Wilhelm von Polenz
Wald
Wilhelm von Polenz

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VI.

Rüstädt konnte sich nicht länger darüber täuschen: er wurde geliebt. Tausend Kleinigkeiten bestätigten es ihm. Ihr verschämtes Erröten, wenn sie einander im Hause begegneten, die Art, wie sie ihn zu meiden suchte, um doch immer wieder in seine Nähe gezogen zu werden, die verstohlenen Blicke, die er plötzlich auf sich gerichtet fühlte, wenn er jetzt wieder mit dem Ehepaare zu Tisch niedersaß, und ihre Verwirrung, wenn er sie bei solchem Blicke ertappte.

Es ist etwas Außerordentliches für den Mann, das Erkennen, daß ein Weib ihn liebt. Wie ein starker Wein wirkt es, das Blut tief erwärmend, ja um vieles berauschender noch, dieses Bewußtsein, daß ein andres Sein sich mit dem deinen zu vereinen begehrt. Das löst im männlichen Empfinden ein Triumphgefühl, dem nichts gleichkommt.

Und gerade, daß er so gar nichts dazu gethan, daß diese Liebe über ihn gekommen war wie ein Naturereignis, jäh und überraschend, das machte sie ihm zum ergreifenden Wunder. Bei allen bisherigen Liebesverhältnissen war er der begehrende Teil gewesen; hier bot sich ihm ein Wesen an, für dessen Lieblichkeit ihm die Augen erst eigentlich aufgingen, da er ihrer Neigung gewahr wurde. Wie eine Blume, die am Wege steht und spricht: ich bin da! Sollte er 99 vorüberschreiten, an sich haltend, sittlich stark wohl, aber auch um ein Glück ärmer, wie ihm wohl noch keines so verlockend gewinkt hatte?

Er stand in dem Alter, wo man sich nicht mehr mit der Keckheit des Jünglings in ein Liebesabenteuer stürzt. Das Leben hatte ihm ein Gefühl der Selbstverantwortlichkeit anerzogen. Er wußte, daß jede That Folgen hat, und daß nirgends genauere Abrechnung gehalten wird als in Liebesdingen. Er wußte auch, daß der entfesselten Leidenschaft Zaum und Zügel anzulegen, unmöglich ist. War der Zunder einmal entzündet, dann flammte der Stoß in rücksichtsloser Flamme auf. Hier gab es nur ein Entweder – Oder: Hingabe oder Flucht.

Aber sein Alter und seine gereifte Erfahrung wurden auch wieder zum Fallstrick für ihn. Die Erinnerung an Genossenes begleitete ihn auf Schritt und Tritt, ein melancholisches und doch erwärmendes Gefühl, wie man es wohl hat, wenn man in alten Büchern eingepreßte Blumen findet und entdeckt, daß sie doch noch einen schwachen Duft ausströmen.

Sollte er denn wirklich verzichten auf dieses Süßeste, was die Erde bot? Das Leben schien so arm ohnedem! Wahrlich, dann war das Alter wirklich angebrochen mit seiner grauen Langweile, wenn man auf die Gefühle verzichtete, die einem wie keine andern Kraft, Eigenart und Persönlichkeit zum Bewußtsein brachten.

100 Mehr als einmal kam ihm der Gedanke, sich der Versuchung durch die Flucht zu entziehen. Die Gelegenheit, jetzt hier abzuschließen, war gerade günstig, wo die Kulturarbeiten beendet waren. Er hatte nun alles, was es im praktischen Forstbetrieb gab, kennen gelernt, und das war ja sein ursprünglicher Plan gewesen. Freilich lautete sein Kontrakt mit Oberförster Seltmann auf ein Jahr, aber sicherlich konnte der ohne große Schwierigkeiten gelöst werden.

