Wilhelm von Polenz
Wald
Wilhelm von Polenz

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III.

Anna fühlte lebhafte Sehnsucht nach ihrem Jungen. Wie langsam die Zeit verging! Weihnachten wollte und wollte nicht herankommen! Hellmut schrieb zwar hin und wieder mal aus der Pension, aber das waren Briefe, wie sie solche Jungens eben schreiben, in Eile hingeworfen, von dem erfüllt, was sie gerade beschäftigt, ohne auf das einzugehen, was ihm die Mutter in ihren langen, gefühlvollen Briefen alles vorhielt, ganz in jenen naiven Egoismus getaucht, der jungen Menschen nun einmal eigentümlich ist.

51 Anna wollte mehr; sie sehnte sich nach einem warmen Tone. Sie wollte das Wort »Liebe« zwischen den Zeilen lesen. Von wem sonst konnte sie denn Liebe heischen, wenn nicht von ihrem Kinde? Sie hatte ja niemanden, würde niemanden anders haben. Zufrieden geben wollte sie sich mit ihrem Geschick, wenn ihr nur dieses Glück erhalten blieb. Das wollte sie sich nicht rauben lassen, das sollte ihr ein Ersatz sein und ein Schutz.

Auch ein andrer sah Hellmuts Kommen mit versteckter Sehnsucht entgegen: der Waldläufer Schrupper. Der alte Kerl, trotzig und wenig menschenfreundlich im übrigen, hatte sich in die Liebe zu diesem Jungen mit einem gewissen Starrsinn verbissen. Er betete das schöne, zuthuliche Kind an, wie alte Leute den Sonnenschein verehren, der ihr kaltes Blut erwärmt.

Schrupper hatte den Jungen eingeweiht in alle Künste und Schliche der Jägerei. Lange ehe der Oberförster seinem Sohne die alte, einläufige Perkussionsflinte in die Hand gegeben, hatte Hellmut aus Schruppers Doppelzeug geschossen. Birschen, Hunde abführen, Fallen stellen, Fährten ansprechen, wurden dem Sohne des Oberförsters schon mit jungen Jahren vertraute Dinge. Wenn man den Jungen nirgends finden konnte, dann wurde Schrupper gefragt, der wußte schließlich immer Auskunft über Hellmuts Verbleib. Sie hatten zusammen so eine Art Banditenfreundschaft geschlossen. 52 Manche gemeinsam begangene kleine Uebertretung band sie mit unsichtbaren Ketten aneinander. Dem »jungen Herrn« zuliebe machte sich Schrupper, der überhaupt nicht an zartem Gewissen litt, nichts aus einem Vergehen. Der Alte hätte, wenn es darauf angekommen wäre, seiner Seelen Seligkeit verkauft für den Jungen.

Hellmut kam einige Tage vor dem heiligen Abend an. Anna hatte allerhand Überraschungen vorbereitet. Der Postbote, der nur einmal des Tages von der nächsten Agentur bis zur Quellenhayner Oberförsterei den weiten Weg machte, hatte in den letzten Tagen viele Pakete gebracht. Auch für den Major war Einiges gekommen. Das Hausmädchen deutete verstohlen an, daß es bei dem Herrn oben wieder mal allerhand Interessantes zu sehen gebe; aber die Hausfrau verwies der Person diesmal den Vorwitz aufs strengste.

Anna wußte nicht recht, wie man es mit dem Gaste halten solle zu Weihnachten. Der Oberförster hatte gemeint, man möge ihn zu der Feier zuziehen, aber der Hausfrau war der Gedanke peinlich. Wenn sie sich von einem Fremden beobachtet wußte, war ihr alle Freude an dem Kinde verdorben. Womöglich würde der Major die Nase rümpfen; er war ja so hochmütig!

Schließlich kam alles anders, als Anna sich's 53 vorgestellt hatte. Der kleine Hellmut selbst gab den Anlaß dazu.

Von dem Tage ab, wo der Junge ins Haus kam, ging mit Rüstädt eine Änderung vor sich. Mit unverhohlener Bewunderung lag sein Blick auf dem Angesicht des anmutigen Knaben. Er redete ihn in freundlichstem Tone an; das Kind errötete, faßte sich aber bald ein Herz, durch die einnehmende Weise des Fremden beruhigt.

Daß Herr von Rüstädt so scherzen konnte, so frei und leutselig! Anna war überrascht und glaubte, einen ganz andern Mann vor sich zu haben. Wie kameradschaftlich er den Knaben behandelte, als seinesgleichen! Wie viel glücklicher und jünger er selbst auf einmal in Gegenwart des Kindes erschien!

