Henrik Pontoppidan
Rotkäppchen
Henrik Pontoppidan

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IV

Es waren einige Tage seit dem Begräbnis vergangen. Frau Engelstoft hielt sich noch immer auf Sofiehöj auf, dessen Räume sie überhaupt in dieser Zeit nicht verlassen hatte. Ganz ihrer sonstigen Gewohnheit zuwider, hatte sie sich noch nicht ein einziges Mal im Stall oder in der Scheune gezeigt oder das Küchenpersonal durch unangemeldete Besuche erschreckt. Sie hatte die Gartenstube zu ihrem Arbeitszimmer eingerichtet, und von hier aus lenkte sie den ausgedehnten Betrieb hauptsächlich durch schriftliche Befehle, die in kurzer, gebieterischer Form abgefaßt waren, was ihre Hinfälligkeit bemänteln sollte.

Es war keineswegs aus Lust, daß sie noch auf Sofiehöj wohnte. Hätte sie ihre Anwesenheit dort nicht für notwendig erachtet, so würde sie schon am Begräbnistage abgereist sein. Aus mehr als einem Grunde sehnte sie sich nach Agersögaard mit seiner Einsamkeit zurück, die ihr dort nicht aufgezwungen war. Sie fühlte sich hier in Sofiehöj wie in einen Käfig eingeschlossen, auch buchstäblich, weil sie die freie Aussicht, den großen Tummelplatz für das Auge entbehrte, an die sie sich auf Agersögaard gewöhnt hatte. Wenn sie dort an ihren Fenstern stand, hatte sie das wilde, dunkle, meilenweite, öde Moor vor sich, über dessen unzugänglichen Sümpfen nie ein Mensch, kaum ein Vogel zu sehen war. Hier ward der Blick, und mit dem Blick der Gedanke beständig gezwungen, sich nach innen zu kehren. Die hohen Bäume des Parkes verbargen Erde wie Himmel Der Tag hatte keine Sonne und die Nacht keine Sterne, während das unablässige Wagengerassel von den belebten Landstraßen ringsumher einen nie das Dasein der Menschen vergessen ließ.

Sie mußte jetzt aber vorläufig doch hier bleiben, um in die vernachlässigte Leitung des Gutes Ordnung zu bringen. Sie wollte eigenhändig alles in Gang bringen, wollte die Leuteverhältnisse untersuchen, die Sparsamkeit im Betriebe und die Pünktlichkeit in den Berechnungen wieder einführen, wollte überhaupt das Ganze wieder genau in die Form zurückführen, die es gehabt hatte, als sie Sofiehöj verließ. Selbst einen alten Prozeß mit dem Wegebauamt, einen Dränrohrablauf betreffend, den Niels seinerzeit – nach der Scheidung – hatte fallen lassen, beschloß sie wieder aufzunehmen und ihn nötigenfalls in allen Instanzen durchzuführen.

Vorläufig mußte sie jedoch aus Klugheitsrücksichten ihre Natur bezwingen und mit Behutsamkeit vorgehen. Sie fand es am richtigsten, soweit wie möglich jegliche Herausforderung zu vermeiden, bis die Bevölkerung sich ein wenig über die große Enttäuschung beruhigt hatte, die sie ihrer Raubbegierde bereitet. Und daß sich die Gärung in den Gemütern noch keineswegs gelegt hatte, dafür erhielt sie täglich neue Beweise. So hatten am Abend nach dem Begräbnistage neue Tumulte vor dem Hofplatz stattgefunden, mit Heulen und Schreien und Steinwürfen gegen die Fensterscheiben, und täglich erhielt sie anonyme Drohbriefe, in denen man ihr geradeheraus sagte, daß sie das Testament beiseite gebracht habe. Einige beschuldigten sie sogar, Niels durch Ersticken gemordet zu haben. Sie nannten sie eine Mörderin und Diebin, die wohl überführt werden und auf dem Schafott enden würde.

Dies alles erschreckte sie jedoch nicht. Sie fühlte sich vollkommen sicher. Es war ihre Überzeugung, daß sie sich nur mit Geduld zu wappnen habe und den Leidenschaften Zeit zum Austoben geben müsse.

Sie stand an einem der hohen, kleinscheibigen Fenster in ihrem Arbeitszimmer und beobachtete Esther, die draußen im Garten beschäftigt war, eine Stütze unter einem fruchtbeladenen Apfelzweig anzubringen. Neben ihr stand der Kaplan, der ihre Anstrengungen von Zeit zu Zeit mit einem Lächeln und einer kräftigen Handreichung unterstützte.

Der Kaplan war der einzige von den Freunden des verstorbenen Gutsbesitzers, der noch auf Sofiehöj verkehrte, weil er nach Frau Engelstofts Ansicht der einzige von ihnen allen war, dessen Freundschaft ganz uneigennützig gewesen. Es lag dabei etwas Offenes und Derbes in seinem Wesen, das ihr zusagte, wie auch sein ganzer Lebenswandel ihr Vertrauen und Respekt einflößte. Er war der Sohn eines reichen Kopenhagner Fabrikanten, der den Wunsch gehabt hatte, er möge Jura studieren und ins Ministerium eintreten. Er aber hatte einem freien und munteren Hauptstadtleben entsagt, um Landpfarrer zu werden.