Aber es war ihm doch nicht recht ernst mit dem Plane, zu verreisen. Wo sollte er auch hingehen? Etwa auf die Akademie zurück? Das Semester hatte ja schon vor einiger Zeit begonnen! Und dann graute ihm auch vor dem Hörsaale, nachdem er den lebendigen Wald kennen gelernt hatte. Noch nie glaubte er die Natur so verstanden zu haben wie in diesem Frühling. Warum jetzt gerade gehen, jetzt, wo das Leben sein schönstes Fest feierte? Noch ein paar Wochen wenigstens, nur ein paar Wochen!

So wurde nichts aus der Abreise.

Seitdem der Oberförster wieder die Revierverwaltung selbst in die Hand genommen hatte, gab es für Rüstädt draußen nicht mehr viel zu thun. Er hätte, um seine Zeit auszunutzen, zu den schriftlichen Arbeiten zurückkehren müssen, die er ganz hatte liegen lassen. Aber die Forstregister und Tabellen mit ihren trockenen Zahlenreihen wollten ihm jetzt nicht mehr recht munden. 101 Er war zerstreut, seine Gedanken irrlichtelierten umher, es schien unmöglich, sie zu geordneter Geistesarbeit zusammenzufassen.

Knabenhafte Neigungen kamen über den gereiften Mann. Er begann planlos durch Wald und Flur zu schweifen wie ein verliebter Jüngling. Irgendwo im Moose oder Grase, am Bachrand auf der Wiese warf er sich nieder. Auf dem Rücken liegend, konnte er stundenlang dem Treiben der Wolken, ihrem langsamen Ineinander-aufgehen und Sich-verschieben zuschauen. Oder er pflückte Blumen, warf sie ins Wasser und sah ihnen nach, wie die einen schnell davongetragen wurden im Wirbel, die andern irgendwo in einer Krümme des Laufes hängen blieben. Nur einen Begleiter hatte er bei seinen Fahrten: Unkas, der seinen Herrn aus klugen Augen mit unverwandt zärtlichem und ergebenem Blicke ansah, als verstehe und billige er alles, auch diese Thorheiten.

Oberförster Seltmann hatte jetzt, wo der Rehbock geschossen werden durfte, seine abendlichen Ausgänge zu Birsch und Anstand wieder aufgenommen. Den Major hatte der schußneidische Alte auch jetzt noch nicht aufgefordert, ihn zu begleiten.

Aber auch Rüstädt blieb des Abends nicht in der Oberförsterei. Er fürchtete sich dort, es war ihm, als brenne ihm da der Boden unter den Füßen. Nein, nicht allein sein mit ihr unter einem Dache an diesen 102 linden, den Sinnen schmeichelnden Frühsommerabenden!

Vielmehr ging er ins Freie, nicht allzu weit weg von der Oberförsterei. Sein Lieblingsplatz war eine Waldbank, die am Rande einer großen Kultur errichtet war. Dort saß er stundenlang, belauschte den Gesang der Vögel, das Schwirren der Insekten, das friedliche Äsen des Wildes, bis der hereinsinkende Abend alle Stimmen zum Schweigen brachte und der Mond über den gezackten Wipfeln der Fichten aufstieg.

Eines Abends, als er von dort zurückkehrte, begegnete ihm im Dunkel eines schmalen Waldsteiges ein menschliches Wesen. Es mußte jemand vom Forsthause sein, denn Unkas eilte schwanzwedelnd voraus, als habe er die Witterung eines Bekannten. Erst als die Gestalt dicht vor ihm war, erkannte Rüstädt, daß es Anna sei. Sie hielt das Gesicht unter einem bunten Tuche verwahrt.

Er stieß einen Ruf der Überraschung aus; Anna hätte er zu allerletzt hier erwartet. Er wußte, daß sie nachts nicht ins Freie ging.

Unwillkürlich blieb er stehen, und auch sie machte Halt. »Ich denke, Sie fürchten sich um diese Zeit im Walde?« sagte er fast spöttisch.

»Ich! – O nein!« erwiderte sie und lachte verlegen.

