Henrik Pontoppidan
Rotkäppchen
Henrik Pontoppidan

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II

Gutsbesitzer Engelstoft saß halbaufgerichtet in dem schweren Mahagonibett, auf Kissen gestützt, die so hoch um ihn her aufgestapelt waren, daß auch das todesmüde Haupt ein wenig Ruhe finden konnte. Er saß im Schatten eines Schirmes, der zwischen ihm und einer hohen Lampe, die auf einem Tisch neben dem Kopfende stand, aufgestellt war.

Neben dem Bett saß ein kleiner korpulenter Mann und las laut aus einem großen Dokument vor. Es war der Bruder der verstorbenen Braut, der Realschuldirektor Brandt.

Er hatte sich mit dem Rücken nach der Lampe und so dicht unter dieselbe gesetzt, daß seine Gestalt trotz des Schirmes voll beleuchtet wurde. Zusammen mit dem Tische, einem Stück der Tapete und einem weißen Kachelofen, der eine Ecke des Zimmers ausfüllte, bildete er einen scharf begrenzten Ausschnitt in dem großen, hohen Raum, dessen oberer Teil im Halbdunkel lag.

In einer anderen Ecke stand eine Tür zu einem Seitenzimmer angelehnt, wo die Krankenpflegerin mit einer Tasse Schokolade saß und Patience legte.

Das Dokument, aus dem der Schuldirektor vorlas, war jenes Testament, von dem die Zeitungen erzählt hatten, und kraft dessen der Gutsbesitzer Sofiehöj und die Hälfte des dazu gehörigen Grund und Bodens zur Errichtung eines Rekonvaleszentenheims für Frauen vermachte. Der Schuldirektor selber hatte es in Verein mit Rechtsanwalt Sandberg nach einem Entwurf ausgearbeitet, den Engelstoft diktiert hatte; und in Wirklichkeit war er es auch, der ursprünglich dem Schwager die Idee zu dem großen Wohltätigkeitswerk eingeflößt hatte, wie auch seine Beharrlichkeit den wankelmütigen Gutsbesitzer nach vielem Hin- und Herreden bewogen hatte, endlich Ernst mit der Verwirklichung zu machen.

Deswegen konnte der brave Schulmann sich auch nur schwerlich eine Gelegenheit entgehen lassen, sich selber das feierlich formulierte Dokument verlesen zu hören.

Obwohl es dem Schwager bereits mehrmals vorgetragen war, hatte er heute abend eine unbedeutende Hinzufügung zu den Bestimmungen benutzt, um mit volltönender Stimme alle die siebenundachtzig Paragraphen zu verlesen, und er war noch immer so zufrieden mit seinem Werk, so erfüllt von Bewunderung für die Klarheit der Abfassung, für die Reinheit, die Kraft und den Wohllaut der Sprache, daß er die Unruhe, die den Kranken allmählich ergriffen hatte und ihn wieder und wieder veranlaßte, die schweren Augenlider aufzuschlagen und zu dem Papier hinüberzuschielen, gar nicht bemerkt hatte.

Der brave Schulmann hatte nun auch noch einen anderen Grund, mit seinem Werk zufrieden zu sein. Er war nämlich selber in dem Testament des Schwagers nicht vergessen worden. Zusammen mit ein paar anderen ehrenwerten Männern war er zum Vorsteher des geplanten Frauenheims ernannt, und überall in den siebenundachtzig Paragraphen mit dazugehörigen Nebenparagraphen waren verschiedene kleine Bestimmungen verborgen, die jede an und für sich einen höchst unschuldigen Eindruck machten, zusammen aber ganz ansehnliche Einkünfte sowohl an Geld als in Form von Naturallieferungen für jedes Vorstandsmitglied bildeten. Außerdem waren er und Rechtsanwalt Sandberg zu Testamentsvollstreckern des gesamten Nachlasses ernannt, was auch eine erhebliche Summe abwerfen würde.

Der Kranke lauschte der Vorlesung schließlich gar nicht mehr. Schon ein paarmal hatte er den Schwager unterbrochen, indem er mit seiner heiseren, flüsternden Stimme fragte, wieviel Uhr es sei. Jetzt öffnete er abermals die glanzlosen Augen, um die Frage zu wiederholen, als er im selben Augenblicke die Uhr in dem Zimmer schlagen hörte, in dem die Krankenpflegerin saß, und gleich darauf erklangen sieben leise, schnelle Schläge, gefolgt von einer Reihe klingender Silberglockentöne von einer anderen Uhr in dem großen, leeren Saal an der entgegengesetzten Seite.

Nach einer kleinen Weile erscholl auch die schwere melancholische Grabstimme der Turmuhr.

Der Kranke hatte die Augen wieder geschlossen, und seiner Brust entrang sich ein langer erleichternder Seufzer. Er wußte, daß jetzt der Zug an der Station sein mußte. Jetzt nur noch eine Stunde, und er würde den Wagen durch das Hoftor rasseln hören. Mochte dann der Tod kommen, er würde ihn nicht mehr allein finden. Mit der angsterfüllten Selbstsucht des Sterbenden war es ununterbrochen dies eine, um das sich seine Gedanken drehten, – daß er jetzt nicht allein sterben würde. Keine fremde Hand würde ihm die Augen schließen. Liebe Stimmen würden bis zuletzt an sein Ohr dringen.

