Wilhelm von Polenz
Wald
Wilhelm von Polenz

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VIII.

Der fürstliche Aufenthalt in der Gegend dauerte reichlich zwei Wochen. Während dessen sah Rüstädt Anna kaum flüchtig einmal. Er hatte sich wieder mal in der altgewohnten Atmosphäre des Hofes bewegt, war von neuem in Berührung gekommen mit der guten Gesellschaft. Seine Glieder hatten sich doch in dem leichteren und gefälligeren Kleide wohlgefühlt, dessen er sich fast entwöhnt zu haben glaubte. Wie in einem lauen Bade, das alle Poren öffnet, war er sich vorgekommen in diesem sorglos-opulenten Dasein.

Mit einem Schlage war er wieder mitten drin gewesen in dem ganzen Ton. Der ihm angeborene Hang zur Eleganz hatte neue Nahrung bekommen. Er war wieder empfindlich geworden für die Äußerlichkeiten der Lebensführung. Er selbst fühlte den Rückschlag, es verdroß ihn, aber konnte man's ändern!

125 Als er zum erstenmal wieder mit dem Ehepaar Seltmann zu Tisch niedersaß, störte ihn die spießbürgerliche Einrichtung, die geschmacklose Art, wie gedeckt war. Und selbst an Annas Haltung fand er im geheimen manches auszusetzen. Etwas Unwägbares war es, wie eine Verstimmung der Nerven, was ihn quälte.

Die kurze Trennung hatte genügt, ihn weit von Anna zu entfernen. Er hatte sich in der Zeit der Abwesenheit auf sich selbst besinnen können. Er sah, daß er auch ohne sie zu leben vermochte, ja, daß das Leben ohne all das Demütigende, das in der Angst vor Entdeckung lag, eigentlich glücklicher und würdiger sei.

Wir befinden uns in einem fortgesetzten Wandlungsprozeß auch den liebsten Menschen gegenüber. Fast unmerklich, wie die Stellung der wandelnden Sterne, verschiebt sich das Verhältnis der Menschen zu einander. Aber auch diese nur scheinbar dunkeln Vorgänge stehen unter festen Gesetzen, wie der Gang der Gestirne und wie das Zusammenschießen der Krystalle.

Rüstädt glaubte eine andre Person vor sich zu sehen, als er, vom Hoflager zurückkehrend, Anna zum erstenmal wieder gegenübertrat. Sie hatte sich sicherlich nicht geändert in den vierzehn Tagen, aber er sah sie mit andern Augen. Es kommt ja nur auf die Beleuchtung an, in der wir Dinge und Menschen sehen; 126 unser eignes Bewußtsein ist doch die Kamera, die alles aufnimmt und alles widerspiegelt.

Seine Phantasie hatte sich in der Zeit, wo er dem Quellenhayner Forsthause fern war, viel mit Anna beschäftigt. Er war keineswegs so übersättigt, daß sie ihm nicht mehr begehrenswert erschienen wäre. Aber er sah aus der Ferne, wo die Sinne nicht mitsprechen, ihre Fehler und Unvollkommenheiten deutlicher. Er hatte sich vorgestellt, wie es sein möchte, wenn er mit ihr verheiratet wäre, bis in Kleinigkeiten hinein sich das Bild ausmalend. Bei dem Gedanken an ein tägliches Zusammensein, an all die lästigen Plackereien in enger Häuslichkeit erkannte er erst, daß die Neigung, die er für sie empfand, doch nicht von der Art und Kraft sei, um der ernüchternden Wirkung des Alltags standzuhalten.

Gewiß, sie hatte ihm ja ihr Selbst rückhaltlos preisgegeben; es konnte ihn rühren, wenn er daran dachte, wie sie ihn liebte. Aber bei aller Dankbarkeit stand doch das eine mit der Härte eines Gesetzes für ihn fest: man macht nicht ein Weib zu seiner Frau, das man unter leichteren Bedingungen gehabt!

