Wilhelm von Polenz
Wald
Wilhelm von Polenz

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XII.

Eine große Ruhe war über Anna gekommen, seit sie mit Rüstädt gesprochen hatte. Was er vorhabe, wußte sie nicht eigentlich, aber sie hatte das sichere Gefühl, daß er alles zum Guten hinausführen werde. Wirklich getröstet legte sie den Heimweg zurück.

Der Oberförster war noch nicht heimgekehrt, wie sie richtig berechnet hatte. Er kam erst abends. Anna brachte es über sich, ihn nach Hellmut zu fragen. Seltmann war mißgestimmt und ließ nicht viel heraus. Nur daß der Knabe sich nicht in die Neuordnung der Dinge habe fügen wollen, deutete er an; das sei ihm aber schnell ausgetrieben worden.

Anna mußte sich mit diesen hingeworfenen Brocken begnügen, sie sagten ihr genug. Aufs neue fühlte sie sich in Unruhe gestürzt. Im Geiste sah sie ihren Jungen in dem fremden Hause, bei diesen kalten, ihm feindlich gesinnten Leuten. Weinend mochte er sich zu Bett geschlichen haben, mochte sich trostlos und ratlos nach der Mutter sehnen, gleich ihr keinen Schlummer findend.

Am nächsten Morgen wollte sie nochmals ernstlich mit dem Oberförster sprechen. Vielleicht würde er doch ein Einsehen haben und Hellmut kommen lassen. Die Unterredung, die sie heute mit Rüstädt gehabt, hatte ihr Selbstvertrauen gehoben. Sie traute sich zu, ihrem Manne die Stirn zu bieten.

169 Aber als sie bei hellem Tageslicht erwachte, fand sie, daß sie sich verschlafen habe. Der Oberförster war bereits ins Revier gegangen. Anna erwog bei sich, ob sie es nicht wagen solle, anspannen zu lassen und zu Pastor Waibel zu fahren, um Hellmut zu besuchen. Wenn sie ihn auch nicht mit sich fortnehmen durfte, so konnte sie ihm doch wenigstens einige Eßwaren zustecken. Es wurde nämlich behauptet, die Pastorin knausere mit dem Essen, und Anna glaubte solchem Gerüchte nur zu gern.

Sie saß, dieses und Ähnliches bedenkend, noch am Frühstückstische, als sie auf ein scharrendes Geräusch an der Außenwand aufmerksam wurde. Nach dem Fenster blickend, erkannte sie dort auf einmal das Gesicht ihres Jungen, die Nase gegen die Scheibe gedrückt, mit feuerroten Backen, wie er großäugig ins Zimmer starrte.

Anna saß einen Augenblick starr vor Schreck, dann sprang sie ans Fenster. Hellmut, der auf einem Sägebock stand und sich auf den Fußspitzen zu dem für ihn noch immer hohen Parterrefenster emporreckte, machte der Mutter verstohlen allerhand Zeichen. Sie verstand; der Vater war nicht da, er konnte ruhig sein. Sie öffnete einen Fensterflügel und küßte den Jungen mitten ins Gesicht. Darauf war sie ihm beim Einsteigen behilflich.

Als Hellmut in dieser Weise eingedrungen war, fiel er seiner Mutter in die Arme, noch völlig außer 170 Atem. Er hatte zwei gute Stunden Wegs hinter sich, die er zum größeren Teile im Trabe zurückgelegt.

Nachdem man sich genug gethan mit Umarmen und Küssen, ging Hellmut an den gedeckten Tisch, an dem sein Blick begehrlich haften blieb. Die Mutter fragte ihn, ob er denn schon etwas genossen habe. Er erzählte, er sei vor allen andern im Pfarrhause aufgestanden und davongelaufen.

Natürlich gab das der Mutter Anlaß, das Kind zu bedauern und von neuem an ihr Herz zu schließen. Was irgend an Leckerbissen im Hause war, schaffte sie heran und hatte die Genugthuung, den Jungen tapfer einhauen zu sehen.