»Nun, lieber Freund,« rief der Schuldirektor aus, als die Vorlesung endlich beendet war, und legte mit großer Vorsicht das schöngeschriebene, in einem prachtvollen, korngelben Umschlag eingeschlossene Dokument zusammen. »Dein Wille ist also hiermit vollzogen. Deine eigene Unterschrift und die der Zeugen, der Stempel usw. – alles in gehöriger Ordnung. Solltest du noch irgendwelche Nachträge wünschen, werde ich es mit Freuden übernehmen, sie auszuführen. Ich bitte dich überhaupt, nicht zu vergessen, daß du in jeder Hinsicht über mich verfügen kannst.«

»Danke, – – danke,« stammelte der Kranke, noch ganz geistesabwesend.

»Keinen Dank, lieber Freund! Ich freue mich über das Vertrauen, das du mir in meiner Eigenschaft als Bruder unserer geliebten Sophie erwiesen hast. Ich hoffe, du wirst nach wie vor überzeugt sein, daß ich mich dieses Vertrauens nicht unwürdig erwiesen habe.«

»Guter Freund!« flüsterte Engelstoft und reichte dem Schwager seine magere, kalte Hand. »Ich werde nie vergessen, was du mir in dieser schweren Zeit gewesen bist. – – Wäre sie nur bald vorüber!«

»Nur nicht so erregt, lieber Engelstoft! Mit Gottes Hilfe und allen Prophezeiungen der Ärzte zum Trotz kannst du immer noch ein alter Mann werden. Das hoffen wir alle! – – Aber sage mir doch, wo hast du dir gedacht, das Testament aufzubewahren? Würde es eigentlich nicht das Richtigste sein, es Sandberg zur Aufbewahrung zu geben? Es durch ihn z. B. auf der Bank deponieren zu lassen?«

»Lege es nur in den Schrank zu den anderen Papieren in dem mittleren Schubfach, – du weißt ja. – Die Schlüssel liegen hier auf dem Tisch.«

»Nun ja, das mag allenfalls gehen, der Schrank ist ja garantiert feuerfest.«

Auf knarrenden Stiefeln ging der Schuldirektor nach der entgegengesetzten Ecke hinüber und öffnete hier zwei kleine eiserne Türen, die zu einem eingemauerten Schrank mit verschiedenen offenen und geschlossenen Fächern führten, der außer dem beweglichen Vermögen des Gutsbesitzers das Familienarchiv, Kaufbriefe, Pachtkontrakte und dergleichen enthielt. Obwohl es nicht das erstemal war, daß ihm das Vertrauensamt übertragen war, diese Schatzkammer zu öffnen, und trotz seiner Überzeugung, daß er binnen wenigen Tagen selbständiger Mitadministrator der ganzen Herrlichkeit sein würde, ward es ihm schwer, seine Neugierde zu bezwingen, geräuschlos ließ er seine kleinen wurstrundlichen Finger ein Bündel Wertpapiere durchblättern, die in einem offenen Raum über dem angegebenen Schubfach lagen.

Als er wieder am Bette stand, sagte er in teilnehmendem Ton, indem er das Schlüsselbund an seinen alten Platz legte:

»Bist du müde, lieber Freund?«

Engelstoft schüttelte den Kopf und fragte abermals, wieviel Uhr es sei. –

»Die Uhr? Sie ist acht Minuten über sieben. Du hast mich übrigens eben erst danach gefragt. – Erwartest du jemand?«

Der Kranke schlug plötzlich beide Augen auf. Es fiel ihm ein, daß der andere ja noch nichts wußte. Aus einer Art Furcht hatte er sich nicht dazu entschließen können, ihm zu erzählen, was in Aussicht stand. Er war bange, daß der Schwager sich im Andenken an seine Schwester durch die Rückkehr der geschiedenen Frau gekränkt fühlen könne, – er wußte, wie empfindlich er in diesem Punkte war. Nur durch sein beständiges Sichberufen auf seine Gefühle für die Verstorbene und durch sein Bestreben, die Ehrfurcht von ihrem Andenken gleichsam zu verkörpern, hatte der Direktor allmählich eine so ungewöhnliche Macht über den willensschwachen Gutsbesitzer gewonnen.

Auch jetzt kam es zu keiner Aussprache zwischen ihnen. Die Pflegerin, die des Patienten wegen unruhig über den langen Besuch des Schuldirektors geworden war, und die namentlich um jeden Preis ein Zusammentreffen zwischen ihm und der Frau Engelstoft schon an diesem ersten Abend verhindern wollte, hatte schnell entschlossen Befehl erteilt, daß sein Wagen angespannt werden solle, und kam nun, um zu melden, daß die Pferde aus dem Stall gezogen seien.

»Schon jetzt? Aber ich habe Lars doch gesagt, ich wollte erst um acht Uhr fahren.«

»Dann muß Lars den Herrn Schuldirektor wohl mißverstanden haben, – oder er hält es nicht für ratsam, der Dunkelheit halber so spät zu fahren.« –

»Ja, ja, er mag recht haben. – Es ist vielleicht auch nicht richtig, den lieben Patienten so lange zu ermüden. Wollen Sie, Schwester Bodil, also die Güte haben, Lars sagen zu lassen, er solle nur vorfahren. – –

Und nun, lieber Freund, so Gott will, siehst du mich morgen wieder, falls dein Wagen mich holen kann. Da ist sicher dies oder jenes, wobei ich dir behilflich sein kann. Wenn ich nicht irre, sprachst du einmal davon, daß du deine Bestimmungen über dein Silberzeug und deine Pretiosen niederzuschreiben wünschtest? – Nun aber heute nicht mehr! – Eine gute, ruhige Nacht, lieber Freund, und auf Wiedersehen!«

Als der Schuldirektor weggefahren war, kehrte Schwester Bodil zurück, um sich nach dem Kranken umzusehen, den jetzt heftige Gewissensbisse quälten, weil er nichts gesagt hatte. Er hatte den Schwager im letzten Augenblick zurückhalten wollen, um sich ihm zu erklären, aber die Kräfte hatten ihm versagt.