Als ob sie etwas Böses ahne, befand sich Anna in elender Stimmung all die Zeit über, wo Rüstädt sich in der Umgebung des Fürsten aufhielt.

Sie war allein gelassen mit ihrem Jungen, denn auch der Oberförster wurde durch den Fürstendienst in 127 Anspruch genommen. Wie würde sie früher solche Freiheit genossen haben! aber in ihrer jetzigen Gemütsverfassung war ihr alle Freude vergällt. Das Kind konnte ihr nicht mehr ein und alles sein; es war ihm ein Rivale erwachsen. Und sie selbst fühlte, daß sie dem Kinde niemals wieder das sein würde, was sie ihm einst gewesen. Ja, Hellmuts Gegenwart fing an, sie zu quälen wie ein Vorwurf; denn das Bewußtsein begann in ihr zu keimen, daß sie sich als Mutter viel schwerer versündigt habe denn als Gattin.

Der Knabe begriff natürlich nichts von alledem, er fühlte nur, daß die Mutter anders gegen ihn geworden war. Unwillkürlich teilte sich etwas von ihrer unglücklichen Stimmung dem Kinde mit. Er begann in zudringlicher Kindesart die Mutter auszuforschen, was es gebe, erhielt Antworten, die sein geweckter Verstand als Unwahrheit durchschaute, und wurde auf diese Weise nur noch verwirrter.

Dazu kamen die Erfahrungen, die er mit dem Major hatte machen müssen. Hellmut konnte natürlicherweise auch hier nicht den natürlichen Zusammenhang verstehen; er fühlte nur die Zurückweisung und war gekränkt.

Man hatte ihn herausgerissen aus seiner Kindlichkeit, hatte ihn durch die Beachtung, die man ihm schenkte, verwöhnt, nun mit einem Male wandte man sich von ihm ab. Hellmut war wie aus allen Himmeln gestürzt. 128 Die erste Erfahrung war es, die der Junge mit der Wandelbarkeit der Menschengunst machte, die erste wirklich bittere Erfahrung mit dem Leben.

Auch mit Schrupper, der früher sein Intimus gewesen, hatte er ja gebrochen in dem Augenblicke, da er sich dem neuaufgehenden Gestirn des Majors zugewendet. Mit dem wieder anzuknüpfen, verbot dem Knaben etwas wie ein keimendes männliches Selbstbewußtsein. Die alte Waldine war verendet und lag draußen am Waldrande begraben neben manch anderm treuen Hunde. Dazu das Verbot des Oberförsters, ein Gewehr anzufassen! Es kam viel Unglück auf einmal für Hellmut. Er schlich trübe und unbeschäftigt umher und sah dem Ende der großen Ferien fast mit Sehnsucht entgegen.

Die mannigfaltigen feinen Fäden, die sich zwischen den drei Personen: Rüstädt, Anna und Hellmut, angesponnen hatten, schienen mit eine Male wie abgeschnitten, und was noch an Verbindung zwischen ihnen bestand, war verwirrt. Anna merkte dem Major, als er in ihr Haus zurückkehrte, sofort mit jenem gesteigerten Fühlvermögen des liebenden Weibes an, daß er ein andrer geworden sei. Sie argwöhnte, daß er sich ihr entziehen wolle.

Um dieser für sie wichtigsten Frage auf den Grund zu kommen, suchte sie eine Aussprache mit Rüstädt. Aber ein Mißgeschick, das ihn völlig unerwartet 129 getroffen, nahm die Aufmerksamkeit des Majors fürs nächste in Anspruch.

Er hatte für die Zeit, wo er der Jagdeinladung des Landesherrn gefolgt war, seinen geliebten Unkas in der Oberförsterei gelassen; denn für Anstand und Birschfahrt wäre der Vorstehhund ja nur im Wege gewesen. Schrupper, der die andern Köter versorgte, sollte auch auf Unkas ein Auge haben.

