Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher
Platons Werke. Zweiter Theil
Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher

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Theages

Demodokos • Sokrates • Theages

(121) Demodokos: O Sokrates, ich möchte wohl etwas mit dir besonders sprechen, wenn du Muße hast. Und hättest du auch ein Geschäft, ist es nur nicht gar zu wichtig, so mache dir doch Muße um meinetwillen.

Sokrates: Ich habe auch so schon Muße; nun gar für dich ganz gewiß. Willst du mir also etwas sagen, so steht es dir frei.

Demodokos: Wollen wir also hieher in die Halle des Zeus des befreienden bei Seite gehn?

Sokrates: Wie es dir gefällt.

Demodokos: So laß uns gehen, Sokrates.

Alle Gewächse scheinen hierin dieselbe Weise zu haben, sowohl was aus der Erde wächst als auch die Tiere, die übrigen sowohl als der Mensch. Denn auch bei den Gewächsen ist dieses das leichteste für uns, die wir das Land bauen, alles zuzubereiten vorher zum Anpflanzen und dann das Anpflanzen selbst. Wenn aber das Gepflanzte nun aufgegangen ist: dann beginnt eine Pflege des Gepflanzten, die gar mannigfaltig ist und schwierig und beschwerlich. Eben so nun scheint es auch mit den Menschen zu stehn. Von meinen Angelegenheiten schließe ich auch auf das Übrige. Denn auch mir ist dieses Sohnes soll ich es Anpflanzung nennen oder Erzeugung das leichteste von allem gewesen, die Erziehung aber ist schwierig und immer in Furcht, weil ich um ihn besorgt bin. Von dem übrigen nun wäre gar viel zu sagen; aber die Lust, die ihm jetzt angekommen ist, ängstiget mich gar sehr. Denn unedel ist sie freilich nicht, aber sehr bedenklich. Nämlich dieser hat uns Lust, o Sokrates, wie er sagt weise zu werden. Ich denke, es mögen von seinen Altersgenossen aus dem Demos einige, die zur Stadt gehn, ihm allerlei vorgesagt und ihn aufgereizt haben; die beneidet er nun, und läßt mir schon lange nicht Ruhe, immer darauf dringend, ich solle Sorge für ihn tragen und einem von den Sophisten Geld geben, daß der ihn weise mache. Und mir liegt an dem Gelde wohl weniger; ich glaube aber, er begibt sich wo er hin will in keine kleine Gefahr. Bis jetzt nun habe ich ihn durch Zureden noch zurückgehalten; nun ich es aber nicht mehr vermag, halte ich es für das beste (122) ihm nachzugeben, damit er sich nicht etwa gar ohne mein Wissen einem zugeselle und mir verderbt werde. Eben dazu bin ich also jetzt hier, damit ich ihn bei einem von denen, die für Sophisten gelten, unterbringe. Du bist uns also recht zum Glück erschienen, mit dem ich am liebsten über solche Dinge, wenn ich etwas unternehmen will, mich beraten möchte. Weißt du mir also einen Rat zu geben nach dem was du eben gehört, so darfst und sollst du.

Sokrates: Sagt man doch überhaupt, o Demodokos, Beratung sei eine heilige Sache. Ist nun irgend eine andere heilig, so ist es gewiß auch diese worüber du dich jetzt beraten willst. Denn über nichts göttlicheres kann wohl ein Mensch einen Beschluß zu fassen haben, als über seine eigne und seiner Angehörigen Ausbildung. Zuerst also wollen wir uns mit einander verständigen, ich und du, was wir glauben, daß dasjenige sei, worüber wir Beschluß zu fassen haben, damit nicht gar ich es für etwas anderes nehme und du wieder für etwas anderes, und wir erst hernach weit im Geschäft merken, wie lächerlich wir sind, ich der Ratgebende und du der Ratfragende, indem wir gar nicht dasselbe meinen.

Demodokos: Darin dünkst du mich ganz recht zu haben, o Sokrates, und wir müssen es so machen.