»Wollen Herr Engelstoft nicht versuchen, ein wenig zu ruhen?« fragte die Pflegerin. »Das würde Ihnen sicher gut tun, Sie sehen ein wenig angegriffen aus. Und in einer Stunde sind ja die gnädige Frau und das gnädige Fräulein hier.«

»Ja, – ja freilich!«

»Soll ich die Kissen nicht wegnehmen? Dann ruhen Sie besser.«

»Ja, nehmen Sie sie nur weg! Au, au! Stoßen sie mich doch nicht so hart an, als wenn ich ein Holzklotz wäre. Ich lebe ja doch noch!

Und warum haben Sie mir meine Medizin nicht gegeben, Schwester Bodil?«

»Der Doktor meinte, Sie sollten sie heute abend nicht mehr nehmen.«

»Ach, der Doktor, der sagt so viel! – Er sollte mir lieber helfen.«

Schwester Bodil näherte ein Glas Eiswasser seinem Munde, er aber machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand.

»Lassen Sie mich in Ruhe,« sagte er.

Der früher stets so ruhige gutmütige Mann war ein schrecklich ungeduldiger Patient geworden. Mit Ausnahme des Schwagers konnte es ihm niemand recht machen. Und je deutlicher er das erstarrende Eis des Todes in seinem Herzen fühlte, um so unliebenswürdiger hatte ihn die Angst vor der Auflösung gemacht. Wie alle seine eigenen Gedanken sich bei Tag und bei Nacht um das bevorstehende Ende drehten, meinte er, daß auch alle anderen ausschließlich darauf bedacht sein müßten, ihm diesen letzten schweren Schritt durch die enge Pforte des Todes zu erleichtern.

Nach Verlauf von wenigen Minuten rief er aber doch mit einer gleichsam um Verzeihung bittenden Stimme nach Schwester Bodil.

»Setzen Sie sich ein wenig zu mir. Ich finde doch keine Ruhe. – Wieviel Uhr ist es jetzt?«

»Es schlug vor einem Augenblick halb acht. Haben Herr Engelstoft das nicht gehört?«

»Ja, das ist wahr. – – Haben Sie nachgesehen, ob in dem Zimmer meiner Fr– ob in Frau Engelstofts Zimmer eingeheizt ist? Es darf nicht warm sein, nur überschlagen. Und dann sorgen Sie doch dafür, daß die blauen Pantoffeln meiner Tochter, die sie damals, als sie abreiste, hier vergessen hat, – – daß sie an ihrem Bett stehen, so daß sie sie gleich sieht.«

»Das soll besorgt werden.«

Er schloß die Augen eine Weile und fing an, von seiner Tochter zu sprechen. Er hatte bisher der Pflegerin gegenüber weder ihren noch der Mutter Namen jemals erwähnt. Das heißt, im Schlaf hatte er zuweilen seine Sehnsucht nach ihnen verraten. Ein paarmal war es sogar vorgekommen, daß die Pflegerin ihn hatte wecken müssen, weil er laut im Traum schluchzte und ihre Namen rief. Aber seit heute vormittag, nachdem er das Telegramm empfangen, hatte er mehrmals von ihnen beiden gesprochen. Namentlich beschäftigten ihn Erinnerungen aus der Verlobungszeit und von der Hochzeitsreise, und er erzählte davon, weil ihm offenbar darum zu tun war, Schwester Bodil ein anderes Bild von seiner Frau zu geben, als es das Gerede der Leute ihr ausgemalt hatte.

Lange hintereinander hatte er seine Gedanken freilich nicht von sich und seinem Zustand fernhalten können, auch fehlte ihm die Fähigkeit, dem, was er sagen wollte, einen richtigen Ausdruck zu verleihen. So kam er auch jetzt nicht weit in seiner Erzählung. Die Angst und die Todesmattigkeit überwältigten ihn von neuem und verdunkelten sein Bewußtsein.

Er bat um etwas zu trinken, ehe er es aber erhielt, war er schon eingeschlafen.

Er schlief noch, als der Wagen auf den Hof rollte. Und als er nach nochmals zehn Minuten nicht erwacht war, und Schwester Bodil das Geräusch von Türen hörte, die geöffnet wurden, und von Stimmen, die sich näherten, hielt sie es für das Richtigste, ihn zu wecken.

In demselben Augenblick, als er die Augen aufschlug, kam die Haushälterin leise aus dem Saal herein, einen brennenden Armleuchter in der einen Hand. Mit der anderen Hand hielt sie die Tür hinter sich offen, und gleich darauf traf Frau Engelstoft ein. Sie war ganz in Schwarz gekleidet und hatte Hut und Handschuhe nicht abgelegt.

Auf einen Wink von ihr schlich die eingeschüchterte Haushälterin wieder fort und schloß geräuschlos die Saaltür hinter sich. Gleichzeitig zog auch Schwester Bodil sich zurück, nachdem sie schweigend und mit tiefer Neigung des Kopfes gegrüßt hatte.

Der Kranke konnte vor Gemütsbewegung kaum die schwarze Gestalt unterscheiden, die sich langsam durch das Zimmer auf ihn zu bewegte und einen Augenblick im Halbdunkel am Fußende des Bettes stehen blieb und ihn ansah. Seine Augenlider senkten sich unwillkürlich. Fast wie eine Leiche lag er steif ausgestreckt unter der Bettdecke, ohne sich zu rühren.

Es war freilich ein wenig Verstellung bei dieser totenähnlichen Hilflosigkeit.