So saßen die beiden einander gegenüber, als sei nichts geschehen. Hellmut erzählte von lustigen Streichen, die sie in der Klasse ausgeführt hatten, und die Mutter, in diesem Augenblicke selbst ein großes Kind, erlebte alles mit.

Als der Junge gesättigt war, drängte sich die Frage auf: was weiter? Da wurde sich Anna freilich mit einem Male wieder bewußt, was über ihr schwebe. Was sollte werden, wenn der Oberförster zurückkehrte? Wie würde er Hellmuts Flucht aufnehmen? Wie sollte man seinen Zorn beschwichtigen? Ratlos stand sie vor solchen Fragen.

Aber Hellmut hatte schon einen Plan fertig. Nicht ohne Nutzen hatte er seine Indianerbücher gelesen. Er 171 wollte mit der Mutter fliehen, weit weg. Eßwaren sollten mitgenommen werden für einige Tage, und damit in den Wald. Diesen Gedanken trug er mit Feuer und nicht ohne Beredsamkeit vor; ihm war es völlig ernst mit seinem Vorschlage.

Die Mutter schüttelte traurig den Kopf; das ging ja nicht! Ihr wurde jetzt erst die ganze Schwierigkeit ihrer Lage klar, als das Kind seinen abenteuerlichen Plan auskramte. Was sollte sie thun? Den Jungen zu Pastor Waibel zurückschicken? Auf keinen Fall! Ihn hier versteckt halten? Wie bald mußte das an den Tag kommen! Und das Kind, das jetzt mit strahlenden Augen vor ihr saß, der strafenden Hand des Vaters überantwortet zu sehen, das brachte sie auch nicht übers Herz.

Ihre Gedanken gingen wieder den Weg, den sie in letzter Zeit immer gegangen waren, wenn sie um Rat und Hilfe verlegen war. Kein andrer konnte hier helfen! Dem Ratschlage, den er ihr geben würde, wollte sie sich blindlings unterwerfen.

Hastig machte sich Anna zum Ausgang bereit und befahl Hellmut, mitzukommen. Sie sagte ihm nicht, was sie vorhabe, denn noch scheute sie sich, den Namen »Rüstädt« vor des Kindes Ohren zu nennen.

*

172 Rüstädt hatte eine schlaflose Nacht außerhalb des Bettes zugebracht. Das Erlebnis vom gestrigen Tage hatte ihn in der Tiefe aufgewühlt. Er verlebte eine Reihe jener seltenen Stunden, wo der Mensch unter dem Hochdrucke des Außerordentlichen, befreit von allen kleinlichen Rücksichten und Erwägungen, zu großen, freien, weit in die Zukunft vorgreifenden Entschlüssen gelangt.

Das Ergebnis war: er wurde Anna heiraten.

Wahrlich, nicht leichten Herzens war Rüstädt zu diesem Entschlusse gekommen. Er wußte, daß Minne und Ehe zwei grundverschiedene Dinge sind. Er gab seine Freiheit auf. Er, der so sehr an einem ruhigen Dasein hing, er, der für die Einsamkeit so viel Gaben mitbrachte, sollte sich fortan in die zerreibenden Sorgen des Familienlebens schicken! – Und was tauschte er für seine geliebte Unabhängigkeit ein? Konnte er sicher sein, mit Anna glücklich zu werden? Würde sie nicht vielleicht in der Ehe ganz andre Seiten hervorkehren als die lichten Züge, die er jetzt an ihr sah? Würde nicht von vornherein ein Schatten liegen auf ihrem Glücke: die nicht aus der Welt zu schaffende Thatsache, daß sie zuvor einem andern angehört, und das Bewußtsein, daß sie gemeinsam diesen andern hintergangen hatten? Waren das nicht verhängnisvolle Morgengaben?