»Wo wollten Sie denn hin, Frau Seltmann?«

103 Sie zögerte mit der Antwort. Dann meinte sie: sie habe nur ihrem Manne ein wenig entgegengehen wollen, der jeden Augenblick vom Anstand heimkehren müsse. Er wußte sofort, daß sie nicht die Wahrheit sprach, ihr Ton verriet sie, und zum Überfluß hatte er den Oberförster nach einer ganz andern Richtung ausgehen sehen. Ihn suchte sie also nicht.

Freudiger Schreck durchzuckte ihn, versetzte ihm den Atem.

Langsam schritten sie den schmalen Steig hinab, nach dem Forsthause zu, Seite an Seite. Es war ganz dunkel, vor ihm leuchtete der Ausgang, ein ferner, lichter, runder Fleck. Rüstädt wußte, daß die Entscheidung fallen müsse, ehe sie das Ende des Ganges erreicht haben würden. Ein leichter Schauer, wie ein Fieber, lief ihm in der schwülen Luft vom Wirbel bis zur Zehe. Keines sprach ein Wort; es war, als höre man die Herzen durch die Nachtstille klopfen.

Schon wurde das helle Thor vor ihnen weiter. Man sah die Landschaft draußen im Silber des Mondscheins gebreitet. Da beugte er sich zu ihr hinab; ihr Mund kam ihm auf halbem Wege entgegen. Ein kurzes, heißes Umfangen und ebenso schnelles Losreißen. Einige hastig gestammelte, unverstandene Laute.

So kommen sie an den Waldesrand, wo die Dunkelheit allzu jäh dem tageshellen Lichte des Vollmonds weicht. Unvermittelt machen sie Halt, sehen einander 104 in die bleichen Gesichter. Unkas steht vor ihnen und blickt sie aus menschenklugen Augen an. Sie schämen sich vor dem Tiere.

Das Forsthaus ist nicht weit. Jetzt hört man Stimmen von dort. Der Oberförster ist deutlich herauszuerkennen. Wie 's scheint, hat er gute Beute gemacht; man kann's aus seinem freudig erregten Sprechen schließen.

Wie auf Verabredung trennen sich Anna und Rüstädt, ohne Gruß. Sie eilt dem Hause zu, er in den Wald zurück.

*

Der nächste Morgen fand den Major noch spät im Bette. Er hatte eine wunderliche Nacht hinter sich. Bis zum Beginn des Morgengrauens war er im Walde umhergerannt, ohne Weg und Steg. Dann, um überhaupt in das Forsthaus zu gelangen, hatte er müssen Schrupper wecken, der ihm die Hausthür öffnete. Auf Zehen hatte er sich in sein Zimmer geschlichen. Aber obgleich von Erregung und Anstrengung erschöpft, fand er doch keinen Schlummer. Aus einer Stimmung stürzte er in die andre. Seine Phantasie malte ihm die lieblichsten Bilder vor; aber immer wieder erhob die Vernunft warnend dagegen den Finger. Unbehagen und Selbstvorwürfe behielten schließlich die Oberhand. 105 Vou fieberhafter Unruhe gequält, wälzte er sich auf seinem Lager, bis ihn ein bleierner Schlummer von allem Grübeln befreite.

Als er aufwachte, kam ihm das Erlebnis vom Abend zuvor wie ein Traum vor, und nicht einmal wie ein angenehmer. Die Sonne schien an den weißen Vorhängen vorbei hell ins Zimmer; alles sah so blank aus. Er dehnte sich und rieb sich den Kopf.

Also wieder mal ein Liebesabenteuer! Daß ihm alten Kerl noch so etwas widerfahren sollte! Er konnte es nicht ändern, er mußte vor sich hinlachen. Nein, eigentlich war das doch zu verrückt! Wiederholt den Kopf schüttelnd, kleidete er sich an.

Als er seinen Thee getrunken und sich die erste Cigarette angezündet hatte, sagte er sich, daß er nun vernünftig sein müsse. Es galt Kriegsrat halten mit sich selbst.