Wie so viele andere Kranke, die ihr Leiden übertreiben, um Mitleid zu erwecken, hatte auch er sich daran gewöhnt, Leuten gegenüber, die ihn besuchten, seine Hilflosigkeit zur Schau zu stellen. In diesem Falle benutzte er sie außerdem noch als Schild oder Maske für die Unsicherheit, die ihn überkam, als er derjenigen, die er so tief gekränkt hatte, wieder begegnete.

»Bist du es, Thora?« fragte er mit schwacher, klangloser Stimme. Sie trat jetzt in den Lichtkreis, den die Lampe an der einen Seite seines Bettes verbreitete.

»Guten Abend,« sagte sie und stützte sich mit der Hand auf die Lehne des Stuhles, auf dem der Schuldirektor vorhin gesessen hatte. Ihr Gesicht war unveränderlich ruhig, aber sehr bleich. Auch die Stimme hatte ein wenig gezittert.

»Hab' Dank, daß du gekommen bist, Thora,« fuhr er fort und reichte ihr seine weiße, kalte, knöcherige Hand.

Sie besann sich einen Augenblick, ehe sie sie ergriff. Sie hatte sich nicht gedacht, daß ihr Wiedersehen so sein würde. Aber das Mitleid erstickte in diesem Augenblick alle anderen Gefühle in ihrer Brust.

Ihre Phantasie hatte sich überhaupt gar nicht damit beschäftigt, in welchem Zustand sie ihn finden würde. Es waren ganz andere Gedanken gewesen, die sie auf der fast tagelangen Reise hierher erfüllt hatten. Deswegen schauderte sie jetzt unwillkürlich bei dem Anblick dieses eingetrockneten wachsgelben Körpers, – dem Skelett der einstmals so muskulösen Gestalt, die sie in ihrer Jugend mit flammender Seele und heißem Blut geliebt hatte.

Daß er dies wirklich war! Daß diese weichen, bläulichen Hautlappen, die die vorstehende Zahnreihe umgaben, dieselben Lippen waren, die sie einstmals schwellend unter sinnberauschenden Küssen auf ihrem Munde gefühlt hatte.

»Wo hast du Esther? – Warum kommt sie nicht herein?«

Er hatte dieselbe Frage schon einmal getan, ohne daß sie ihm geantwortet hatte. Auch jetzt zögerte sie.

Sie war in diesem Augenblick nahe daran, zu wünschen, daß sie doch dem Flehen der Tochter nachgegeben und sie gleich mit hierher genommen hätte. Sie dachte sogar darüber nach, ob sie ihm nicht durch irgend welche Ausflüchte die Enttäuschung ersparen und heute abend noch den Streit vermeiden könne. Aber dann fiel ihr ein, daß mit dem Hinausschieben Gefahr verbunden sei. Er sah aus wie ein Sterbender. Vielleicht würde er die Nacht nicht überleben. Und gerade um Esthers willen durfte sie nicht schwach sein. Sie hatte hier eine größere Mission als nur die, Barmherzigkeit zu erzeigen.

»Esther?« entgegnete sie mit fester Stimme. »Sie ist zu Hause.«

»Zu Hause? – – Zu Hause, Thora? – – Aber sie kommt doch? – Mit dem nächsten Zuge, nicht wahr? – Morgen?«

»Ich weiß es nicht. Vielleicht.«

Der Kranke richtete sich plötzlich ohne fremde Hilfe auf dem Ellenbogen auf. Während die eine bange Ahnung gle– –ichsam die andere noch schrecklichere erzeugte, brachte er mit heiserer Stimme hervor:

»Du weißt es nicht! – – Was soll das heißen, Thora? – Weshalb bist du denn gekommen? – – Und warum seid ihr denn nicht früher gekommen? – – Warum hast du den ersten Brief nicht beantwortet?« – –

Frau Engelstoft zögerte wieder mit der Antwort. Sie hatte sich auf den Stuhl gleiten lassen, wo sie in einer vornübergebeugten Stellung saß, die eine schwarzbehandschuhte Hand unter der Wange, und sah zur Seite, um seinen Blick zu vermeiden.

»Hattest du mich wirklich erwartet, Niels? – Damals, als wir zuletzt miteinander sprachen, dachtest du doch auch wohl nicht, daß wir uns jemals wieder treffen würden, am wenigsten auf Sofiehöj. Wir haben ja nichts mehr miteinander gemein. Du hast es ja damals selber so gewünscht. Und ich habe deinen Wunsch erfüllt. Was verlangst du noch weiter?«

Der Kranke war wieder in die Kissen zurückgesunken und hatte mit einer völlig mutlosen Bewegung beide Arme schwer auf die Steppdecke fallen lassen.

»Ganz die Alte!« sagte er, indem er das Gesicht abwandte. »Das hätte ich doch wissen können! – du fängst da wieder an, wo du aufgehört hast.«

»Was, meinst du eigentlich, hätte mich wohl verändern sollen?« fragte sie nach kurzem Schweigen. »Denn du konntest doch eigentlich nicht erwarten, daß das, was hier auf Sofiehöj nach meiner Abreise geschehen ist, mir unser Verhältnis in anderm Lichte erscheinen lassen würde. – Und doch! Gewissermaßen bin ich wirklich eine andere geworden, als die du kanntest. Du siehst es selber, ich spreche jetzt ganz leidenschaftslos. Bin vollkommen ruhig. Die Gleichgültigkeit gegen dich und dein Wohlergehen, die du mir einstmals so aufrichtig wünschtest, – um deines eigenen Seelenfriedens willen, vermute ich, – die habe ich mir wirklich beinahe erkämpft. In der Beziehung kannst du also getröstet sein.«