Sokrates: Wohl habe ich Recht, aber doch nicht ganz und gar, sondern ein klein wenig ändere ich um. Ich bedenke nämlich, daß vielleicht auch der Knabe gar nicht das begehrt, was wir glauben, sondern etwas anderes, und wir dann noch ungereimter sind, wenn wir über etwas anderes ratschlagen. Daher dünkt mich das richtigste, damit anzufangen, daß wir eben von ihm selbst zu erfahren suchen, was das recht ist, was er begehrt.

Demodokos: Wohl mag es so am besten sein, wie du sagst.

Sokrates: So sage mir denn, was für einen schönen Namen hat der Jüngling, und wie sollen wir ihn anreden?

Demodokos: Theages ist sein Name.

Sokrates: Gewiß, Demodokos, einen schönen und andächtigen Namen hast du deinem Sohne beigelegt.

So sage uns denn, o Theages, du verlangst, so sprichst du, weise zu werden, und willst, dein Vater soll dir eines solchen Mannes Umgang verschaffen, der dich weise machen kann?

Theages: Ja.

Sokrates: Weise aber nennst du die Kundigen wessen sie nun auch kundig sein mögen, oder die Nichtkundigen?

Theages: Die Kundigen nenne ich so.

Sokrates: Wie nun? hat dein Vater dich denn nicht lehren und unterrichten lassen in dem, worin hier die andern unterrichtet werden, die rechtlicher Eltern Kinder sind? wie lesen und die Leier spielen und ringen nebst den andern Leibesübungen?

Theages: Das hat er.

Sokrates: Und glaubst du also doch noch einer Wissenschaft zu ermangeln, zu welcher dir dein Vater billig noch verhelfen sollte?

(123) Theages: Das glaube ich.

Sokrates: Was für eine ist das? sage es auch uns, damit wir dir dann den Willen tun können.

Theages: Er weiß es recht gut, Sokrates; denn ich habe es ihm oft gesagt. Aber er redet absichtlich so zu dir, als wüßte er nicht was ich recht will. Denn eben so und noch anders streitet er auch mit mir, und will mich bei Keinem einführen.

Sokrates: Gut, was du vor diesem zu ihm gesagt hast, das war gleichsam ohne Zeugen gesprochen. Nun aber nimm mich zum Zeugen und erkläre noch einmal in meiner Gegenwart, welches die Weisheit ist nach der du strebest? Denn sieh nur, wenn du Lust hättest zu der, vermittelst deren Menschen die Schiffe regieren, und ich dich fragte: o Theages, welche Weisheit fehlt dir noch, daß du dem Vater vorwirfst, er wolle dich zu Keinem hinbringen, bei dem du weise werden könntest? was würdest du mir antworten, was für eine es wäre? Nicht wahr, die Steuermannskunst?

Theages: Ja.

Sokrates: Wenn du aber Lust hättest in der Wissenschaft geschickt zu werden, vermittelst deren sie Wagen lenken, und deshalb deinem Vater Vorwürfe machtest, und ich dich wieder fragte, was ist das für eine Wissenschaft? was würdest du antworten, daß sie wäre? Nicht die des Wagenlenkers?

Theages: Ja.

Sokrates: Zu der du aber nun Lust hast, ist die unbenannt oder hat sie einen Namen?

Theages: Ich glaube sie hat einen.

Sokrates: Kennst du nun etwa nur sie, nicht aber ihren Namen? oder auch den Namen?

Theages: Auch den Namen kenne ich.

Sokrates: Welches ist er also, sprich.

Theages: Welchen andern Namen, o Sokrates, könnte wohl einer sagen daß sie hätte, als eben Wissenschaft.

Sokrates: Ist aber das Wagenlenken nicht auch Wissenschaft? Oder dünkt es dir Unwissenheit zu sein?

Theages: Gewiß nicht.

Sokrates: Sondern Wissenschaft.

Theages: Ja.

Sokrates: Mit der wir was doch anfangen? Nicht durch die wir verstehen ein Gespann Pferde zu regieren?