Es war ihr bisher mit keinem Gedanken eingefallen, daß er seine Besuche um Esthers willen fortsetzte. Sie betrachtete ihre Tochter als völliges Kind, und trotz ihrer achtzehn Jahre war Esther sowohl in körperlicher als in geistiger Beziehung noch ganz unentwickelt. Die Abgeschlossenheit, in der die Mutter sie hatte leben lassen, hatte ihr einen tiefen Stempel aufgedrückt. Mit ihrer bleichen Hautfarbe, ihren großen, hellen, luftblauen Augen, die ein wenig an die der Mutter erinnerten, namentlich aber infolge der Geistesabwesenheit, die ihr eigen war und aus der sie sich zuweilen – so wie Kinder – nur mit Mühe wecken ließ, konnte die kleine ätherische Gestalt einen fast ans Abnorme grenzenden Eindruck machen. Ganz frei von einer krankhaften Überspanntheit war sie auch nicht. In Ermangelung von Spielkameraden hatte sie sich als Kind einem phantastischen Spiel mit der Natur hingegeben, hatte Blumen und hübsche Steine zu ihren Vertrauten gemacht, den Bäumen im Garten Namen gegeben und versucht, die Stimmen der Vögel nachzuahmen, um mit ihnen sprechen zu können. Als sie älter wurde, lächelte sie wohl über dies alles, fuhr aber dennoch fort, sich mit einer unnatürlichen Liebe an alle Arten lebloser Dinge zu hängen, und die Mutter hatte sie absichtlich nicht an dieser Phantasterei gehindert, weil dadurch die Gedanken des Kindes von den Menschen abgelenkt wurden.

Jetzt war etwas in der Art und Weise, wie sie und der Kaplan dort unten unterm Baum nebeneinander standen, was Frau Engelstoft argwöhnisch machte. Wenn auch der Gedanke, daß ihre Tochter schon imstande sein sollte, die Leidenschaft eines Mannes zu erregen, ihrem Mutterstolz gewissermaßen schmeichelte, so konnte sie sich doch kein größeres Unglück denken, als daß Esther jetzt, wo ihre Unabhängigkeit soweit wie möglich gesichert war, sich dem ersten besten jungen Mann, der ihr entgegentrat, in die Arme warf. Daß sie die Tochter werde bewegen können, gänzlich davon abzusehen, ihr Leben an einen Mann zu ketten, hatte sie wohl niemals erwartet. Eins aber war sie entschlossen zu fordern – und sie wollte ihre ganze mütterliche Autorität dafür einsetzen – nämlich daß Esther damit wenigstens so lange wartete, bis sie eine solche Reife des Alters und der Erfahrung erlangt hatte, daß sie die unvermeidliche Enttäuschung überleben und ihre Selbständigkeit wahren konnte, auch wenn sie ihre Mutter nicht mehr zur Seite hatte.

Frau Engelstoft wandte plötzlich die Augen von dem jungen Paare ab und sah mit lauschendem Ausdruck auf die Stubentür. Sie hatte einen Wagen in den innern Hof rollen hören.

Gleich darauf kam die Kammerjungfer und meldete, der Hardesvogt sei da und frage, ob die gnädige Frau ihn empfangen könne.

»Der Hardesvogt?«

Es schwindelte ihr plötzlich. Im selben Augenblick aber war sie wie völlig gefaßt und sagte, indem sie auf ihren großen Schreibtisch zuging, der mit Papieren und Anschreibebüchern bedeckt war:

»Bitten Sie ihn, sich zu mir zu bemühen.«

Es war der Hardesvogt, der seinerzeit an Stelle des abwesenden Landrats die Scheidung zwischen Frau Engelstoft und ihrem Gatten vollzogen hatte. Er war auch – ohne sich deswegen zu entschuldigen – damals ausgeblieben, als der Gutsbesitzer sein erstes größeres Fest nach seiner neuen Verlobung veranstaltete.

Er war ein Bekannter aus Frau Engelstofts Kindheit; das Gut, auf dem sie geboren, hatte in demselben Kirchsprengel gelegen, in dem sein Vater Pfarrer war. Man wollte wissen, daß er noch eine alte, unerwiderte Liebe zu der ehemaligen Thora van Decken im Herzen trug, deren Jugendschönheit zu preisen er nie ermüdete. Man erblickte hierin sogar – freilich ohne allen Grund – die romantische Ursache, um derentwillen er sich niemals verheiratet hatte.

Er war ein Fünfziger, nicht gerade sonderlich begabt, aber redlich und rechtschaffen, mit einem gewissen naiv-lächerlichen Anstrich, der auf den ersten Blick den Junggesellen verriet. Äußere Schöne hatte die Natur nicht an ihn verschwendet: eine kurzhalsige, langarmige Gestalt, deren Unregelmäßigkeit der Linien er vergeblich durch eine sorgfältig frisierte Perücke abzuhelfen suchte, ein prachtvoller Backenbart und eine kostbare, privatim aus London verschriebene Zahnreihe. Außerdem verrieten die rotgeäderten Augen und Wangen deutlich, daß er im Genuß starker Getränke den Trost der Betäubung suchte, nach dem brave und rechtschaffene Menschen hier in der Welt so oft ein Verlangen empfinden.

Seine Kleidung war immer durchweg elegant, aber nach einer Mode, die mindestens zehn Jahre alt war: schmalkrempige Hüte, langschößige Röcke, blutfarbige oder lohbraune, seidene Taschentücher und gewürfelte Beinkleider, die oben weit wie ein Sack waren, sich nach unten zu aber verengten und über den Stiefeln in Wülsten saßen wie ein Paar Strumpfschäfte. Außerhalb des Gerichtssaals erblickte man ihn fast nie in Uniform.