»Was willst du von mir? Weshalb bist du gekommen? – Kannst du es wirklich übers Herz bringen, einen sterbenden Menschen zu peinigen, so mache doch wenigstens die Pein kurz.«

»Ich habe selber keinen anderen Wunsch, Niels! Am liebsten hätte ich mich so fern wie möglich von hier gehalten. Selbst du wirst verstehen können, daß es nicht so ganz leicht für mich gewesen ist, mich zu dieser Reise zu entschließen – die Stätte wiederzusehen, wo ich siebzehn Jahre lang doch eine Art Heim gehabt habe.«

»Weswegen bist du denn gekommen? Um meinetwillen war es also nicht!«

»Ach ja, – auch um deinetwillen. – Auch um deinetwillen, Niels.«

Sie schwieg einen Augenblick und fuhr dann fort:

»Ich las gestern abend in einer Zeitung etwas von einem Testament, das du gemacht haben sollst.«

Der Kranke erwiderte nichts hierauf. Er hatte allmählich von selber den Grund ihres Kommens begriffen.

»Verhält es sich wirklich so, wie das Blatt schrieb?«

»Ja.«

»Du wirst natürlich begreifen, daß ich nicht aus Langerweile frage. Auch nicht, weil ich irgendeine Forderung an dich zu haben glaube. In meiner Eigenschaft als Esthers Mutter und Vormund frage ich danach.«

»Du kannst ja das Testament selber lesen, – – ich wünsche sogar jetzt, daß du es tust. Dann wirst du sehen, daß ich Esther nicht nur in freigebiger Weise alles das zuerteilt habe, was ihr dem Gesetze nach bei meinem Tode zukommt, sondern daß ich ihr auch für alle Fälle einen jährlichen Zuschuß aus Sofiehöj auf Lebenszeit gesichert habe.«

»Aber Sofiehöj selber soll also deiner Bestimmung nach in fremde Hände übergehen, – soll in eine Wohltätigkeitsanstalt, eine Art Frauenheim verwandelt werden?«

»Das ist meine Absicht, ja. Ich habe während meiner Lebzeit nicht genügend auf das Wort geachtet, das uns heißt, den Zehnten an die Armen zu geben. Deswegen erfülle ich jetzt meine lange versäumte Menschenpflicht. – Aber ich kann nicht soviel sprechen, Thora. Lies deswegen selber. Meine Schlüssel liegen hier auf dem Tisch. Du kennst ja den Schrank dort, – – in dem mittleren Schubfach, – – es hat einen gelben Umschlag – –«

Sie besann sich einen Augenblick, erhob sich dann mit glühenden Wangen, nahm schweigend das Schlüsselbund vom Tisch und ging damit auf den eingemauerten Schrank zu.

Als sie mit dem Dokument zurückgekehrt war und es zweimal durchgelesen hatte, das letzte Mal langsam, Paragraph für Paragraph, und in einer Erregung, die ihr das Blut aus den Wangen sog, sagte sie höhnend:

»Es ist genau so, wie ich es erwartet hatte! Dies alles hast du dir ja gar nicht selber ausgedacht. Und es ist nicht schwer, ausfindig zu machen, wer der Meister davon gewesen ist. – – Ich verstehe nur nicht, weshalb die Stiftung ›Erholungsheim für schwächliche Frauen‹ genannt werden soll, da doch weder Herr Schuldirektor Brandt noch Herr Rechtsanwalt Sandberg oder irgend jemand von den Personen, die auf diesem Papier erwähnt sind, soweit mir bekannt ist, von zarter Gesundheit sind und jedenfalls sind sie doch keine Frauen! – Aber ich habe es gleich gewußt! Sobald ich die Mitteilung in der Zeitung sah, verstand ich, daß du das Opfer eines Betruges gewesen warst. Ich kenne dich, Niels!«

Der Kranke richtete abermals den Oberkörper auf, indem er sich auf die Ellenbogen stützte.

»Das sind genau die Worte, die ich von dir zu hören erwartete. Ja, du bist wirklich in jeder Beziehung die Alte geblieben, – gleich mißtrauisch, gleich gehässig allem und allen gegenüber. Ich will gar nicht mehr mit dir über diese Dinge reden. Darum habe ich dich das ›Papier‹ nicht lesen lassen. Aber ich möchte dir doch, ehe ich sterbe, ein Wort sagen, Thora. Und nun kannst du mir wohl nicht mehr zutrauen, daß ich eine hinterlistige Absicht mit meiner Bitte habe. Dein Gemüt ist krank – ist lange krank gewesen. Und das kommt von dem Leben, das du führst, zurückgezogen von allen Menschen, ohne anderen Umgang, als deine eigenen verwirrten Gedanken. Ich bitte dich, Thora, – und es ist dies die Bitte eines Sterbenden – ich bitte dich um deiner selbst und um unseres Kindes willen, schließe dich den Menschen wieder an, und du sollst sehen, daß das Leben für euch beide glücklicher wird. Versprich mir, daß du – wenn auch nur auf kurze Zeit – die Einsamkeit und die Ungemütlichkeit da oben auf Agersögaard verlassen willst. Denke doch an Esther! Sie ist erst sechzehn Jahre alt! – Bekämpfe deine bitteren Gedanken! Laß sie dein und anderer Menschen Leben nicht vergiften. Sie haben Übel genug angerichtet! –«

Er konnte nicht mehr sprechen und sank atemlos und schweißbedeckt auf das Kissen zurück.

Frau Engelstoft saß da, den Ellenbogen auf ihr Knie gestützt; das vorgestreckte Kinn ruhte in ihrer hohlen Hand. Das Lampenlicht fiel gerade auf ihr Gesicht. Mit träumerischen Augen starrte sie zu der gelben unruhigen Flamme empor.