Aber wenn Rüstädt auch alles das klar vor sich 173 sah, so stand dieser Gedankenreihe doch eine andre, ebenso geharnischte gegenüber: das Bewußtsein, wie viel er gut zu machen habe. Ob er glücklich werde, das war eine Frage von untergeordneter Bedeutung der ehernen Pflicht gegenüber. Seine Ehre war verpfändet in dieser Sache. Er konnte Anna nicht im Stiche lassen in einer Lage, der sie nicht gewachsen war, und in der sie, blieb Hilfe aus, zu Grunde gehen mußte. Keiner der Vorwürfe, die er sich seit gestern gemacht, war schwerer auf sein männliches Selbstbewußtsein gefallen als der, daß er den feigen Versuch gemacht hatte, eine Frau für sich in die Bresche springen zu lassen. Er hätte sich selbst verachten müssen, wäre er ein zweites Mal der Gefahr aus dem Wege gegangen.

Nun hatte er der Notwendigkeit mutig ins Angesicht geschaut, und da war ihm diese Antwort geworden.

Daß Anna einwilligen werde, stand für Rüstädt fest. Niemals zwar war zwischen ihnen über diese Möglichkeit gesprochen worden, aber unausgesprochen hatte es oft genug in der Luft geschwebt, zu heikel, um mit nüchternen Worten abgemacht zu werden. In der Frage der Frau: »Was wird aus mir?« hatte es mit inbegriffen gelegen.

Wie aber würde sich der Gatte zu der Frage einer Scheidung stellen? Wußte er alles? Und wenn, mußte er dann nicht das Verlangen hegen, eine Ehe aufzulösen, 174 die, längst zur Lüge geworden, nur ein Ärgernis bedeuten konnte für jeden Mann von Ehre? –

Aber der Oberförster – wie ihn Rüstädt kannte – war ein verschlossener, schwer zu berechnender Charakter. Konnte man wissen, was im Laufe eines sechzigjährigen Lebens für Ansichten und Grundsätze sich bei ihm abgelagert und versteinert haben mochten? – Er dachte an manchen Zug von Eigensinn und Trotz, den er an dem Alten beobachtet. Er dachte auch an jenes nächtliche Zusammentreffen neulich auf der Fuchslehde, und an den unheimlich haßerfüllten Blick, mit dem ihn der Oberförster da gemessen hatte.

Leichten Kaufes würde er seine Rechte an Anna jedenfalls nicht aufgeben. Sein Weib mußte ihm schließlich doch ans Herz gewachsen sein in zehnjähriger Ehe. Einmal hatte er sie doch geliebt! War nicht ein Zeugnis dafür da, das deutlich sprach? –

Ja, dieses Kind! Das war ein andres schweres Bedenken. Gesetzt den Fall, der Oberförster willigte in die Scheidung, würde er nicht den Knaben für sich beanspruchen? Hatte er nicht bereits den ersten Schritt gethan, das Kind den Händen der Mutter zu entziehen? Gewiß, wenn er Hellmut behielt, so bedeutete das eine große Verantwortung und eine Last weniger für Rüstädt; aber wie würde Anna, die so an dem Jungen hing, eine solche Maßregel ertragen?

Alle diese Fragen gehörten schließlich vor den 175 Richter, das wußte Rüstädt wohl. Er selbst war in Rechtssachen wenig bewandert. Aber er ahnte, daß es von Bedeutung sei, wie eine solche Angelegenheit von vornherein in die Wege geleitet werde, und daß durch Unkenntnis des Gesetzes hierin leicht viel versehen werden mochte.

Er entschloß sich daher, an einen Jugendfreund zu schreiben, der Jurist war. Er schilderte ihm seinen Fall, ohne Namen zu nennen, als suche er Rechtsbelehrung für dritte Personen.

Rüstädt schrieb eben an diesem Briefe, als Anna ihren Jungen an der Hand, bei ihm eintrat.

Die herzliche, lebhafte Freude, die Hellmut beim Wiedersehen mit seinem Freunde und Gönner an den Tag legte, half über die Befangenheit der Begrüßung hinweg. Rüstädt, dem Annas Besuch völlig unerwartet kam, glaubte zu bemerken, daß sie allein mit ihm zu sprechen wünsche. Er schickte also den Jungen ins Freie; einen günstigen Vorwand dazu gaben ihm die Hunde ab, die Hellmut noch nicht kannte. Sobald er fort war, berichtete Anna in Hast, was sich inzwischen ereignet habe.