So erschien er denn auch hier mit einem glänzenden Zylinder in der Hand und erzeigte Frau Engelstoft kavaliermäßig seinen Respekt, indem er bei der Begrüßung diese Kopfbedeckung an die Brust drückte.

»Gestatten Sie mir, gnädige Frau, Ihnen mein aufrichtiges –«

»Nehmen Sie, bitte, Platz«, unterbrach sie ihn und machte eine Handbewegung auf den entferntest stehenden Stuhl. »Womit kann ich Ihnen dienen, Herr Hardesvogt?«

»Verzeihen Sie, meine gnädige Frau! Ich bin ausschließlich gekommen, um in aller Ehrerbietung die gleiche Frage an Sie zu richten.«

»Wie meinen Sie das?«

»Gestatten Sie, daß ich gleich mit meinem Anliegen hervortrete?«

»Ich bitte darum!«

»Es ist mir zu Ohren gekommen, daß gewisse demonstrative Tumulte hier um Sofiehöj herum vorgekommen sind. Ich bitte Sie, gnädige Frau, überzeugt zu sein, daß es der örtlichen Polizeiobrigkeit, und namentlich mir persönlich, eine Ehrensache sein wird, Sie gegen jegliche Belästigung zu schützen.«

»Ich danke Ihnen!«

»Wenn ich in Veranlassung dieser Pöbelaufläufe bisher noch nicht eingeschritten bin, so geschah das – offen gestanden – weil ich auf eine Meldung des Geschehenen von Ihnen selber gewartet habe. Ohne eine solche kann ich nämlich nicht gut einschreiten. Da ich mich nun heute hier in der Gegend befand, nahm ich mir die Freiheit, eine Konferenz mit Ihnen, gnädige Frau, nachzusuchen, indem ich davon ausging, daß auch Sie – trotz Ihres Schweigens – es für unrichtig, ja im höchsten Grade demoralisierend halten würden, wenn man solche Ruhestörungen unbestraft hingehen lassen wollte.«

»Dann haben Sie mein Schweigen völlig mißverstanden, Herr Hardesvogt. Wenn ich nichts gesagt habe, so hat das seinen Grund darin, daß ich keine Veranlassung sehe, die Polizei um solcher Bagatellen willen zu bemühen.«

»Bagatellen, gnädige Frau? – Steinwürfe?«

»Und wenn man Sofiehöj mit Kanonen beschossen hätte, würde ich es wahrscheinlich nicht der Mühe wert gefunden haben, mich zu beklagen.«

»Beste gnädige Frau, Sie bezweifeln doch nicht, daß wir imstande sind, die Bürger des Landes, namentlich eine alleinstehende Frau gegen –«

»Sie mißverstehen mich offenbar wieder, Herr Hardesvogt. Ich wollte Ihnen nur sagen – mit Umschreibung eines alten Sprichwortes – daß ich die Handhaber des Gesetzes fürchte, auch wenn sie mir Schutz anbieten.«

Der Hardesvogt starrte einfältig in die Luft, strich seinen großen Backenbart und sagte:

»Ja, wie soll ich eigentlich diese wirklich überraschende Äußerung verstehen?«

»Ganz buchstäblich. Ich weiß, daß, wenn die Obrigkeit immer so bereit ist, uns in Kleinigkeiten zu beschützen, dies nur geschieht, damit sie unsere Ausplünderung im großen ruhig mit ansehen kann. Einen Dieb, der uns ein Paar alte Stiefel stiehlt, kann man ohne große Mühe bestrafen lassen. Wer uns aber des Teuersten und Liebsten beraubt, – dem reicht das Gesetz noch obendrein die Hand zu seinem Verbrechen. Als wir uns das letztemal sahen, Herr Hardesvogt, hätte ich wohl Verwendung für Ihren Beistand gehabt, – Sie empfanden aber kein Bedürfnis, ihn mir zu gewähren.«

»Sie tun mir in diesem Punkt ein schweres Unrecht an, gnädige Frau!« entgegnete der Hardesvogt mit tiefer Neigung des Kopfes. »Ich bitte Sie, überzeugt zu sein, daß der Umstand, daß es mir beschieden war, die Handlung auszuführen, auf die Sie hindeuten, zu meinen peinlichsten Erinnerungen gehört!«

»Aber Sie führten sie trotzdem aus. Im Namen des Königs und des Gesetzes.«

»Auf Befehl des Gesetzes, gnädige Frau! Auf Befehl des Gesetzes!«

»Ja, auf Befehl des Gesetzes! – Sie finden es gewiß sehr undankbar von mir, daß ich Ihre Besorgnis um meine armen Fensterscheiben nicht höher anschlage. Aber ich habe jetzt – wie ehedem – Wichtigeres für mich und mein Kind zu schützen. Und ich erwarte ebensowenig wie damals, daß mir die Obrigkeit hierzu ihren Beistand gewähren wird.«

»Ich verstehe, worauf Ihre Worte hindeuten«, erwiderte der Hardesvogt nach kurzem Schweigen, – er hatte sich während der ganzen Unterhaltung ein wenig bedrückt gefühlt und schlug nun die Augen vor Verlegenheit förmlich nieder.