Es war nicht zu verwundern, daß Hellmut für den Fremden eine starke Neigung faßte. Ein wie dankbares Publikum ist man doch in dem Alter, und wie hat man gleich sein ganzes Herz in der Hand. Wie ein Wunder staunte der Junge zuerst den fremden Herrn an; seine Erscheinung, seine ganze Art hatte etwas Mysteriöses, in seiner Neuheit fast Beängstigendes. Und als der merkwürdige Mann aus seiner Höhe zu ihm herabstieg und sich auf Freundesfuß stellte mit Hellmut, da war es um den Jungen geschehen.

Von jetzt ab fand man ihn während des größten Teiles der Tage in Rüstädts Nähe. Er ging mit 54 dem Major ins Revier, war bei ihm im Zimmer, so oft er dort geduldet wurde, folgte ihm auf Schritt und Tritt wie ein Hündchen.

Hellmut hatte seine Angewohnheiten völlig verändert gegen früher. Schrupper konnte diesmal schön warten. Der Junge kam nicht zu ihm, nicht einmal zum Aufstellen von Fallen auf Fuchs, Marder und Iltis oder zum Wildfüttern, was in dieser Jahreszeit stets die Hauptbeschäftigung der beiden Spießgesellen gewesen war. Auch die Mutter sah nicht viel von ihrem Jungen. »Darf ich zum Herrn Major?« das war sein drittes Wort.

Rüstädt zeigte ihm, was er an Lebenserinnerungen, Büchern und Bildern besaß, soweit dies für die Augen eines Kindes geeignet war. Und dazu wußte er mancherlei aus dem Gedächtnis zu erzählen, was die Phantasie des lebhaften Kindes stark packte.

Zum Weihnachtsabend wurde der Major feierlich vom Oberförster eingeladen. Allerdings dürfe man sich auf nichts Großartiges gefaßt machen, setzte der Alte in seiner Biederkeit sofort hinzu, er sei hier bei einfachen Forstleuten zu Gaste, die keine großen Sprünge machen könnten. Rüstädt nahm die Einladung an und bereute es nicht. Die Freude, die der kleine Hellmut bei der Bescherung an den Tag legte, half über alles Peinliche hinweg, das sonst vielleicht für ihn das Hineingezogenwerden in einen fremden 55 Familienkreis gehabt haben möchte. Rüstädt schenkte dem Jungen seinen illustrierten »Lederstrumpf«, das einzige Buch, das er sich aus früher Lebensperiode aufbewahrt hatte, und gewann damit Hellmuts Herz vollends.

Der Major stand in dem Lebensalter, wo einen das Wesen eines hoffnungsvollen Knaben mit eigenartiger Rührung und Sympathie ergreift. Man fühlt in solchem Kinde die eigne Vergangenheit grün werden. Man sieht den jungen Baum mit seinen dünnen Zweigen, seinen schlanken Jahrestrieben, wie er's nicht erwarten kann, schnell genug vorwärts zu kommen mit der neugierigen Spitze. So bist auch du einst überschnell ins Holz geschossen! Und man weiß nur zu gut, daß auch für den vorwitzigen jungen Schößling die Zeit kommen wird, wo auch er langsamer wachsen muß, wo fast ein Stillstand eintreten wird. Aber es thut doch wohl, dieses ahnungslose, flotte Grün mit anzusehen, wenn auch ein wenig Melancholie und Resignation dabei ist. Die Jugend, die goldne Jugend! Wem schmeichelte sie sich nicht ins Herz! –

So öffnete Rüstädt denn gern die Thür seines Zimmers, so oft er das schüchterne Klopfen hörte, welches ihm sagte, daß Hellmut draußen stehe und Einlaß begehre. Er wollte auch mal Feiertag machen, jetzt in der Weihnachtszeit. So angestrengt hatte er gearbeitet in dem Wirtschaftsplane, dem Hiebsplane, 56 den Holztaxen, den Abposteverzeichnissen, Manualen und Geldrechnungen des Revieres, die ihm der Oberförster zur Verfügung gestellt hatte, daß ihm die Zahlen schließlich vor den Augen tanzten und er froh war eine harmlose Abziehung zu finden durch seinen kleinen Freund.

Der dritte im Bunde war »Unkas«, der Hühnerhund des Majors. Unkas war ein irischer Setter von seltener Schönheit, brandrot, das seidige, leichtgewellte Haar mit einem leichten, ins Violette spielenden Schimmer darüber. Die Läufe bis zu den Pfoten gelblich befedert, mit langem Behang und stattlicher, leicht gebogener Rute. Wunderbar an diesem herrlichen Tiere war der Gesichtsausdruck, der in den großen, verständigen Augen vom tiefsten Ernst bis zum freudigsten Mitfühlen wechseln konnte.