Als der Major zurückkehrte, fand er seinen Hund nicht vor. Schrupper, darüber zur Rede gestellt, gab an: als er eines Morgens das Futter gebracht, sei Unkas verschwunden gewesen, dabei die Thür des Zwingers verschlossen. Wahrscheinlich sei der Hund über die Umzäunung geklettert, um sich auf die Suche nach seinem Herrn zu machen. Er habe angenommen, der Hund sei inzwischen bei dem Herrn Major angekommen, sonst würde er längst Alarm geschlagen haben.

Inzwischen waren aber Tage vergangen. Rüstädt bereute jetzt aufs lebhafteste, den guten Hund nicht besserer Fürsorge anvertraut zu haben. Es galt nun, sich auf die Suche zu machen nach dem Tier. Keinem andern wollte Rüstädt das überlassen, er ging selbst. Oberförster Seltmann, der regen Anteil an dem Unglück nahm, gab ihm Findig, den Schweißhund, mit, der viel mit Unkas gespielt hatte, und der beim Auffinden seines Kameraden vielleicht gute Dienste leisten konnte.

130 Rüstädt durchstreifte nun die Ortschaften weit und breit; überall, wo Hunde gehalten wurden, fragte er an. Früh brach er auf, um erst spät abends heimzukehren. Mehr als einmal war er genötigt, wenn kein Wirtshaus in der Nähe war, die Gastfreundschaft eines Bauern oder eines Tagelöhners in Anspruch zu nehmen.

Er lernte dabei die Gegend erst eigentlich kennen. Immer von neuem war er entzückt von der Eigenart der Landschaft. Auch die einfachen Leute kamen seinem Verständnis näher. Er nahm mit Staunen wahr, welch ein vortrefflicher, gar nicht so ungenießbarer Kern sich unter der rauhen Schale bei dieser Art verbarg. Sowie die Leute hörten, was der fremde Herr vorhabe, waren sie sofort mitleiderfüllt zur Hilfe bereit, wiesen ihm Weg und Steg und halfen ihm sogar suchen.

Aber es war alles vergebliche Mühe. Unkas war und blieb verschwunden, und Rüstädt mußte sich allmählich mit dem schmerzlichen Gedanken vertraut machen, diesen lieben Freund eingebüßt zu haben.

Da kam eines Tages ein alter Landstreicher von jenseits der Landesgrenze und erzählte, während er in der Oberförsterei die ihm gereichte Armensuppe verzehrte, droben auf der Fuchslehde liege ein veraaster Köter; beim Beerenpflücken sei er darauf gestoßen.

Die Fuchslehde war ein berüchtigter Forstort auf dem Bergrücken, ein langgestreckter kahler Fleck mit 131 sumpfigem Untergrund, mächtige Felsblöcke darüber hin verstreut. Außer Birkengestrüpp, Wacholdersträuchern und Heidekraut wollte da nichts Rechtes fortkommen. Hier war ein beliebter Schlupfwinkel für Grenzschmuggler, Holzdiebe und Wilderer.

Man forderte den alten Vagabunden auf, den Weg zu dem Kadaver zu zeigen, – und richtig, da lag Unkas, bereits stark in Verwesung begriffen, aber doch noch erkenntlich an der ungewöhnlichen Farbe des Haares. Es stellte sich bei näherem Zusehen heraus, daß das Fell wie ein Sieb von Schroten durchlöchert war.

Der Major hatte mit Zärtlichkeit an dem edeln Tiere gehangen. Ein ehemaliger Kamerad, der nach Afrika ging, hatte ihm den Hund zum Andenken hinterlassen. Wer den Frevel verübt, war nicht zu ermitteln; man vermutete Wildschützen, die immer bereit waren, der grünen Farbe einen Possen zu spielen.

Dieses Ereignis verleidete Rüstädt den Aufenthalt in der Oberförsterei vollends. Er sehnte sich danach, sein Bündel zu schnüren und dem Quellenhayner Revier den Rücken zu kehren.