»Natürlich habe auch ich von gewissen törichten Gerüchten gehört, die in Umlauf sein sollen. Und ich muß gestehen – so aufdringlich es erscheinen mag – zum Teil auch um hierüber ein wenig mit Ihnen zu sprechen, habe ich mir die Freiheit genommen, Sie aufzusuchen, gnädige Frau. Gestatten Sie, daß ich mich ganz offen ausspreche?«

»Ich würde Wert darauf legen, daß Sie es tun.«

»Wie Sie wohl wissen werden, hat das Testament des Verstorbenen schon lange eine große Rolle hier in der Gegend gespielt und die Phantasie der Leute in die wildeste Bewegung gesetzt. Hieraus muß man sich wohl die abderitischen Aufregungen der letzten Tage erklären. Übrigens aber ist ein so boshafter Klatsch hier draußen auf dem Lande bei einem Todesfall fast unvermeidlich. Bauern sind, wenn es sich um andere handelt, leichtgläubig wie Kinder. – – Sie entsinnen sich wohl noch aus unserer heimatlichen Gegend einer ganz ähnlichen Schildbürgergeschichte, die einstmals alle Gemüter aus dem Gleichgewicht brachte! –«

»Nein, was war denn das?« fragte Frau Engelstoft mit einem interessierten Ausdruck, – sie ergriff gern diese Gelegenheit, die Unterhaltung ein wenig von ihren eigenen Verhältnissen abzulenken, um dadurch Zeit zu gewinnen, sich zu sammeln.

»Ach, – es handelte sich um einen jungen – sicher höchst braven – Bauern, Anders Börse hieß er, der sich schließlich gezwungen sah, seinen eigenen Geschwistern gegenüber seine Unschuld durch einen Eid zu beweisen. Sie entsinnen sich gewiß seines Gehöfts, es lag ein wenig außerhalb des Dorfes, von hohen Pappeln umgeben und mit einem Teich, der an den Pfarrhof meines seligen Vaters grenzte.«

Frau Engelstoft sah mit einem Ausdruck vor sich nieder, als strenge sie ihr Gedächtnis wirklich an. Dann schüttelte sie schweigend den Kopf.

»Nicht! Das ermuntert mich!« fuhr der Hardesvogt fort. »Ich erinnere mich nämlich, daß ich als junger Student, während der Weihnachtsferien, die ich zu Hause zubrachte – mit Permission zu melden – die vollendete Fertigkeit der gnädigen Frau im Schlittschuhlaufen auf dem Teich zu verschiedenen Malen bewundert habe. Allerdings waren Sie damals nur ein kleines Mädchen – vielleicht acht oder zehn Jahre alt – aber ich entsinne mich Ihrer trotzdem noch ganz deutlich. Sie kamen jeden Mittag, Ihren kleinen Bruder an der Hand, über die Schneefelder dahergegangen, und man konnte Sie schon von weitem an einer roten Sammetkappe erkennen, die die Sonne beschien. Ich habe mir später gedacht, daß diese Kappe wohl schuld gewesen ist, daß die Leute Sie noch viele Jahre später, als Sie schon fast erwachsen waren, ›Rotkäppchen‹ zu nennen pflegten.«

»Entsinnen Sie sich dessen wirklich noch!« sagte Frau Engelstoft mit halbgeschlossenen Augen und einem leblosen Lächeln.

»Und ob, gnädige Frau! Mein seliger Vater nannte Sie bis zu seinem Tode niemals anders. Sowohl er als auch meine Mutter liebten Sie sehr, wie Sie auch wohl wissen. Es war den beiden Alten ein wirklicher Herzenskummer, als – als das Unglück Ihre Familie traf und Sie die Gegend verließen. Sie hatten sich so daran gewöhnt, daß Sie jeden Montag mit der ›Illustrierten Zeitung‹ kamen. Ich erinnere mich noch, daß Mutter sich einmal des Ausdrucks über Sie bediente, wenn Sie kämen, sei es immer gleichsam, als brächten Sie den Sonnenschein mit sich ins Zimmer. Jedesmal, wenn ich in den Ferien nach Hause kam, pflegte sie mich regelmäßig zu fragen, ob ich Sie nicht getroffen oder von Ihnen gehört habe. Und das war übrigens eine ganz allgemeine Frage dort in der Gegend. Die alte lahme Hanne, die zwanzig Jahre da draußen in der kleinen Hütte am Birkenwäldchen im Bett gelegen hatte – Hanne Haujalen, wie wir Kinder das alte verkrüppelte Weib nannten – ja Sie können sie doch unmöglich vergessen haben! Ich weiß, daß Sie sie damals so getreulich besuchten und ihr Blumen und gute Sachen aus der Küche Ihrer Mutter brachten. Sie ward nie müde, von ›klein Rotkäppchen‹ zu sprechen, wie sie Sie nannte, die arme Alte! Sie ist jetzt Gott sei Dank tot!«

Frau Engelstoft war allmählich ungeduldig geworden. Sie liebte es nicht, an ihre Kindheit erinnert zu werden. Auch lag in der Gerührtheit des Hardesvogts über diese gemeinsamen Erinnerungen ein gewisses Etwas, das seiner Rede trotz seiner weltmännischen Gewandtheit einen vertraulichen Anstrich gab, der ihr peinlich war. Aber ganz unwillkürlich, ohne sich einer Absicht bewußt zu sein, hatte sie im Laufe der Unterhaltung ihr Wesen ihm gegenüber verändert, und mit einer gewissen Entschuldigung im Ton unterbrach sie ihn durch die Bemerkung:

»Ich glaube, Herr Hardesvogt, Sie vergessen, daß Sie mir etwas zu sagen wünschten.«

»Ja, – ja, allerdings!« entgegnete er, indem er förmlich auf seinem Stuhl in die Höhe hüpfte und sich mit einer nervösen Handbewegung über das Gesicht strich. »Es handelte sich also um diese dumme, diese fatale Geschichte. Es macht mich wirklich ganz verlegen, sie Ihnen gegenüber berühren zu müssen, und ich würde es auch nicht getan haben, falls ich nicht der Ansicht wäre, – – ernstlich der Ansicht wäre, – – ja, es klingt ganz beleidigend, aber es ist meine Überzeugung, daß die Bewegung einen derartigen Umfang gewonnen hat, daß man sie nicht länger ignorieren kann. Namentlich, nachdem die gemeinen Anschuldigungen jetzt – wie gnädige Frau vielleicht gesehen haben werden – ihren Weg auch in die Zeitungen der Umgegend gefunden haben, muß man ja auf alles vorbereitet sein!«

»Was steht in den Zeitungen?« fragte sie, und ihre Lippen fingen an zu zittern.