Die schwüle Nachtstimmung war verflogen bis auf den letzten Rest, als ob die helle Morgensonne sie ausgesogen hätte. Zur Nüchternheit des Tages erwacht, sah er die Lage völlig klar: eine verheiratete Frau liebte ihn, und er liebte sie bis zu einem gewissen Grade. Die Gelegenheit war zur Versucherin geworden. Nur dem Zufall verdankten sie, daß nichts geschehen, was nicht ungeschehen zu machen wäre. So würde es nicht wieder abgehen! Darin kannte er sich zu genau. Die arme kleine Frau! Sie spielte mit dem Feuer. 106 Sie hatte keine Erfahrung. Kopflos stürzte sie sich in ein Abenteuer, aus dem sie unversehrt nicht herauskommen konnte. Er, der Erfahrene, mußte den Kopf kühl behalten, auch für sie mit. Es wäre Schmach gewesen, ihre Arglosigkeit auszunutzen.

Nein, das wollte er ihr nicht anthun!

Er kam sich selbst sehr edelmütig vor. Wirklich, anständiger als er konnte man nicht gut handeln. Eine solche Gelegenheit nicht benutzen! Vielleicht war es übertriebene Gewissenhaftigkeit. Wie mancher würde ihn als einen Thoren verlachen!

Er wollte also das Feld räumen. Die Sache sollte in völlig unauffälliger Weise bewerkstelligt werden. Dem Oberförster würde er sagen, er habe einen wichtigen Brief erhalten, der ihn zu einer Reise nötige. Dann wollte er das übrige von auswärts schriftlich abmachen, seine Schuld berichtigen und sich seine Sachen nachkommen lassen.

Sofort fing er an, sich an die Vorbereitung dieses Planes zu machen, begann Papiere auszusuchen und zu verpacken. Das Mittagessen ließ er sich aufs Zimmer kommen unter dem Vorwande, nicht ganz wohl zu sein; in Wahrheit, um Anna nicht unter die Augen zu kommen. Nachmittags ging er aus, um auf der Posthilfsstelle seine Briefe und Zeitungen umzubestellen. Von diesem Gange zurückkehrend, wollte er dem Oberförster seine Absicht, abzureisen, mitteilen. Doch fand es sich, 107 daß dieser bereits zur Birsch ausgefahren war. Rüstädt begab sich daher auf sein Zimmer und fuhr im Ordnen seiner Siebensachen fort.

Er war noch nicht lange dabei, als sich unversehens die Thür aufthat und die Hausfrau eintrat.

Anna erschrak, als sie in dem dämmerigen Raume den Major erblickte. Mit bestürzter Miene stand sie auf der Schwelle. Einen Blumenstrauß, den sie in der Hand hielt, zu verstecken, fand sie nicht die Geistesgegenwart.

Die Blumen verrieten Rüstädt alles.

»Das ist ja wunderschön!« rief er und nahm Anna die Blumen ab. Dann lief er hastig, ein Glas zu holen, goß Wasser ein und steckte die Blumen da hinein. Vor Erregung war er ganz linkisch.

Unerhört! Sie suchte ihn auf in seinem Zimmer! Um diese Stunde, wo ihr Mann in sicherer Entfernung war.

Die Hand zitterte ihm, während er den Blumen Wasser gab; er goß über, achtete nicht darauf. Es waren bescheidene Sommerblumen, wie sie in dem Gärtchen der Oberförsterei blühten.

Anna stand noch immer an der Thür, lehnte am Pfosten mit schlaff herabhängenden Armen. Er sah nur ihren Scheitel, denn ihr Haupt war zur Brust herabgesunken. Wenn sie ein Wort gesagt hätte, wenn sie geklagt, auch nur still geweint hätte, dann wäre 108 der Zauber gebrochen gewesen. Nichts konnte ihn gewaltiger ergreifen als diese stumme Ergebung.