Rüstädt erkannte sofort, daß hier ein arger Fehler begangen worden sei. War nicht dem Oberförster eine neue schwere Kränkung zugefügt dadurch, daß man eigenmächtig in seine Vaterrechte eingegriffen? Und auf ihn, Rüstädt, mußte der Verdacht fallen, als 176 unterstütze er solches Thun. Wie erschwerte dieser unbedachte Schritt Annas das, was er vorhatte! Wieder einmal waren die Ereignisse schneller vorangeschritten, hatten einen ganz andern Weg genommen, als zu berechnen gewesen.

Sollte er Anna deshalb Vorwürfe machen? Von ihrem Standpunkte aus hatte sie ganz natürlich gehandelt! Furcht und Verzweiflung hatten sie von ihrem Gatten weg zu ihm getrieben. Es konnte ihn ja nur mit Stolz erfüllen, welche Größe des Vertrauens sie ihm fort und fort zeigte.

Er mußte nun endlich offen mit ihr reden.

Obgleich Anna auf die Frage, die er jetzt an sie richtete, seit seinen gestrigen Abschiedsworten nicht völlig unvorbereitet war, so kam ihr sein wirklicher Antrag doch mit erschütternder Wucht. Eine körperliche Schwäche befiel sie, sie mußte sich setzen; unter Thränen nur vermochte sie ihm endlich ihr Jawort zu geben.

Er achtete ihre Ergriffenheit. Keine knabenhafte Leidenschaftlichkeit – das fühlte er – war hier am Platze. Das Verlangen, sie in seine Arme zu nehmen, kam ihm zwar beim Anblicke ihres in seiner Verschämtheit doppelt lieblichen Gesichtes, aber er unterdrückte diese Wallung. Denn jetzt, wo er sie als seine Braut betrachtete, wo er den Entschluß gefaßt, diese Frau über alle Hindernisse hinweg zu der seinen zu machen, achtete er sie höher, war sie für ihn ein 177 Heiligtum geworden, dessen Reinheit er um keinen Preis der Welt hätte entweihen mögen.

Rüstädt hätte es Anna gern erspart, diese glückliche Stunde durch Vernunfterwägungen und Sorgen um das Nächstliegende zu stören, aber es ging nicht anders; die Ereignisse trieben gebieterisch auf eine Lösung hin.

Zunächst mußte der Junge seinem Vater wieder zugeführt werden. Und wenn auch Anna bat und Vorstellungen machte, Rüstädt fühlte zu sicher, daß er im Rechte sei der weiblichen Logik gegenüber. Freilich wurde es ihm schwer genug, ihren rührenden Bitten gegenüber standhaft zu bleiben.

Eines versprach er zu thun: er wollte den ersten Grimm des Oberförsters selbst bestehen. Er wollte zu ihm gehen, ihm sagen, was sich inzwischen ereignet, ihm erklären wie es gekommen, und so weit wie möglich ihn zu großmütigem Verzicht zu stimmen versuchen.

Der Gang war nicht leicht, aber er mußte gethan werden. Vor allem jetzt Offenheit, sagte sich Rüstädt, nachdem durch Heimlichkeit bereits so viel gesündigt worden war.

In dieser Absicht machte er sich auf den Weg nach der Quellenhayner Oberförsterei. Anna sollte einstweilen mit Hellmut in seinem Hause bleiben. Erst mußte von Mann zu Mann alles ins Gleiche gebracht 178 sein, ehe er zuließ, daß sie dem Gatten wieder unter die Augen trete.

Als er ging, standen Anna und Hellmut in der Hausthür und sahen ihm nach. Am Waldrande angekommen, an jener Stelle, wo er einst Annas Fußstapfen im Schnee entdeckt, machte er Halt und schaute sich um. Die beiden standen immer noch und winkten ihm – er winkte wieder.

Wunderbar! Die Frau und der Knabe in seinem Hause und er auf dem Wege zu dem Gatten und Vater, um sich von ihm die beiden zu erbitten!