»Nichts Direktes, – bewahre, – aber um so mehr fast zwischen den Zeilen, wie das in der modernen Journalistik zu sein pflegt. Diese Zeitungsschreiber werden ja wie die wilden Tiere, wenn sie etwas aufgeschnüffelt zu haben glauben, woraus sich Sensation und Skandal machen läßt. Und sie haben ja, leider Gottes, in diesem Falle starke Bundesgenossen. Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, gnädige Frau, wer es ist, den Sie gegen sich haben und bei wem Sie sich wahrscheinlich für die ganze Prostmahlzeit bedanken können. Es gibt ja gewisse Personen, denen Ihre Rückkehr nach Sofiehöj höchst ungelegen kam. Aber namentlich in Anbetracht des Charakters dieser Personen, der mir hinreichend bekannt ist, habe ich Grund zu der Vermutung, daß das Unwesen, falls man es nicht beizeiten hemmt, sehr bösartig werden kann. Es geht mit diesen Sachen wie mit der Lawinenbildung. Ein ursprünglich ganz unschuldiger Schneeklumpen kann, wenn er nicht in der Fahrt gehemmt wird und wenn die übrigen Bedingungen vorhanden sind, zu einem ganzen Berg anschwellen und Zerstörungen anrichten wie ein Erdbeben.«

»Was raten Sie mir denn zu tun?«

»Ich – trotz Ihrer Äußerung vorhin bin ich immer noch der Ansicht – ich habe in erster Linie aus dem Grunde gewagt, mich an Sie zu wenden –, daß eine fortgesetzte Nachgiebigkeit besagten Tumultuanten gegenüber sehr verkehrt sein würde. Ich weiß, daß Ihre Passivität – gerade weil man sie so wenig von Ihnen erwartet hatte – Ihnen zur Ungunst ausgelegt worden ist, und Sie würden sicher klug handeln, wenn Sie eine Klage bei uns einreichen wollten, denn ohne eine solche können wir nicht mit rechtem Nachdruck die Sache in die Hand nehmen.«

»Natürlich! Ich gebe es zu! Arretieren Sie die Leute! Bestrafen Sie sie! Und schaffen Sie mir Frieden.«

»Ich hoffe, daß mir das gelingen wird. Ich darf Ihnen jetzt wohl, ohne daß Sie mich deswegen mißverstehen, aussprechen, gnädige Frau, mit welcher Empörung ich Zeuge davon gewesen bin, welche boshafte Verfolgung Ihnen jetzt wie auch früher von seiten der Bevölkerung zuteil geworden ist, und ich bitte Sie, überzeugt zu sein, daß bei dieser Gelegenheit, soweit es in meiner Macht liegt, schonungslos vorgegangen werden soll, um die Schänder Ihrer Ehre ans Licht zu ziehen.«

Während er diese letzten Worte sagte, schien eine Verwandlung mit seiner ganzen Person vorzugehen. Es war, als käme er in Uniform. Und so wenig ehrfurchteinflößend er in Zivilverhältnissen war, wurde er ein gefürchteter Mann, sobald er auf dem Richterstuhl saß. Bei all seiner Lächerlichkeit hatte er etwas von einem Charakter an sich, und gerade seine Vertrauensseligkeit bewirkte, daß er sich noch über Verbrechen aufregen konnte. Es war denn auch bekannt, daß er Leuten gegenüber, die sein Vertrauen getäuscht oder seine Gutmütigkeit mißbraucht hatten, unbarmherzig bis zur Grausamkeit hatte sein können.

»Was gedenken Sie denn zu tun, Herr Hardesvogt?« fragte Frau Engelstoft.

»Die Lawine hemmen, den Stier bei den Hörnern packen, wie der Bauer zu sagen pflegt. Der Umfang, den diese Sache bereits angenommen hat, wie auch die Beschaffenheit der Beschuldigungen wird ein gerichtliches Einschreiten gegen die Ehrenschänder vollkommen rechtfertigen. Und ein solches soll sie schon zum Schweigen bringen!«

»Sie meinen – eine polizeiliche Untersuchung – Verhör?«

»Ja, eine energisch geleitete Untersuchung ohne Ansehen der Person ist in der Tat das einzige wirkungsvolle Mittel, um einen so pöbelhaften Klatsch niederzuschlagen. Ich bedaure nur, daß es sich in diesem Falle schwerlich wird vermeiden lassen, Sie, gnädige Frau, persönlich in die Sache hineinzuziehen, aber ich brauche Sie hoffentlich nicht zu versichern, daß es mit der ganzen Schonung und der Rücksicht auf Ihre Gefühle geschehen wird, auf die Sie in so hohem Grade Anspruch erheben können.«

»Halten Sie dergleichen außerordentliche Veranstaltungen in dieser doch verhältnismäßig gleichgültigen Sache wirklich für notwendig?«