Aber er verschob die Mitteilung an den Oberförster, daß er nun gehen wolle, von einem Tag auf den andern, gewissermaßen auf einen stichhaltigeren Grund für seinen Entschluß wartend. Noch nie hatte er an sich selbst eine solche Unentschlossenheit erlebt.

132 Was ihn noch hielt, wollte er sich nicht recht eingestehen. Er versuchte, sich einzureden, sein Verhältnis zu Anna sei eine abgethane Sache. Aber eine Stimme seines Innern sagte ihm sehr nachdrücklich, daß er in dieser Form unmöglich scheiden könne. Er fürchtete sich vor dem Abschied von ihr.

*

Eines Tages kam ein Brief mit behördlichem Stempel aus der Residenz an Major von Rüstädt.

Von der herzoglichen Forst- und Domänenverwaltung wurde ihm geschrieben, daß er ins Auge gefaßt sei, im Landesforstdienst Verwendung zu finden. Dazu sei notwendig, daß er eine Prüfung ablege. Er werde daher ersucht, sich baldigst behufs Vornahme solcher Prüfung da und da einzufinden.

In einigen privaten Zeilen war noch angedeutet, daß an höchster Stelle der ausgesprochene Wunsch vorhanden sei, ihn baldigst in Stellung zu sehen.

Die Nachricht, überraschend wie sie kam, elektrisierte Rüstädt geradezu. Mit einem Male sah er die schönsten Aussichten für seine Zukunft eröffnet. Nun sollte er ein Amt, eine Thätigkeit haben, die fortan sein ganzes Leben ausfüllen würde. Das war ja von ihm erstrebt worden von dem Augenblick an, wo er der Hofcarriere entsagt. Aber daß sein Hoffen so schnelle 133 Erfüllung finden sollte, hatte er sich nicht träumen lassen. So hatte ihn sein alter guter Fürst also doch nicht vergessen! Das also war der geheime Sinn seines Lächelns gewesen, als er ihn mit »Weidmannsheil, Rüstädt!« entlassen hatte.

Und vor dem Examen bangte ihm durchaus nicht. Er fühlte sich gut beschlagen. Hatte er doch auf der Akademie mit Fleiß gehört, und sein Aufenthalt in der Oberförsterei war auch nicht umsonst gewesen.

In der ersten Erregung teilte Rüstädt dem Oberförster sogleich seine glücklichen Aussichten mit. Es war beschämend für ihn, zu sehen, mit welch aufrichtiger Freude der Alte den Erfolg seines Schülers begrüßte. Er bat, seiner Frau das mitteilen zu dürfen, und der Major konnte dazu nicht gut »nein« sagen.

Die Nachricht wurde Anna bei Tisch mitgeteilt. Rüstädt wagte nicht, in ihr Gesicht zu blicken; mit Herzklopfen wartete er auf eine Äußerung. Sie ließ keinen Laut hören, aber als er schließlich verstohlen nach ihr hinblickte, bemerkte er, daß sie sehr blaß war. Seltmann tadelte sie ihrer Gleichgültigkeit wegen und erhob das Glas, um mit Rüstädt auf alsbaldige Anstellung anzustoßen.

Nach Tisch fuhr der Oberförster aus; er werde vor Abend nicht wieder da sein, erklärte er. Es wäre ein Leichtes gewesen für Rüstädt, den Alten zu bitten, daß er ihn mitnehme, um auf diese Weise einem 134 Alleinsein mit Anna zu entfliehen; aber er that es schließlich nicht. Er wollte der Auseinandersetzung, die doch einmal kommen mußte, nicht aus dem Wege gehen.

Lange war er denn auch nicht in seinem Zimmer, als er einen leichten Schritt auf der Holzstiege vernahm, einen ihm so wohlbekannten Schritt; wie manches Mal hatte er ihm klopfenden Herzens entgegengeharrt!

Aber heute flog er nicht auf sie zu. Er ließ sie eintreten, und ohne ihr auch nur die Hand zu reichen, machte er ihr eine steife Verbeugung.