Theages: Ja.

Sokrates: Und ist nicht auch die Steuermannskunst Wissenschaft?

Theages: Mich dünkt es.

Sokrates: Nicht die, durch die wir wissen Schiffe zu regieren?

Theages: Dieselbe allerdings.

Sokrates: Zu der du aber jetzt Lust hast, was ist das für eine Wissenschaft? und was wissen wir durch sie zu regieren?

Theages: Mich dünkt die Menschen.

Sokrates: Etwa die kranken?

Theages: Wohl nicht.

Sokrates: Denn das ist die Heilkunst. Nicht wahr?

Theages: Ja.

Sokrates: Aber die, durch welche wir die Sänger in den Chören zu regieren wissen?

Theages: Nein.

Sokrates: Denn das ist ja die Tonkunst.

Theages: Freilich.

Sokrates: Aber durch welche wir wissen die zu regieren, welche Leibesübungen treiben?

Theages: Nein.

Sokrates: Denn das ist ja die Gymnastik.

Theages: Ja.

Sokrates: Also durch welche wir wen doch bei welchem Geschäft regieren? Versuche es mir zu bezeichnen, wie ich dir das vorige.

Theages: Durch welche wir die in der Stadt regieren, dünkt mich.

Sokrates: Sind aber nicht in der Stadt auch die Kranken?

Theages: Ja, aber ich meine nicht diese allein, sondern auch die andern alle in der Stadt.

(124) Sokrates: Ob ich nun wohl verstehe, welche Kunst du meinst? Du scheinst mir nämlich nicht die zu meinen, durch welche wir die Schnitter zu regieren verstehen und die Winzer und die Pflanzer und die Säer und die Drescher; denn das ist die Ackerbaukunst, durch die wir diese regieren. Nicht wahr?

Theages: Ja.

Sokrates: Auch die, durch welche wir die Sägenden und Bohrenden und Schleifenden und Drechselnden zu regieren verstehen, auch die meinst du nicht. Denn ist das nicht die Tischlerkunst?

Theages: Ja.

Sokrates: Aber vielleicht durch die wir alle diese und auch die Ackerbauer und Tischler selbst, und alle Künstler insgesamt, und auch die es nicht sind und Männer und Weiber zu regieren wissen; diese Wissenschaft meinst du vielleicht?

Theages: Eben diese, o Sokrates, wollte ich schon immer andeuten.

Sokrates: Kannst du mir nun wohl sagen, hat Aigisthos, der den Agamemnon tötete in Argos über alle diese geherrscht die du meinst, über die Gewerbsleute und die ohne Gewerbe leben, und über Männer und Weiber insgesamt oder über irgend andere?

Theages: Nein, sondern über diese.

Sokrates: Und wie? Peleus der Sohn des Aiakos herrschte nicht der in Phthia über eben diese?

Theages: Ja.

Sokrates: Und daß Periandros der Sohn des Kypselos Herr in Korinthos gewesen, hast du wohl auch gehört?

Theages: O ja.

Sokrates: Nicht wahr, indem er über eben diese herrschte in seiner Stadt?

Theages: Ja.

Sokrates: Und Archelaos der Sohn des Perdikkas der nur neuerlich in Makedonien regiert, glaubst du nicht daß der über eben diese regiert?

Theages: Allerdings.

Sokrates: Und als Hippias der Sohn des Peisistratos in dieser Stadt herrschte, über wen glaubst du daß er geherrscht habe? nicht über diese?

Theages: Wie sollte er nicht!

Sokrates: Kannst du mir nun wohl sagen, was für einen Beinamen Bakis führt und Sibylla und unser Landsmann Amphilytos?

Theages: Was für einen andern wohl, o Sokrates, als Orakelsänger.

Sokrates: Ganz richtig. Aber auch von diesen versuche mir so zu beantworten, was für einen Beinamen führen Hippias und Periandros um eben dieser Herrschaft willen?

Theages: Ich glaube Tyrannen. Denn was sonst?