Wenn der Major sagte: »Unkas ist mein lieber Freund!« so meinte er das in vollem Ernste. An Bescheidenheit und Ergebenheit übertraf das Tier sicherlich jeden Menschen. Stundenlang konnte der Hund langausgestreckt auf der Diele liegen, den Kopf mit den intelligenten Augen zwischen den Vorderpfoten, seinen Herrn unverwandt betrachtend. Dann, wenn sich der Herr ihm zuwandte, war Unkas sofort da, mit fragendem Blicke und leicht wedelnder Rute. Eine Handbewegung, ein Blick genügte, und der Hund wußte, was sein Herr wolle. Es hatte sich zwischen den beiden 57 eine Zeichensprache ausgebildet, welche die menschliche Art, sich durch Worte zu verständigen, geradezu unnötig machte.

Dagegen mußte allerdings »Waldine«, die Vorstehhündin deutscher Rasse, verblassen. Sie hatte das Gnadenbrot in der Oberförsterei. Auf der Jagd war sie ihrer abnehmenden Nase wegen kaum noch zu gebrauchen. Bisher war sie Hellmuts vertraute Freundin gewesen; aber seitdem Unkas mit seiner herzgewinnenden Liebenswürdigkeit aufgetreten, war es mit dem Interesse des Knaben für die alternde Waldine aus. Das treue Tier schien die Vernachlässigung schwer zu empfinden; einigemal noch schleppte es seine rheumatischen Knochen die Treppe hinauf bis vor Hellmuts Schlafstubenthür und wartete dort geduldig.

Als der Junge aber an ihr vorbeischritt, achtlos ohne sie überhaupt zu sehen, da verstand Waldine, daß sie vergessen sei, und zog sich in ihr einsames Verließ im Hundezwinger zurück.

*

Hellmut hatte das Elternhaus wieder verlassen. Der Abschied war ihm schwerer geworden denn je; der Umgang mit dem Major war etwas Außerordentliches gewesen, und nur der Gedanke, was er den »Andern« in der Schule nun alles zu erzählen haben werde von 58 diesem Wundermanne, konnte den Jungen einigermaßen trösten.

Das Quellenhayner Forsthaus versank, nachdem der Knabe gegangen, wieder in seine dämmerige Winterruhe. Das Verhältnis der Erwachsenen, das sich durch die Anwesenheit des rotbäckigen Kindergesichts mit seinen lebensfrohen Augen leichter und vertrauter gestaltet hatte, fiel bald wieder in seine frühere genaue Nüchternheit zurück. Wieder mußte sich Frau Anna grämen, daß der Major mit ihrem Manne nur über Forstsachen sprach, und daß er für sie nichts als frostige Korrektheit übrig hatte.

In dieser Zeit wurde der Oberförster unpäßlich. Er war eines Tages bei ungünstiger Witterung leicht gekleidet ausgegangen, hatte sich erhitzt und dann im Winde gestanden. Das war selbst für seine eiserne Natur zu viel gewesen. Einige Tage lang hütete er das Zimmer auf Annas Zureden, dann litt es ihn nicht länger drinnen. Er brachte von seinem unvorsichtigen Ausgange Gliederschmerzen mit heim, und am nächsten Tage lag er mit heftigem Fieber im Bett.

Anna ließ gegen den Willen ihres Mannes, der die Ärzte haßte, den nächsten Doktor holen. Der nahm den Fall nicht leicht; es sei nicht der gewöhnliche Rheumatismus – der bei Oberförster Seltmann wie bei vielen seines Berufes zu einer Art Hausfreund 59 geworden war –, diesmal seien innere Teile in Mitleidenschaft gezogen. Der Arzt verhehlte der jungen Frau nicht, daß die Krankheit einen ernsten Ausgang nehmen könne.

Anna erschrak in innerster Seele. Sie hatte sich in zehnjähriger Ehe so sehr an Seltmann und selbst an seine rauhen Seiten gewöhnt, daß der Gedanke, er könne ihr entrissen werden, sie mit Schauder erfaßte. Ein Gefühl großer Verantwortlichkeit kam mit einem Male über sie. Es fröstelte sie bei dem Gedanken, allein gelassen zu sein in der Welt. Was sie an ihrem Manne besitze, welch ein Schutz und Halt er ihr sei, sah sie jetzt auf einmal in klarem Lichte. Wenn sie sich auch früher manchmal mit dem Gedanken an die Witwenschaft beschäftigt hatte, so erschien ihr nunmehr diese Möglichkeit furchtbar.