Anna nahm Platz, und jedes blickte in einer andern Richtung. So blieben sie eine ganze Weile stumm, in gedrückter Haltung, bis dem Manne der Zustand unerträglich wurde.

Er trat zu ihr und sagte, bestrebt, seiner Stimme einen angenehmen Klang zu geben: »Du hast mir nicht gratuliert, Anna!«

Sie erwiderte darauf weiter nichts als: »Du willst fort?«

»Ich muß!« beeilte er sich zu versichern. »Ich soll mich einer Prüfung unterziehen, und dazu will ich noch allerhand vorbereiten. Besuche muß man da machen, und equipieren will ich mich doch auch, falls ich wirklich bald eine Anstellung bekäme.«

»Und was wird aus mir?« fragte sie mit dem Tone echter Leidenschaft, seine in falscher Gleichgültigkeit gehaltenen Ausführungen unterbrechend.

135 Er war nicht auf diese Frage vorbereitet. Sie setzte ihn in Verlegenheit. Was aus ihr werden sollte? Lieber Himmel! Sie hatte ihr Kind, sie hatte den Kreis ihrer häuslichen Pflichten. Ja, ihre »Pflichten«, das war das lösende Wort, an das er sich klammerte. Er wies sie auf ihre Pflichten.

Sie sah ihn mit großen Augen an. Von Pflichten sprach er! Sie traute ihren Ohren kaum. Das wagte er ihr zu bieten, wo sie mit vollem Herzen zu ihm gekommen war, Hilfe suchend, das Höchste von ihm erwartend dafür, daß sie ihm das Höchste gewährt hatte! Und da kam er mit mageren Ausreden, sprach von Pflichten, die zu vergessen niemand anders als er sie gelehrt hatte! War das Hohn?

»Ja, wir müssen auseinandergehen, Anna!« sagte er und beugte sich zu ihr hinab, mit zuckenden Lippen, denn der Gedanke und fast noch mehr der Ausdruck, den er ihm verlieh, begann ihn selbst zu ergreifen. »Wir müssen! Es ist bitter. Das Herz blutet mir. Aber was soll ich thun? Sage nur selbst, was soll ich thun?«

Sie schwieg auf diese Frage. Der Vorwurf, der in diesem Schweigen lag, traf ihn.

Unruhig ging er im Zimmer auf und ab. Er fühlte, daß er etwas sagen müsse, um die Sache zum Abschluß zu bringen, und wußte doch wieder nicht, wie er es sagen sollte, denn das einfache: ›Zwischen uns 136 ist es aus und muß es für alle Zeit aus bleiben!‹ hätte doch allzu kraß geklungen. Aber wie ihr diese herbe Thatsache beibringen?

»Das ist so im Leben, Anna! Wir müssen versuchen, die Dinge zu nehmen, wie sie sind. Wir haben uns hinreißen lassen. Wer der Anlaß gewesen, will ich nicht untersuchen. Auch dein Mann ist nicht freizusprechen von Schuld. Vieles liegt in den Verhältnissen. Kurz, die Versuchung war da! Was in der Leidenschaft geschehen, ist geschehen! Aber nun, wo wir ruhiger geworden sind, wo wir die Sache mehr durch die Brille der Vernunft ansehen . . .«

Weiter kam er nicht, denn hier brach Anna, deren Miene schon während des Letzten nichts Gutes geweissagt, in einen Strom von Thränen aus.

Er wollte sie trösten, sie stieß ihn mit einer Härte, die er nicht an ihr kannte, von sich. Ihr Schluchzen wurde zum verzweifelten Stöhnen. Er fürchtete für sie und bangte auch zugleich wegen möglicher Entdeckung. Aber sie zeigte sich unzugänglich für jedes Wort der Beruhigung.

Schließlich trat er unmutig über Eigensinn und Unberechenbarkeit des Frauencharakters ans Fenster und blickte hinaus. Das Schluchzen hinter ihm wurde allmählich stiller.