»Mißtrauisch nennst du mich. – – Ach ja. Das hat mich das Leben wohl gelehrt. Du hast aus Bequemlichkeit vorgezogen, dich nicht belehren zu lassen. Das ist der ganze Unterschied zwischen uns beiden. – Oder was meinst du selber? Ich war, wie du weißt, kaum vierzehn Jahre alt, als ich zusammen mit meiner Mutter und meinem Bruder Jean auf der Landstraße stand mit zwei nackten, leeren Händen, weil ein gewisser Schlingel die letzten Überreste unseres Heims in einer Nacht bei einem lustigen Champagnerfest verspielt hatte.«

»Thora! Thora! So sprichst du von deinem Vater!«

»So spreche ich von dem, der meiner Mutter Haar ergrauen machte, ehe sie dreißig Jahre alt war, und uns unseres Vermögens beraubte – zweihundertundvierzigtausend Kronen – um seine Buhlen in Seide kleiden zu können. So spreche ich von dem, der trotz alledem die Achtung aller Welt genoß und bis an seinen Tod von der guten Gesellschaft, ja, von dem Könige selber, geehrt wurde, – während Jean, der arme Junge, nach Amerika reisen und vor Hunger und Schande sterben mußte, weil er zwei armselige Markstücke aus der Kasse seines Prinzipals genommen hatte, um sich dafür zu amüsieren. Mißtrauisch! – Ja, das bin ich – das ist wahr! Gott sei Dank! Denn das habe ich gelernt, daß von allen seltenen Dingen unter den Menschen die Redlichkeit das seltenste ist, und daß niemand in den Augen der Leute strafbarer ist, als derjenige, der das Verbrechen verfolgt und brandmarkt.«

Sie hatte, während sie sprach, unverwandt zu der Lampenflamme aufgesehen. Jetzt ließ sie ihre Augen zu dem Kranken hinübergleiten, der noch halb bewußtlos vor Ermattung mit abgewandtem Gesicht dalag.

»Nur ein einziges Mal, seit ich erwachsen war, vergaß ich mein Mißtrauen, Niels. Das war an jenem Johannisabend im Walde, als ich dir mein Jawort gab und glaubte, daß auch dein Wort für Zeit und Ewigkeit gelte. Ich vergaß damals wirklich auf kurze Zeit, daß auf das Wort eines Menschen, selbst auf das feierlichste, kein Verlaß ist, und daß Ja und Nein im Grunde die gleiche Bedeutung haben.«

Abermals richtete der bleiche Kopf sich ein wenig von den Kisten auf.

»Mich darfst du nicht anklagen, Thora! – – Gott ist mein Zeuge, daß mein Versprechen ebenso aufrichtig gemeint war wie das deine. Wer aber trägt die Schuld daran, daß es so ging, wie es ging? – – Mein Gewissen ist ruhig. Ich weiß, daß ich immer der nachgebende Teil gewesen bin – daß ich immer Versöhnung gesucht habe. Du aber wolltest Krieg! Und doch liebte ich dich, auch in deinem Zorn, – – das weißt du nur zu gut. Auch nicht in Gedanken bin ich jemals dir oder unserem Heim treulos gewesen, bis schließlich alles zwischen uns zusammenbrach. Vor des Allmächtigen Thron kann ich schwören –«

»Schwöre nicht, Niels! Du kennst dich selber nicht, hast dich nie gekannt! Du sagst, du hast mich geliebt, und ich glaube, daß es wahr ist. Aber treulos – das warst du in deinen Gedanken und in deinem Herzen von dem ersten Tage an, als wir einander gehörten!«

»Was sagst du!«

»Nur die Wahrheit, Niels! – Ich habe nie mit dir darüber gesprochen, weil ich fühlte, daß du mich doch nicht verstehen würdest. Du fandest ja einmal, daß ich alles mißverstand und alles verdrehte, da gab ich es auf, mich zu erklären. Jetzt sollst du aber doch wissen, wie bald schon ich begriff, daß das, was später geschah, sich vorbereitete. – Entsinnst du dich des Städtchens Immenstadt, wo wir ein paar Tage auf unserer Hochzeitsreise wohnten? Wir waren schon vier oder fünf Monate unterwegs gewesen, waren ermüdet von dem Reiseleben und sehnten uns nach Hause. Namentlich ich war wohl ungeduldig, denn Esther war um jene Zeit ja sozusagen schon da. Wir kamen am Abend dort an, und ich glaube bei Regenwetter und infolgedessen ein wenig übelgelaunt; was es aber sonst gewesen sein mag, was den Anlaß zu der Uneinigkeit zwischen uns gegeben hat, weiß ich wirklich nicht mehr, und das ist auch einerlei. Ich weiß nur, daß wir an jenem Abend unsern ersten ernsten Streit hatten, und daß wir beide furchtbar erregt davon waren. Wir waren jung und verliebt. Wir hatten in einem einzigen, langen, tiefen Liebesrausch gelebt, und nun standen wir uns plötzlich mit verzerrten Zügen gegenüber und schleuderten uns beleidigende Worte wie ein paar gehässige Feinde zu. Ich will gern einräumen, daß ich wahrscheinlich am wenigsten rücksichtsvoll gewesen bin – das liegt nun einmal so in meiner Natur – aber in diesem Falle ist es durchaus nicht von Belang. Am nächsten Morgen hatten wir uns noch nicht wieder ausgesöhnt, aber beim Frühstück versuchtest du eine Annäherung, die ich wohl abgewiesen habe. Du sagtest dann – ich entsinne mich noch eines jeden Wortes – daß wir jetzt vergessen wollten, was geschehen sei, und du fügtest, um mich zu trösten, hinzu – beachte es wohl! – daß wir ja auch nicht unlöslich miteinander verbunden seien, und daß, wenn es sich wirklich herausstellen sollte, daß wir nicht so gut zueinander paßten, wie wir geglaubt und gehofft hatten, deswegen unser Leben und unser Glück nicht für immer verspielt zu sein brauche. – Was ich bei diesen Worten empfand, kann ich wohl nur unklar schildern. Es war, als ob die Sonne am Himmel mir plötzlich eine Grimasse zuschnitt. Was für mich unerschütterlich war wie die Grundfeste der Erde selber, das war deiner Auffassung nach nur ein Arrangement, das nach unserem Fürgutbefinden beliebig geändert werden konnte. Und da saß ich mit unserem Kind unter dem Herzen und wußte von diesem Augenblick an, daß du uns einmal, wenn die Versuchung an dich herantrat, verlassen würdest. Später fiel das Wort ›Scheidung‹ ja häufiger zwischen uns, – allemal aus deinem Munde, anfangs immer als Trost, später als Drohung. Aber das machte seinen Eindruck auf mich; ich war schon lange darauf vorbereitet. Du weißt selber, daß ich dich trotzdem nie mit Eifersucht geplagt habe, obwohl du mir oft Anlaß dazu gegeben hast. Ich wußte, ich hatte kein Recht über dich; und für unsere Gefühle haben wir überhaupt wohl selber keine Verantwortung. Eins aber tat ich, weil es mein Recht und meine Pflicht war. Ich suchte beizeiten mich und mein Kind zu schützen, indem ich, soweit dies in meiner Macht lag, für unsere Zukunft sorgte. Ich wollte nicht zum zweitenmal mit zwei leeren Händen auf die Landstraße hinausgestoßen werden und das Schicksal meiner Mutter teilen.«