Ihre Haltung sagte ihm: ›Ich bin hier, ich kann nicht anders! Ich schäme mich, ich fürchte mich vor dir, aber meine Liebe ist stärker. Ich bin dein!‹

Er biß die Zähne zusammen und ballte die Fäuste, unwillkürlich, nur um dem Überschwall der Gefühle eine Ableitung zu geben. Er wußte, er stand im entscheidenden Augenblick. Wie in einen Strudel fühlte er sich hineingezogen. Seiner selbst bewußt und doch unter einem Banne, handelte er in jener unheimlichen, hellseherischen Klarheit, wie wir sie in Träumen oder in großen Gefahren entwickeln.

So trat er auf sie zu, mit lächelndem Angesicht, mit Gebärden, die voller Weihe waren. Leicht strich er ihr über das Haar und richtete ihr das gesenkte Haupt auf. Der Blick, den sie zu ihm emporschickte, kam wie aus weiter Ferne, aus unendlicher Tiefe. Langsam legte sie ihm die Hände um den Nacken und zog ihn an sich.

*

Für Anna ging mit diesem Tage ein neues Leben an. Das wirklich Entscheidende im Dasein der Frau, die große Liebe, war für sie erwacht. Zwecklos und haltlos, ein flatterndes Blatt im Winde, hatte sie sich 109 von wechselnden Ereignissen und Einflüssen dahin und dorthin wenden lassen, jetzt – so schien es ihr – hatte sie einen Ruhepunkt gefunden. Ihr Leben, meinte sie, habe von Anfang an diesem einen Ziele zugestrebt. Kein ängstliches Umhertappen gab es nun mehr, kein unfruchtbares Sehnen im Zwielicht dunkler Gefühle; die Sonne war aufgegangen, unter der fortan ihre Tage dahingehen würden.

Sie war merkwürdig ruhig geworden. Scheu und unsicher war sie bisher gewesen in ihren Handlungen, hatte gezittert in Furcht, wenn sie ihren Gatten in Kleinigkeiten hinterging; und nun in diesem Schwersten, das eine Frau einem Manne anthun kann, zeigte sie überlegene Vorsicht. Die Kühnheit des Nachtwandlers schien ihren Fuß zu leiten.

Anna hatte das Stubenmädchen entlassen, da ihr die neugierigen Augen der Person unbequem waren. Die alte Franziska, deren Sturz sie selbst im Herbst zuvor veranlaßt hatte, wurde jetzt wieder zu Gnaden angenommen. Von der war keine Indiskretion zu befürchten; denn die sah nicht rechts, nicht links von ihrer Arbeit weg.

Und dazu erleichterte der Oberförster in seiner Arglosigkeit den beiden die Gelegenheit. Seiner neu erstarkten Gesundheit sich erfreuend, war er den ganzen Tag im Revier, unternahm weite Ausfahrten, die Unterbeamten kontrollierend, und ging des Abends auf den Rehbock. Seltmann lachte den Major aus, nannte 110 ihn einen »Stubenhocker« und »Professor«, weil er ihn in seinem Zimmer in Forstjournale, Revierkarten und Holztabellen vergraben glaubte.

Inzwischen lebten die beiden in den Tag hinein, sorglos bis zum Übermut, von dem starken Tranke junger Leidenschaft berauscht. Das Glück hatte in Anna selbst das mütterliche Gewissen zum Schweigen gebracht. Sie vermochte an ihren Jungen zu denken, ohne zu erröten. Was sie früher geliebt, liebte sie jetzt um so viel inniger. Alles hatte ja neuen Wert für sie bekommen, die ganze Welt sah sie in andern und stärkeren Farben.