Das Leben war doch ein rätselvolles Ding! Man faßte Entschlüsse, man bereitete Pläne vor, man erreichte Ziele, und alles das schien ohne Einfluß auf den eigentlichen Lebensgang. Die wirklich wichtigen und entscheidenden Ereignisse kamen, ohne daß man es merkte, gegen unsern Willen. Erst nach Jahren vielleicht begriff man, was man vor Zeiten gethan, und warum man es gethan. Jetzt stand er am Ende einer solchen Kette von Handlungen. Ahnungslos hatte er das vorgenommen und jenes unterlassen, ohne ein Ziel, nur dem Bedürfnisse des Augenblickes folgend, und nun war auf einmal etwas da: ein Resultat, von ihm nicht beabsichtigt, dem er sich doch fügen mußte, er mochte wollen oder nicht.

Und so in tiefer Verwunderung über das Lebensrätsel, aber auch in Ehrfurcht vor seinem tieferen 179 Sinne, von dem ihm eben eine schwache Ahnung ausgegangen, schritt er dahin und verschwand hinter den Bäumen.

Anna, an die sich der Knabe geschmiegt hatte, sah ihm noch lange nach.

*

Pastor Waibel war, nachdem Hellmuts Entweichen bemerkt worden, dem Flüchtling, von dem er richtig annahm, daß er sich dem Elternhause zugewandt habe, nachgefahren.

Aber er kam zu spät. Hellmut hatte bereits in Begleitung seiner Mutter die Oberförsterei verlassen. Niemand wollte wissen, wohin die beiden seien.

Nun dauerte es wieder einige Zeit, bis der Geistliche den Oberförster ausfindig gemacht hatte. Pastor Waibel berichtete seinem Verwandten mit einem beträchtlichen Aufwande moralischer Entrüstung die Flucht des jungen Übelthäters, und daß, wie's scheine, die eigne Mutter mit ihm unter einer Decke stecke.

Bei dem Oberförster schwoll die Zornader. Nach seiner Art sagte er nicht viel; er wisse, was er zu thun habe. Der Geistliche konnte den Heimweg einschlagen 180 mit der Genugthuung, den beiden, wann immer der Oberförster sie finden sollte, einen heißen Empfang bereitet zu haben.

Wo er Anna zu suchen habe, war für Seltmann sofort klar; er machte sich auf den Weg nach dem Mönchsroder Forsthause.

Er war noch nicht weit weg von der Oberförsterei, als ihm Schrupper nachgelaufen kam, seinen aufgeregten Mienen nach zu schließen mit wichtiger Nachricht. In der vergangenen Nacht hatte ein Kampf stattgefunden zwischen Forstleuten und Wilderern; einer der Wildschützen war, durch einen Schuß verwundet, den Förstern in die Hände gefallen, die andern waren entwichen. Die Nachricht davon hatte vor kurzem ein Kurier überbracht. Alles, was zur grünen Farbe hielt, war nun auf den Beinen; man wollte versuchen, ob man nicht auch der Flüchtigen habhaft werden könne.

Unter alltäglichen Umständen würde diese Nachricht den Oberförster in nicht geringe Aufregung versetzt haben, – was bedeutete sie ihm heute, im Vergleich zu dem, was ihm selbst widerfahren war! Er befahl Schrupper, sich an dem Kesseltreiben zu beteiligen, er selbst habe keine Zeit dazu. Kopfschüttelnd blickte der Waldläufer seinem Herrn nach; mit dem konnte heute auch nicht alles richtig sein.

Hastig schritt Oberförster Seltmann vorwärts, quer durch die Bestände, Wildwechsel und Schneisen 181 benutzend; der gewöhnliche Weg mit seinen Krümmen wäre ihn heute viel zu lang erschienen. Die innere Erregung versetzte dem alten Manne häufig den Atem; er mußte wiederholt Halt machen. Seine Frau davongelaufen! – Das Blut pochte ihm in den Schläfen, vor den Augen flimmerte es ihm.

