal nicht anders. Der Mensch wollte seine eigene Schande.

Der Wagen bog in die lange Allee von hohen Pappeln ein, die in einer geraden Linie zu dem Hof führte, dessen Hauptgebäude an ihrem Ende sichtbar wurde, die zerschlagenen Fensterscheiben in den letzten Strahlen der Sonne erglühend.

Esther, die während der ganzen Fahrt schweigend und still dagesessen hatte, führte bei diesem Anblick abermals das Taschentuch an die Augen. Überwältigt von Angst und Unruhe bei dem Gedanken an die öden, stillen, gleichsam fremden Räume, zu denen sie zurückkehrten, warf sie sich in verzweifeltem Schluchzen in den Schoß der Mutter.

Frau Engelstoft machte keinen Versuch, sie zu beruhigen. Sie strich nur ein paarmal mit der Hand über ihr Haar und sagte halb für sich:

»Du bist glücklich, Kind! Du kannst noch weinen!«

 


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