Sie war dieselbe geblieben und doch eine andre geworden. Jene Anna, die als Mädchen ein heiteres, sorgloses Leben genußfroh im elterlichen Hause zugebracht, war wieder in ihr erwacht. Als habe sie zehn Jahre geschlummert, – und nun war ein Prinz gekommen, der sie erweckt aus ihrem Zauberschlaf, als wären die Jahre bisher nur ein böser Traum gewesen, so lachte der sonnige Morgen, der jetzt strahlte, sie an. Nichts hatte sie eingebüßt an Jugend, Spannkraft und Schönheit. Alle ihre Triebe hatten knospenhaft geschlummert unter dem Schnee des Winters und brachen, geweckt durch die Liebkosungen des Lenzes, zur vollen Blüte auf. Es war nicht jenes bräutlich verschämte Knospen, jenes scheue Lugen der Triebe im Vorfrühling, es war das bewußte Ausbrechen der 111 Sommerpracht, wo Blatt und Frucht zugleich den Baum schmücken und die nahende Reife künden.

Und die Natur war den beiden günstig gesinnt. Kurz nur währt der Sommer hier oben; das schienen die Bäume, Blumen und Vögel wohl zu wissen. Aber in ihrem Rausche ließen sie sich nicht beirren, wenn auch der Herbst bald kommen mußte. Sie blühten und jubelten und machten Feiertag, gerade weil dem einen Sonntag sechs nüchterne Wochentage folgen mußten.

Nun hatte auch Anna den Weg gefunden zur Natur. Mit einemmal war ihr der Zauber des Waldes aufgegangen, in dem sie zehn Jahre lang gelebt mit verschlossenen Augen. Jetzt war das Märchen entzaubert. Sie sah die Pracht der mächtigen, von tausend Säulen gebildeten Hallen, das luftig gewölbte Dach darüber, die schillernden Fliesen des Bodens, die leuchtenden Fenster, durch welche die Lichtwellen ungehindert aus- und einflossen.

Der Sinn für die Schönheit des Kleinen und Kleinsten erwachte in ihr. Wie liebte sie auf einmal all die harmlosen Lebewesen um sie her in Luft und Erdreich, deren Dasein sie vordem kaum beachtet hatte. Mit kindlicher Freude beobachtete sie das Wibbeln und Kribbeln zu ihren Füßen, das Schießen und Sprießen an Baum und Strauch. Entzückt lauschte sie dem Jubilieren der Vögel unter dem Blätterwerk.

112 Der Wald wurde der liebste Freund der beiden. Er schien sie zu verstehen, wie sie ihn verstanden; er war verschwiegen, sah alles und sagte nichts. Er rauschte ihrer Liebe eine hunderttausend Jahre alte, einfache, ewig schöne Melodie.

Anna war reich geworden wie eine Königin. Eine ganze Welt war ihr geschenkt. Sie war dem Geliebten dankbar dafür von ganzem Herzen. Sie war ihm ergeben wie eine Magd. Nichts verlangte, nichts forderte sie als Liebe. Mit tausend Beweisen ihrer Neigung umgab sie ihn. Täglich fand er jetzt einen blühenden Strauß in seinem Zimmer. Wenn er ihr begegnete, flog sie auf ihn zu; ihr dunkler, tiefer Blick sagte ihm: ›Ich liebe dich!‹

Und wenn die Dämmerung anbrach und er mit hastigen Schritten in den Wald zum Stelldichein eilte, dann fand er die schon am Platze, in Sorge, daß er heute nicht kommen möchte.

Rüstädt war immer wieder von neuem überwältigt von der unerhörten Kraft solcher Hingebung. So war er noch nie geliebt worden, mit einer Liebe, die alles aufs Spiel gesetzt, alles preisgab um seinetwillen. Das war berauschend! Das erzeugte in ihm, dem reifen Manne eine Gegenglut, wie sie den Jüngling nicht entflammt haben würde.

Sie waren füreinander bestimmt, von Uranfang her. Solche Liebe gewährte einen Freibrief. Im 113 Unrecht waren Gesetz und Ordnung, die ein Weib an einen ungeliebten Mann fesselten. Sie ganz allein waren im Recht! Natur, Jugend, Frühling, der Wald, die Schönheit der Welt standen auf ihrer Seite.

 


 


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