Mit einem Eifer, den sie dem Gesunden gegenüber nimmermehr an den Tag gelegt hätte, widmete sie sich der Pflege des erkrankten Mannes. Sie sann nichts andres, als sein Wohlbefinden, wollte nichts andres denken, als was seine Genesung befördern konnte. Sie that mehr, als ihr zuträglich war, wachte ganze Nächte hindurch, wies die Pflegerin ab, die der Doktor anbot. Mit einem gewissen Eigensinn klammerte sie sich an die Pflichten einer Gattin, als wolle sie sich dahinter verschanzen, als wolle sie Regungen betäuben, die sie von diesen Pflichten abwendig machen könnten.

60 Oberförster Seltmann hatte, sobald er eingesehen, daß er diesmal mit einem seiner gewöhnlichen rheumatischen Anfälle – die acht Tage selten überschritten – nicht davon kommen werde, sein eignes Revier einem der Unterförster zur Beaufsichtigung übergeben wollen. Aber der Major ersuchte ihn, die Revierverwaltung ihm anzuvertrauen. Er glaubte inzwischen soviel gelernt zu haben, um sich die Übernahme einer solchen Aufgabe zutrauen zu können. Und der Oberförster, der Herr von Rüstädts Tüchtigkeit schätzen gelernt hatte, wollte es auf einen Versuch ankommen lassen.

Es war die Zeit im Forstjahre, wo die meisten Nutzhölzer aufbereitet werden. Rüstädts Aufgabe war also vor allem, das niedere Forstpersonal bei den Vermessungsarbeiten, dem Numerieren und Eintragen der gefällten Hölzer zu kontrollieren. Schrupper sollte den Major begleiten, um ihm zur Hand zu gehen mit Dienstleistungen.

Die Sache war nicht ganz einfach. Rüstädt fühlte sich selbst noch unerfahren darin. Um keinen Preis aber wollte er sich irgend welche Unsicherheit anmerken lassen, denn das wäre das Ende seiner Autorität gewesen bei den Leuten. Der Waldläufer ging hinter ihm drein mit dem dümmsten Gesichte von der Welt, als verstünde er gar nichts von dem Geschäfte. Was ihm befohlen wurde, that Schrupper zwar, aber nicht um 61 einen Deut mehr. Sein altes, verwittertes Rübezahlgesicht ließ nichts sehen von der Schadenfreude, mit der er auf den Augenblick wartete, wo der Herr Major sich gründlich blamieren werde.

Rüstädt that ihm den Gefallen nicht. Er besaß von Natur einen klaren Blick und verstand es, seine Aufmerksamkeit im richtigen Augenblicke auf das gerade Vorliegende zu sammeln. Mit solchen Gaben kommt der Nichtzünftige oft weiter als einer, der eingefuchst ist in alle Kleinigkeiten des Berufes. Dazu hatte er sich als Offizier die Freude am Detail angeeignet; er wußte, daß nichts, auch das Kleinste nicht, unwichtig sei im Dienst.

Er merkte sehr bald, daß die Waldarbeiter, darauf bauend, daß er Neuling sei, allerhand Nachlässigkeiten durchzupaschen versuchten. Da wurden Vorsichtsmaßregeln umgangen, die für Gesundheit und Leben der Leute von größter Wichtigkeit waren. Beim Fällen ließ man lange Stöcke stehen, obgleich Vorschrift war, den Abschnitt so tief wie möglich zu legen. Stücke, die bei sorgfältiger Auswahl sehr gut als Nutzholz verwendbar gewesen wären, wurden mit ins Brennholz gehackt, weil es den Arbeitern eine augenblickliche Bequemlichkeit verschaffte.

Natürlich stellte der Major solchen Unfug, sobald er dahinter gekommen, schnell und gründlich ab. Schwieriger war es, den Leuten auf die Schliche zu 62 kommen, wenn sie es versuchten, falsch zu messen, um höhere Akkordlöhne zu erzielen. Die Differenzen im Maß waren oft nur geringfügig, machten aber in Menge doch etwas aus. Allein konnte Rüstädt die unzähligen Stämme, Klötze, Stangen und Rollen unmöglich nachmessen. Aber durch zahlreiche Stichproben, die er machte, deckte er solche Unregelmäßigkeiten doch auf und beugte durch rücksichtslose Bestrafung der Wiederholung vor.