»Ich glaube, sie werden notwendig werden, und ich hielt es für meine Pflicht, Sie hierauf aufmerksam zu machen. Wenn nicht aus anderen Gründen, so doch weil die Macht der sogenannten öffentlichen Meinung uns wahrscheinlich früher oder später zwingen wird, die Sache in die Hand zu nehmen. Sie machen sich keine Vorstellung von der Leichtgläubigkeit der Leute. Selbst verständige Menschen, von denen man es am allerwenigsten glauben sollte, lassen sich die abscheulichsten Räubergeschichten aufbinden. Das habe ich bei dieser Gelegenheit wieder so recht erfahren. Aber im Gerichtssaal verstummt die Verleumdung. Die Schranke übt eine geradezu magische Wirkung auf Leute mit einem schuldbeladenen Gewissen aus. Die Eidesablegung ist ein mächtiges Mittel in der Hand eines Richters. So mit seiner ewigen Seligkeit für jedes Wort, das man sagt, einstehen zu müssen, das bringt selbst die Allerverhärtesten dazu, vorsichtig mit der Wahrheit umzugehen.«

»Ja, wenn Sie es also meinen,« sagte Frau Engelstoft, die immer größerer Anstrengung bedurfte, um ihre Unruhe zu verbergen. »Im Übrigen geniert mich das Einrede der Leute nicht im geringsten. Ich bin gegen dergleichen abgestumpft – –«

»Ich verstehe das so gut, gnädige Frau, aber Sie wünschen doch Frieden zu haben, und den hoffe ich Ihnen schaffen zu können. Trotz Ihres geringen Vertrauens zu den Handhabern des Gesetzes – und ich muß Ihnen leider zugeben, daß wir oft, nur allzuoft von den Verhältnissen gezwungen werden, die Augen an der unrechten Stelle zu schließen – wage ich doch zu behaupten, daß wir in der Gerichtsschranke wirklich einen Schutz für die Unschuld besitzen. Aber ich ermüde Sie. Ich habe Sie schon zu lange mit dieser elenden Sache geplagt.«

Er griff nach seinem Hut, den er in einem Augenblick der Selbstvergessenheit auf den Tisch gestellt hatte, und erhob sich, um Abschied zu nehmen.

Frau Engelstoft gab ihm die Hand und dankte ihm mit ein paar gemurmelten Worten für die Teilnahme, die er ihr und ihrer Tochter erwiesen hatte, ein Dank, der den alten Anbeter derartig rührte, daß er sich erkühnte, einen ehrfurchtsvollen Kuß auf die weiße, noch formschöne Hand zu drücken.

»Sie erinnerten mich vor wenigen Augenblicken an die schwere Pflicht, gnädige Frau, die mir durch einen wunderlichen Zufall beschieden war, in des Gesetzes – in eines traurigen Gesetzes – Namen auszuführen, als wir uns zuletzt gesehen. Ich preise mich jetzt gewissermaßen glücklich, bei dieser Gelegenheit, die mir hier gegeben wird, möglicherweise den ungünstigen Eindruck zu mildern, den ich damals als Vertreter der Gerechtigkeit auf Sie gemacht haben muß.«

Noch lange nachdem das Rasseln des hardesvögtlichen Wagens sich in der Allee verloren hatte, saß Frau Engelstoft in ihrem Stuhl am Schreibtisch, nach dem Zimmer hinein gewandt, und starrte mit einem grübelnden Ausdruck vor sich hin. Die Dämmerung hatte sich ringsumher in die Ecken gelagert. Die Tauflecke an den Fensterscheiben hatten einen rötlichen Schimmer von der untergehenden Sonne angenommen.

Wenn sie das Geschehene hätte ungeschehen machen können, in diesem Augenblicke hätte sie es getan. Auf alles andere war sie vorbereitet gewesen, daß sie aber gezwungen werden könnte, ihre Erdichtung zu beeidigen, – daran hatte sie nicht gedacht, und hiervor schreckte sie unwillkürlich zurück.

Aber ihr blieb ja seine Wahl mehr! Was auch kommen mochte, sie mußte nun vorwärts. Ein Rückzug war unmöglich. Hinter ihr lagen nur die Wege zur Schande und zum Selbstmord.

Mit einer gewaltsamen Willensanstrengung nahm sie sich zusammen, als sie draußen auf der Diele Stimmen hörte. Es waren Esther und der Kaplan, die aus dem Garten hereinkamen.

Esther erschien mit einem Korb voll Aprikosen im Zimmer. Als der Kaplan über ihre Schulter hinweg gesehen hatte, daß Frau Engelstoft nicht durch Arbeit in Anspruch genommen war, folgte er ihr.

»Hier ist ja ein fremder Herr gewesen, – wir hörten den Wagen«, sagte das junge Mädchen, mit einer Stimme, die ebenso wie ihre ganze blonde Erscheinung unnatürlich kindlich und unentwickelt war und an Vogelgezwitscher erinnerte. »Sine sagt, es sei der Hardesvogt gewesen.«

»Ja, den Besuch dieses Herrn werden wir voraussichtlich in nächster Zeit häufiger erhalten. Es ist in Erbschaftsangelegenheiten – aber davon verstehst du nichts, mein Kind.«

»Nein, weltklug ist Fräulein Esther überhaupt nicht«, sagte der Kaplan mit der ihm eigenen, munteren Offenheit. »Dahingegen sollen ja Sie, Frau Engelstoft, ein ganzes Stück eines Juristen sein, ein erfahrener Gesetzesverständiger, wie ich habe sagen hören.«

Ihre Augen sahen mit einem scheuen Ausdruck zu den seinen auf. Sie befürchtete sogar eine versteckte Anspielung in seinen Worten.