Seltmann hatte die Ehe nie anders aufgefaßt, als daß allein der Mann Rechte habe, die Frau nur Pflichten. Das war wohl von Anbeginn so von Gott geordnet; gegrübelt hatte er darüber ebensowenig als über andre Fragen. Anna hatte er geheiratet, um den leeren Platz auszufüllen, der durch den Tod der ersten Frau entstanden war. Geliebt hatte er sie, gewiß! Es war eine Liebe, aus Gewohnheit entstanden, weil er ihr Gesicht eine Reihe von Jahren um sich gesehen, und weil sie die Mutter seines Jungen war.

Die Empörung, die der getäuschte Ehemann empfand, entsprang hauptsächlich dem Gefühle, daß er aus diesem für ihn so bequemen Zusammenleben, das außerdem sein gutes Recht war, jäh herausgerissen wurde durch ihre Untreue. Wie konnte, wie durfte ihm so etwas geschehen!

Sechzig Jahre war er geworden. In Ehren hatte er gelebt, in Treue seinem Fürsten gedient und mit Eifer seinen Beruf erfüllt. Und nun geschah ihm das!

Was wußte er von solchen Sachen! Nie hatte er sich mit Frauenzimmergeschichten eingelassen. Kaum 182 daß er hin und wieder mal gehört oder gelesen hatte, daß solche Dinge vorkämen. Ihm persönlich waren die Weiber furchtbar gleichgültig gewesen all sein Lebtag. Seine Jagd war ihm am kleinen Finger lieber als alle Liebesabenteuer.

Und zum Lohne dafür, daß er sich so anständig geführt und so solid gehalten, brach nun diese Katastrophe über ihn herein!

Seine Entrüstung wäre vielleicht nicht so stark aufgeflammt, wenn nicht Pastor Waibel das Eisen geglüht hätte. Seltmann erfuhr durch ihn, daß solche Vergehungen nach göttlichem und menschlichem Recht unverzeihlich seien, und daß er als Gatte und Vater die Pflicht habe, mit unbarmherziger Strenge gegen die Missethäter vorzugehen.

Die bittersten Gefühle hegte Seltmann gegen Rüstädt. Er sah in ihm einen abgefeimten Buben, der, die Gastfreundschaft mißbrauchend, Anna mit glatten Verführungskünsten umgarnt hatte. Wie hatte es dieser Fuchs verstanden, ihn zu überlisten! Wie hatte er sich in sein Vertrauen eingeschlichen, um ihm hinter seinem Rücken das Schwerste anzuthun. Daß er den Menschen nicht zeitiger durchschaut, verdroß ihn am meisten.

Der Major mochte sich vorsehen! Wäre nicht neulich, als er ihm zur Nachtzeit oben an der Grenze begegnete, Schrupper dabei gewesen, hätte er jenem 183 allein, Mann gegen Mann gegenübergestanden, einer von ihnen beiden hätte den Schauplatz nicht lebendig verlassen.

Der Oberförster war nicht mehr allzuweit von jener Lichtung auf dem Bergkamme, wo sich die nächtliche Begegnung abgespielt hatte. Schon senkte sich der Weg zum jenseitigen Hange, und bald befand er sich auf Mönchsroder Revier.

Unwillkürlich überlegte er, was er thun würde, wenn er jenem jetzt begegnen sollte, wenn man einander von neuem gegenüberstünde, so nahe, daß einer das Weiße im Auge des andern erkennen könnte. – Er wurde ihn anrufen, ihm befehlen, sich schußbereit zu machen, und dann: eins, zwei, drei! – Er glaubte kaum, daß seine Hand zittern würde.

Und während er sich noch dieses Bild ausmalte in allen Einzelheiten, fiel sein Blick von ungefähr auf einen dunkeln Gegenstand, der breit über den Weg etwa zwanzig Schritte vor ihm lag.

Ein Gegenstand? Nein, ein Mensch! Er erkannte das Haar auf dem Haupte, die Arme, die weit ausgestreckt in den Schnee griffen. Es war ein Mann. Er lag mit dem Gesicht nach unten, der grüne Jägerhut neben ihm.