Er hörte ein Geräusch und sah sich um. Anna war aufgestanden und stand an der Thür mit 137 verweintem Gesicht, auf dem Sprunge, zu gehen. Genau an derselben Stelle hatte sie gestanden an jenem für ihr Verhältnis entscheidenden Abende. Für einen Augenblick hatte er die Vision, als stehe sie noch einmal vor ihm wie damals: ›Hier bin ich, nimm mich hin!‹

Er lief nach ihr, wollte sie halten, aber sie war draußen, ehe er sie erreicht hatte.

Rüstädt blieb in großer Unruhe zurück. Eine der peinlichsten Stunden seines Lebens brach an. Er hatte das quälende Bewußtsein, taktlos, ja roh gewesen zu sein. Er hätte sich selbst ohrfeigen mögen für jedes Wort, das er gesagt hatte. Wie mußte er in ihren Augen dastehen! Sie hatte ein Recht, sich auf das bitterste über ihn zu beklagen.

Und doch, was sollte, was konnte er thun? Sollte er sein Leben etwa an diese Frau ketten? Was verband sie denn Gemeinsames als Erinnerungen, deren man sich bei nüchternem Überlegen schämen mußte? Einer solchen Frau seinen Namen geben? Nein!

Und doch hatte ihm ihr: ›Was wird aus mir?‹ in die Seele geschnitten. Dieses eine Wort offenbarte ihm die ganze trostlose Verzweiflung ihres Gemüts.

Darin glichen sich eben alle solche Verhältnisse: die Frau nimmt die Liebe viel ernster als der Mann. Sie setzt ihr Alles ein, giebt sich ohne Rückhalt. Der Mann, im Augenblicke schrankenloser und glühender, bleibt doch der Kältere und Überlegtere, hält sich immer 138 eine Thür zur Freiheit offen. So war es auch hier wieder. Was für ihn nur eine Episode gewesen, das hatte Anna aufgefaßt als den Wendepunkt ihres Daseins. Unvorsichtig, ohne jede Berechnung, hatte sie ihr Alles gesetzt auf ihn, den sie liebte. Und darum mußte sie getäuscht werden, denn sie hatte nicht gerechnet mit dem Ehrgeiz des Mannes, der vor allem sich selbst durchsetzen will und selbst die Liebe drangiebt, wenn sie ihm hinderlich ist, seine Pläne zu verfolgen.

Seit Rüstädt durch das Schreiben der herzoglichen Behörde der Erfüllung seiner kühnsten Hoffnungen um so viel näher gerückt war, schien alles, was in ihm von Energie und Ehrgeiz geschlummert, so straff angespannt, daß die feineren und weicheren Saiten seiner Natur darüber nicht zu Worte kamen. Hier galt es den Ausbau seines Lebens! Daß dabei das Glück eines andern Lebens, in das er verhängnisvoll eingegriffen, zu Grunde gehen könne, wollte er nicht sehen.

Einmal hatte der Bruch ja doch kommen müssen. Der Schnitt, je eher und je gründlicher ausgeführt, war um so leichter zu ertragen. Mit der Zeit würde ihr Schmerz Linderung finden und die Wunde verheilen.

Am nächsten Morgen schon reiste er ab. Er hatte den ersten Zug gewählt. Seine Annahme, daß Anna bei der Abfahrt nicht zugegen sein werde, bestätigte sich. Der Oberförster aber war auf den Beinen und 139 gab dem Major bis an die Grenze des Reviers das Geleite. Er sprach die Hoffnung aus, daß Herr von Rüstädt, wenn er erst den grünen Rock trage, sich wieder im Quellenhayner Forsthause zeigen werde.

Rüstädt murmelte etwas wie eine Zusage, gab sich selbst dabei aber das Versprechen, daß ihn sein Weg nie wieder hierherauf führen solle. Für ihn war dieses Lebenskapitel abgeschlossen.

 


 


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