»Es wird soviel gesagt. Man tut sich selber den besten Dienst, wenn man sowenig wie möglich davon glaubt«, sagte sie und wandte sich im selben Augenblick ab, um ihm zu verstehen zu geben, daß sie diesen Scherz nicht fortzusetzen wünsche.

Der Kaplan senkte reumütig das Haupt und schwieg. Esther war mit ihrem Korb an einen Eckschrank getreten und sandte von hier aus ihrer Mutter, deren ungewöhnliche Blässe und schwarzblaue Augenumrandung ihr sofort aufgefallen war, einen angsterfüllten Blick zu.

Nach einer Weile begann Frau Engelstoft:

»Wie war es doch? Sollten Sie selber nicht einmal Jurist werden? Ich meine, davon gehört zu haben.«

»Ja, es war der Wunsch meines Vaters, aber ich konnte ihn nicht erfüllen.«

»Daran taten Sie recht. – Aber weshalb sind Sie eigentlich Geistlicher geworden?«

»Diese Frage haben Sie mir schon ein paarmal vorgelegt, Frau Engelstoft. Und ich werde Ihnen jetzt dasselbe antworten wie früher: weil ich den Beruf dazu in mir fühlte.«

»Den Beruf? Das ist ein leeres Wort, von oben wird uns nichts zuteil.«

»Ich stimme darin nicht mit Ihnen überein, wie Sie wissen. Aber dann nennen Sie es Neigung oder Trieb.«

»Ja, Trieb, das ist besser. Alles ist Trieb. Wir sind verantwortungslos wie das Korn auf dem Felde. In Gutem wie in Bösem werden wir, wozu Wind und Wetter uns machen.«

»Auch hierin bin ich durchaus uneinig mit Ihnen, Frau Engelstoft. Das Leben ist keineswegs ein solches Spiel des Zufalls, wie es oft erscheinen mag. Unser Wille hat auch ein Wort mitzusprechen.«

»Ja, Sie sind so jung! – Was war denn Ihr Wille?«

»Meinem himmlischen Vater zu dienen, mich an dem Kampf für die Ausbreitung des Reiches Gottes zu beteiligen, das war von Jugend an mein einziger Wunsch.«

»Gottes Reich!« wiederholte Frau Engelstoft nach kurzem Schweigen und schloß die Augen halb, um ihre Bewegung niederzukämpfen: »Gottes Reich ist nicht mehr. – Wissen Sie das nicht? Jetzt regieren die Menschen kraft von Menschen geschaffener Gesetze. Wer Gottes Gesetz folgt, brandmarkt sich selber.«

»Was nennen sie Gottes Gesetz, Frau Engelstoft?« fragte der junge Geistliche –, er hatte in einiger Entfernung von ihr auf einem Stuhl Platz genommen und war voller Eifer, ein theologisches Gespräch wieder aufzunehmen, das sie vor einigen Tagen miteinander geführt hatten. Er hatte auch nie einen Augenblick einen Verdacht in Bezug auf das Testament gegen sie gehegt; aber wenn er gerade in dieser Zeit so gerne mit ihr sprechen wollte, geschah es, weil er hoffte, daß die schweren Prüfungen dieser Tage sie empfänglicher für das Wort des Glaubens und die himmlischen Verheißungen machen sollten.

»Was ich Gottes Gesetz nenne?« entgegnete sie, indem sie ihn herausfordernd ansah. »Es steht ein Gesetz in unserem Herzen geschrieben. – Wußten Sie das denn nicht, Herr Pastor?«

»Ja, ich habe davon gehört. Aber ich glaube, daß das Gesetz in den meisten Fällen ebenso schwierig zu deuten ist, wie der Entwurf zu dem neuen Wechselgesetz, von dem ich neulich in der Zeitung las, daß niemand klug daraus werden könne, ohne den Verstand zu verlieren. Ich will zugeben, daß ich zu der inneren Stimme, die der Unglaube immer so hoch im Kurs gehalten hat, kein besonderes Zutrauen habe, weil man nie mit Sicherheit sagen kann, woher sie stammt, ob nicht unsere Eigenliebe, unsere Eitelkeit, unsere Begierde, oder vielleicht alle drei im Verein, das Wort in uns führen. Die Stimme des Gewissens ist oft so vielzüngig: Haben Sie nicht beobachtet, wie sie uns etwas ganz Verschiedenes sagt, wenn das Wetter gut oder schlecht, unser Gesundheitszustand gut oder schlecht, unser Geldbeutel leer oder mit Goldstücken gefüllt ist? Sie flüstert uns fast unhörlich zu, wenn wir unter munteren Freunden bei einem festlichen Gelage sitzen, brüllt aber in uns wie ein Donnergetöse, wenn sich der Mensch allein in Zweifel und in tiefster Seelennot befindet. Oft wenn mich die biblische Erzählung von dem Sündenfall des ersten Menschenpaares beschäftigte, habe ich darüber nachgedacht, ob nicht die Schlange mit der gespalteten Zunge die falsche Gottesstimme des Gewissens bedeuten solle, die so oft die wahre himmlische Stimme übertönt und den Menschen zu so viel Torheit und so vielen Verbrechen verleitet.«

Frau Engelstoft betrachtete ihn wieder mit dem hastigen, mißtrauischen Seitenblick von vorhin.