Oberförster Seltmann blieb stehen wie angedonnert. War das Wirklichkeit, was er sah? Ein ähnliches, zum Verwechseln ähnliches Bild hatte ihm seine 184 Phantasie soeben vorgegaukelt. Unwillkürlich griff er an seine Büchse, die ihm über der Schulter hing. Nein, er hatte nicht geschossen, – daran war er schuldlos.

Dann schlich er sich auf den Zehen näher, mit großen, starrenden Augen. Ja, er war es. Er erkannte ihn jetzt ganz deutlich.

Es bedurfte einiger Zeit, bis sich der Oberförster zu entschließen vermochte, den Körper zu berühren. Er ergriff eine der feinen, weißen Hände, hob sie und ließ sie fallen.

Jawohl, er war tot! Dann drehte er die Leiche um. Der Schuß saß vorn auf der Brust. Nur wenig Blut war zu sehen, die Wunde klein, Kugelschuß. Der Tod mußte sehr schnell eingetreten sein, das Gesicht war nicht im mindesten verzerrt; im Schnee sah man keine Spuren, die auf Todeskampf gedeutet hätten.

Beraubt war die Leiche nicht; Uhr, Ringe, Brieftasche, alles befand sich an seinem Orte. Kein Zweifel, die That war von Wilderern begangen. Nichtsahnend war Rüstädt ihrer Rache für den gefangenen Spießgesellen zum Opfer gefallen. So wenig war er auf einen Überfall vorbereitet gewesen, daß er nicht einmal ein Gewehr bei sich gehabt; ein einfacher Spazierstock lag neben ihm.

Der Oberförster dachte nicht an ein Aufsuchen der Spuren, um die Mörder zu verfolgen. Er wäre es gar nicht imstande gewesen. Die Augen mit der Hand bedeckend, lehnte er an einem Baumstamm.

185 Alles, was er eben noch gedacht und gewollt, seine Leidenschaft, sein Haß waren verstummt. Diese grellen Töne mußten schweigen in Gegenwart eines Höheren, dessen Majestät sich niemand entzieht. Der Tod hatte sein ausgleichendes Wort gesprochen.

Eine ganze Weile verharrte der alte Mann so, unbewußt den toten Feind ehrend. Dann kam ihm der Gedanke, die Leiche zu bergen. Die nächsten Menschen waren Waldarbeiter, die er auf seinem Revier mit Holzfällen beschäftigt wußte. Sie herbeizuholen, machte er sich jetzt auf den Weg. Es ging nur langsam vorwärts, die Füße waren ihm wie Blei.

Endlich kam er bei den Männern an. Er hieß sie eine Tragbahre anfertigen und mit frischem Tannenreisig belegen. Zur Eile trieb er die Leute an, denn die Sonne stand bereits tief, die Dunkelheit mußte bald hereinbrechen.

Seltmann schritt den Trägern voran. Als man sich der Leiche näherte, sah der Oberförster, daß sie nicht mehr allein war. Zwei Gestalten erblickte er. Die eine neben dem Entseelten knieend, halb über ihn gebeugt: Anna! Und das Kind daneben: Hellmut!

Hatte ihn Rüstädts Tod erschüttert, so gab ihm dieser Anblick einen Stich ins Herz. Dort kniete seine Frau! Konnte er sie dem Toten streitig machen? – Sollte er hingehen und sie von ihm wegreißen? – Er war nicht im stande, einen Schritt vorwärts zu 186 thun. Es war, als stünde ein unsichtbarer Engel über jener Gruppe, der seine Schwingen über sie gebreitet hielt, jedem wehrend.

Diese dort gehörten zusammen; er besaß keinen Anspruch mehr auf sie. Freiwillig hatten sie sich abgewandt von ihm, dem andern zu. Er wollte sie nicht zurückrufen.

Und so wandte er sich, ohne daß ihn Anna oder Hellmut bemerkt hätten, und schlug den Weg nach seinem vereinsamten Hause ein.

 


 


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