»Das zu befürchten, hattest du wohl keinen Grund, Thora«, unterbrach er sie – er hatte während ihrer langen Rede ganz still dagelegen und mit geschlossenen Augen gelauscht – und es war nur ein milder Vorwurf in seinem Tone zu spüren.

»Ja, das kannst du jetzt wohl sagen. Aber vielleicht war trotzdem Grund vorhanden. Du hattest immer im Überfluß gelebt – – daher stammte ein gut Teil unseres Unglücks. Du hattest dich daran gewöhnt, das Geld mit vollen Händen auszustreuen, und wolltest das, was du meine ›Gespensterfurcht‹ vor der Armut nanntest, nie verstehen, konntest es mir nie verzeihen. Hat man sich aber einmal für das trockene Brot demütigen müssen, so lernt man, auch die Krumen zu achten.«

Sie schwiegen jetzt beide eine Weile, während die Uhr im Nebenzimmer die volle Stunde schlug und die andere drinnen im Saal ihre muntere kleine Walzermelodie ableierte. Als gleich darauf auch das Schlagwerk der Turmuhr durch das Haus geschallt war, fuhr Frau Engelstoft, die inzwischen wieder in dem Testament gelesen hatte, fort:

»Sage mir doch, Niels, würdest du wirklich den Mut gehabt haben, Esther zu erzählen, daß du – der du ihr gegenüber doch wohl etwas gutzumachen hattest – sie nun auch enterbt, ihr Eigentum einer Bande von Dieben und Betrügern zum Raube hingeworfen hast?«

»Ich versichere dich, Thora, sie wird keine Not leiden. Ich habe ihr in reichlichem Maße alles gesichert, was ihr dem Gesetz nach zukommt, und noch ein gut Teil mehr obendrein.«

»Das brauchst du mir nicht zu sagen. Ich wußte im voraus, daß du das Gesetz auf deiner Seite hattest. Das pflegt man stets so einzurichten, wenn man eine Ungerechtigkeit begeht. Du hattest auch das Recht auf deiner Seite, damals, als du mich mit Schimpf und Schande aus meinem eigenen Hause vertriebst und mein Kind vaterlos machtest. Aber es gibt ungeschriebene Gesetze, Niels, die Rache üben! Und ich sage dir: du hast kein Recht zu dem, was du hier getan hast. Esther sei hinreichend gesichert, behauptest du. Woher weißt du das? Nichts ist sicher, alles kann zugrunde gehen, und man kann die Zukunft seiner Kinder nicht solide genug sichern. Aber selbst wenn das der Fall wäre? Sofiehöj ist Esthers Kindheitsheim. Hier hat das Kind die ersten sechzehn Jahre verlebt. Hier in diesem Zimmer ist sie geboren. Da ist sein Baum draußen im Garten, den sie nicht kennt und lieb hat. Ich weiß, daß alle ihre liebsten Erinnerungen mit diesem Gut, mit seinen Wäldern und Wiesen und Bächen verwachsen sind, mit denen allen sie auf ihre kindliche Weise zusammen gelebt, an die sie in Gedanken ihre ganze Zukunft geknüpft hat, in der festen Überzeugung, daß sie das alles einstmals mit dem Recht der Liebe und der Geburt ihr eigen nennen würde. Ich kann das so bestimmt sagen, weil ich weiß, wo sie in diesen langen Jahren der Landesflüchtigkeit mit ihren Träumen, mit ihrem Sehnen gewesen ist, das arme Kind! Und das alles willst du ihr rauben! Willst du von Fremden besudeln lassen!« –

Sie schwieg, weil sie erwartete, daß er etwas erwidern würde. Als er aber nichts sagte, fuhr sie fort:

»Und ich selber? Bist du noch immer der Ansicht, daß ich hier keine Forderungen geltend zu machen habe? Ja, ich weiß sehr wohl, als wir zuletzt miteinander sprachen und du deinen Rechtsanwalt zu Hilfe gerufen hattest, da zwanget ihr mich, Verzicht zu leisten. Das sei die Vorschrift des Gesetzes, sagtet ihr. Aber jetzt sind wir allein, Niels. Was uns damals trennte, ist nicht mehr. Und nun verlange ich wieder mein volles Recht für mich und mein Kind. Hörst du? Ich verlange, daß Sofiehöj ganz und ungeschmälert Esther als deiner einzigen, rechtmäßigen Erbin und mir als ihrer Mutter und Vormünderin zufallen soll. Ich stehe nicht von dieser Forderung ab! Es ist mein Recht und meine Pflicht!«

Der Kranke schwieg noch immer. Er war selber nie frei von Gewissensbissen wegen des Testaments gewesen, und nur das eifrige Zureden des Schwagers wie auch die Überzeugung, im Geiste des Christentums zu handeln, hatten ihn dazu vermocht, es zu errichten. Die Worte seiner Frau machten jetzt deswegen einen starken Eindruck auf ihn, obwohl ihr drohender Ton ihn empörte. Aber er war in diesem Augenblick gar nicht imstande, zu sprechen. Die Gemütsbewegung schnürte ihm wie mit eiserner Hand die Kehle zu. Das Blut sauste an seinen Ohren vorüber, und das Herz hämmerte ihm in der Brust und im Rücken.

Frau Engelstoft mißverstand indessen den Grund seines Schweigens.

»Verbrenne das elende Papier!« sagte sie jetzt völlig unbeherrscht, indem sie das zierliche Dokument des Schuldirektors in zerknittertem Zustand auf sein Bett warf. »Wirf es in den Ofen und laß es nicht von neuem Schande über uns alle bringen! Siehst du denn nicht ein, wie es uns verhöhnt und wie es dich selber brandmarkt! Willst du uns zum zweitenmal der Schande und der Entehrung preisgeben! Soll deine Tochter, wenn sie das Heim ihrer Kindheit nennen hört, über ihren Vater erröten, der es ihr stahl, um es zum ehrenden Andenken an die zu machen, an die – Dame, um derentwillen er ihre Mutter verstieß? – – Und du sagst, du hast ihr eine Jahresrente aus Sofiehöj gesichert. Wie hübsch von dir! Du mußt dir eine ganz eigenartige Vorstellung von dem Stolz deiner Tochter gebildet haben, wenn du glauben kannst, daß sie als Almosen annehmen wird, was ihr als Recht zukommt –«

Sie hielt inne, noch immer auf eine Erwiderung wartend.

Von dem Bett her drangen schwache, röchelnde Laute an ihr Ohr, und der weiße Kopf bewegte sich auf dem Kissen hin und her. Da begriff sie plötzlich, daß hier etwas vor sich gehe. Sie erhob sich und rief die Pflegerin, die beim ersten Blick sah, daß ein Krampf im Ausbruch war.

Schnell holte Schwester Bodil eine kleine Flasche aus ihrem Zimmer und zählte einige Tropfen auf einen Löffel.

»Schnell, schnell, so beeilen Sie sich doch«, rief Frau Engelstoft, die beim Anblick seiner Leiden ganz verwandelt war.

Schwester Bodil führte den Löffel an den Mund des Kranken. Aber es war zu spät. Die Lippen waren fest zusammengepreßt. Die Glieder erstarrten. Der Todesschweiß rann ihm in Strömen über das Gesicht.

Nach wenigen Minuten hauchte er das Leben aus, den Kopf gegen die Schulter der Pflegerin gestützt.

»Es ist vorbei!« sagte sie und legte den plötzlich erschlafften Körper vorsichtig in die Kissen zurück.

Unbeweglich, wie eine schwarzverhüllte Statue, stand Frau Engelstoft an der andern Seite des Bettes und stützte sich mit der Hand auf das hohe Fußende. Jetzt, wo er dahingegangen war – unwiderruflich in Gegenden entrückt, wo ihn ihre Stimme nicht mehr erreichte – ward es auch in ihrem eigenen Innern stille. Dieser tote Körper, unempfindlich für Liebe und für Haß, machte sie demütig. Die großen Gefühle des Lebens schwanden in einem einzigen Augenblicke dieser blassen Leiche gegenüber, deren Züge mit jeder Minute deutlicher den Stempel der steinernen Ruhe der Ewigkeit annahmen, zu etwas Bedeutungslosem dahin. Und plötzlich, als die Pflegerin hinausging, um das Hausgesinde zusammenzurufen, kniete sie neben dem Bette nieder und preßte einen Kuß auf die Hand des Toten, auf die Stelle, wo einstmals ihr Ring gesessen hatte.

Als sie Schwester Bodil in das anstoßende Zimmer zurückkehren hörte, erhob sie sich. Im selben Augenblick gewahrte sie das Testament, das vom Bett auf den Fußboden geglitten war, als sie es in ihrem Zorn auf die Bettdecke geworfen hatte, und dieser Anblick rief sie mit einem Schlage in die Wirklichkeit des Lebens zurück. Blitzschnell – von einer Eingebung geleitet – griff sie nach dem Testament und hatte es gerade unter ihrer Kleidertaille geborgen, als die Pflegerin eintrat.

Jetzt erschienen auch die Haushälterin und der Gutsschreiber ganz bestürzt. Später kamen der Verwalter und andere Gutsleute. Die ganze Nacht war die Leiche von Menschen umstanden, bis sich gegen Morgen das Gericht einfand und die Sachen des Verstorbenen versiegelte.

 


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