»Wo suchen denn Sie Gottes Gesetz?« fragte sie nach einer Weile mit gedämpfter Stimme.

»In seinem Wort! – in seinem klaren, offenbaren Wort, das niemals zweideutig ist, nie ein Mißverständnis oder juristische Spitzfindigkeiten zuläßt. Hier stehen seine Gebote mit einer Deutlichkeit geschrieben, daß selbst ein Kind sie begreifen kann. Du sollst nicht stehlen, du sollst nicht töten, du sollst nicht begehren, was deines Nächsten ist. – Und gerade dieselben Gebote bilden ja doch auch die Grundlage für die bürgerliche Gesellschaft in allen christlichen Staaten, so daß man nicht ohne eine starke Verdrehung der Wahrheit sagen kann, daß das göttliche Wort ganz seine väterliche Macht über die Menschen verloren hat. Freilich ist der Kampf zwischen dem Reiche Gottes und dem Reiche der Welt allemal hart und strenge, aber mit jedem Tage, der vergeht, zeigt es sich doch deutlicher, wie überall auf der Welt das Licht über die Finsternis, die Wahrheit über die Lüge, Gottes Wort über den Ungeist den Sieg davonträgt.

Wenn man wie Sie, Frau Engelstoft, sich von der kämpfenden Kirche und der Gemeinde der Heiligen losgesagt hat, fehlen einem die Bedingungen, um gerecht über Sieg und Niederlage urteilen zu können!«

»Wie jung Sie noch sind!« sagte sie abermals in einem spöttischen Ton, in dem jedoch ein leichtes Vibrieren von etwas Träumendem, Empfindsamem zu spüren war. »Das Reich des Lichts. Das Reich der Finsternis. Die kämpfende Kirche. – – Sie können alle diese Redensarten noch in gutem Glauben hinnehmen! – – Und doch! Es hat sicher einmal eine Zeit gegeben, wo die Kirche Macht besaß; wo sie eine Zufluchtstätte für das Gute und das Schwache war, ein himmlischer Schutzwall gegen Menschengewalt. Aber jetzt? Gottes Gebote selber, die Sie vorhin anführten, werden ja in der Kirche selber und von den Männern der Kirche verhöhnt. Du sollst nicht töten! Nein, aber wenn die Welt Krieg will, segnen die Geistlichen selber die Mordwaffen. – Du sollst nicht schwören; deine Rede sei ja, ja, nein, nein. Aber ein jeder von uns kann zu jeder Zeit von einem Handhaber des Gesetzes gezwungen werden, den Namen des Höchsten zu mißbrauchen. – Stehet nicht auch geschrieben, daß die Ehe im Himmel geschlossen wird; deswegen sollst du nicht begehren deines Nächsten Weib, und wer eine Geschiedene zum Eheweib nimmt, betreibt Hurerei. Aber was Gott den einen Tag zusammengefügt hat, das scheidet dessen ungeachtet ein Beamter durch seine bloße Unterschrift und gegen eine geringe Bezahlung an einem andern Tage.

Gottes Reich! Aber ich sage Ihnen, daß an dem Tage, als ein Geistlicher zum ersten Male ein Menschenpaar traute, obwohl er wußte, daß, was er im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes segnete, ein unanständiger Mietskontrakt mit soundso vielen Monaten Kündigungsberechtigung war –, an dem Tage zog Gott seinen Geist von der Gemeinschaft der Menschen zurück und überließ sie ihrem bösen Schicksal. An jenem Tage erfüllte sich das Wort, das da geschrieben stehet, die Sonne verdunkelte sich, und der Vorhang des Tempels riß mittendurch. Da ward das Allerheiligste des Lebens entheiligt – der letzte Altar des Menschen wurde der Schande geweiht!«

Der Kaplan schwieg, teils, weil er in Verlegenheit war, was er antworten sollte, teils, weil er wußte, daß, wenn Frau Engelstoft erst auf die Scheidungsfrage kam –, und das währte niemals lange – ihre Bitterkeit und ihr Menschenhaß derartig die Oberhand gewannen, daß sie ihrer selbst nicht mächtig war; und aus Rücksicht auf Esthers Anwesenheit lag ihm daran, weitere Auslassungen ihrerseits über diese Sache zu verhindern.

Sie aber fuhr von selber fort –, und fast, als spräche sie für sich selber:

»Es gilt nur ein Gebot für die Menschen: hilf dir selber! – – Alles ist Krieg. Und die Waffen sind gebrochene Versprechungen, falsche Eide, Treulosigkeit, Lügen, Verstellung, Betrug. – – Wer nicht unterliegen und niedergetreten werden will, muß sich mit denselben Mitteln wehren, wie die anderen. Was hilft es, gegen eine Welt kämpfen zu wollen? Nein, Betrug gegen Betrug, Eid gegen Eid –, dann ist das Spiel gleich!«

So verhältnismäßig ruhig und gleichsam zufällig die Worte auch kamen, fühlte man doch den Abgrund siedender Leidenschaft, aus dem sie wie glühende Steine aus einem Krater emporgeschleudert wurden. Obwohl weder der Kaplan noch Esther das geringste von dem Grund ihrer ungewöhnlichen Erregung wußten, hatte sie beide allmählich eine unheimliche Stimmung beschlichen. Und unwillkürlich begegneten sich jetzt ihre Blicke in der Dämmerung, gleichsam zusammengeführt von einer gemeinsamen Ahnung kommenden Unglücks, gegen das sie schweigend ein Bündnis schlossen.

 


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