In den Pausen während der Arbeit ließ sich dann Rüstädt an dem Feuer nieder, das die Waldarbeiter unterhielten. Da saß er wie einer von ihnen, sein Frühstück verzehrend und aus der Flasche trinkend – nur daß er nicht wie sie Schnaps darinnen hatte, sondern kalten Thee. Unkas lag neben ihm, jede Bewegung seines Herrn mit klugen Augen verfolgend und geduldig auf den Augenblick wartend, wo er sein Teil an der Mahlzeit bekommen werde. Vor ihm die Flamme des Reisigfeuers, die sich gelbrot zitternd von dem dunkeln Grün des Nadelwaldes abhob. Ein wenig abseits die Holzfäller, starke, grobkörnige Gesellen, die doch so viel Respekt vor höherer Lebensart empfanden, daß sie in seiner Gegenwart nur halblaut flüsterten und ihre üblichen derben Späße mäßigten. Dem frischen Kien entströmte ein würziger Duft. Vor ihm lag der Holzschlag mit seinem grotesken Durcheinander übereinandergestürzter Stämme. Und drüber der Wald, 63 die aufrechten Bäume, die auf das Leichenfeld herabschauten, mit flüsternden Kronen ihren Gesellen da unten ein Grablied singend.

Mit jedem Atemzuge sog man da Gesundheit ein. Das Auge versank in den ernsten, schlichten, urkräftigen Farbenharmonien der Waldlandschaft. Die eintönige und doch große Melodie, die der Wind auf jenem Wipfelmeere erklingen ließ, beruhigte die Seele, machte sie still und nachdenklich.

Wie heimlich war das, wie beruhigend! Was konnte man noch mehr wollen? Rüstädt war es, als habe er nun endlich das Heim gefunden, nach dem er sich so lange gesehnt.

Er war bisher ein Mensch gewesen des äußeren Erlebens. Der bunte Wechsel der Geselligkeit hatte ihm keine Zeit gelassen, einem Zuge zum nachdenklichen In-sich-hinein-lauschen, der ihm eigen war, Folge zu geben. Und nun schenkte ihm der Wald, der selbst solch ein schweigsamer Grübler ist, diese Gelegenheit.

Es gab genug Stoff zum Nachdenken: das Leben vor allem mit seinen kleinen und großen Erlebnissen. In wie verändertem Lichte sah er alles das jetzt, wo er auf seine bisherige Welt wie aus der Klause des Einsiedlers zurückblickte. Von wie mancher seiner Handlungen erkannte er nun erst die eigentlichen Gründe. Wie vieles erschien ihm schal, was er damals als das Erstrebenswerteste betrachtet hatte. Wie gründlich war 64 er vom geselligen Ehrgeiz geheilt. Nichts vermochten ihm jetzt noch jene Auszeichnungen, die ihm damals doch eine Art Freude bereitet, zu bedeuten, nachdem er ihre Nichtigkeit durchschaut.

Und wie waren ihm die Frauen verleidet! Er hatte die Liebe gekostet in mancherlei Form. Der Weg zu den Frauen war ihm eben nicht schwer gemacht worden. Auch für ihn gehörten – wie für die meisten Männer – jene Siege zu dem, worauf er sich am meisten zu gute that.

Und was war ihm jetzt von alledem geblieben! Einige Erinnerungen, die er um keinen Preis der Welt hätte hergeben mögen. Im übrigen das Gedenken an eine Reihe genossener Schäferstunden, flatterhaft und schon verbleichend wie die Billetsdoux, die er davon aufbewahrte. Und manche Demütigung war damit verknüpft, manche Enttäuschung, manches bittere Gefühl. Da, wo er ernst geliebt, war er nicht befriedigt worden, und wo er nur getändelt, hatte er nur zu schnell Uebersättigung empfunden.

Er glaubte, wenn er das Facit zog solcher Erfahrungen, daß das Kapitel der Frauenliebe abgeschlossen sei für ihn, ein für allemal. Ja, er hoffte das sogar. Denn was konnte nun noch kommen für ihn, wo er doch nicht mehr zu den Jungen zählte, wo er die Eleganz der äußeren Erscheinung, die ihm sein Stand bisher zur Pflicht gemacht, vertauscht hatte mit 65 der rauhen Einfachheit, die dem gewählten Berufe besser stand.

Und außerdem, die wenigen wirklich vollkommenen Liebesfreuden, die er genossen, wollte er sich doch nicht besudeln lassen durch irgend welches billige und seiner nicht würdige Abenteuer. Vor einem Wegwerfen seiner Gefühle graute ihm.

 


 


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