Sokrates: Wer also Lust hat über die Menschen in der Stadt insgesamt zu herrschen, der hat Lust zu derselben Herrschaft wie sie, der tyrannischen, und ein Tyrann zu sein?

Theages: Offenbar.

Sokrates: Und zu dieser behauptest du Lust zu haben?

Theages: Es scheint, nach dem was ich selbst sagte.

Sokrates: O du Böser! Also unser Tyrann zu werden hast du Lust, und wirfst es deinem Vater schon lange vor, daß er dich nicht in eine Tyrannenschule zu Jemand in die Lehre schickt? Und du, Demodokos, schämst dich nicht, daß du schon lange (125) weißt, wonach dieser strebt? und wiewohl du ihn könntest wohin geschickt haben wo er ein Meister würde in dieser Wissenschaft nach der er strebt, beneidest du es ihm und willst ihn nicht hinschicken? Aber nun sieh, da er dich vor mir verklagt hat, so laß uns gemeinschaftlich beratschlagen, ich und du, wohin wir ihn wohl schicken sollen, und durch wessen Umgang er ein geschickter Tyrann werden könnte?

Demodokos: Ja beim Zeus, Sokrates, darüber wollen wir Rat pflegen. Denn es dünkt mich hiezu keine geringe Beratung nötig zu sein.

Sokrates: Laß noch, Guter. Wir wollen ihn erst recht zur Genüge ausfragen.

Demodokos: So frage denn.

Sokrates: Wie wenn wir uns den Euripides etwas zu nutz machten, o Theages. Denn Euripides sagt irgendwo, Der Weisen Umgang macht die Herrscher weise nur. Wenn nun Jemand den Euripides fragte: o Euripides, worin weise sind die Männer deren Umgang die Herrscher weise macht? So wie wenn er gesagt hätte, der Weisen Umgang macht den Landmann weise nur, und wir ihn gefragt hätten, was für Weiser Umgang, was würde er uns geantwortet haben? Etwas anders als derer die im Landbau weise sind?

Theages: Nein, sondern dies.

Sokrates: Und wie wenn er sagte, der Weisen Umgang macht die Köche weise nur, und wir fragten, worin Weiser, was glaubst du werde er antworten? nicht der Kochkünstler.

Theages: Ja.

Sokrates: Und wenn der Weisen Umgang macht die Ringer weise nur, und wir fragten, worin Weiser: würde er nicht sagen, die es im Ringen sind?

Theages: Ja.

Sokrates: Da er nun aber gesagt hat, der Weisen Umgang macht die Herrscher weise nur, was wird er uns nun wohl auf die Frage, worin Weiser meinst du Euripides, antworten, was für welche es wären?

Theages: Beim Zeus, ich weiß nicht.

Sokrates: Willst du also, daß ich es sage?

Theages: Wenn du willst.

Sokrates: Dasselbe ist es was Anakreon sagt, daß die Kallikrete verstehe. Oder kennst du das Gedicht nicht?

Theages: O ja.

Sokrates: Wie also? Eines solchen Umgangs begehrst auch du mit einem Kunstgenossen der Kallikrete, der Tochter der Kyane, der sich auf das Tyrannenwesen verstände, wie der Dichter es von jener sagt, um Tyrann zu werden über uns und die Stadt?

Theages: Schon lange, o Sokrates, spottest du und scherzest über mich.

Sokrates: Wie so? Sagst du nicht, daß du dieser Wissenschaft nachstrebst, durch die du über alle in der Stadt herrschen könnest? und wenn du dies tust, bist du dann nicht ein Tyrann?

Theages: Ich möchte wohl, glaube ich, Tyrann sein am liebsten über alle Menschen, wo nicht doch über so viele als möglich, und auch du, glaube ich, und alle andere Menschen; und vielleicht noch lieber ein Gott sein. Aber das wollte ich doch gar nicht sagen, daß ich danach strebte.

Sokrates: Was ist es denn also wonach du strebst? Sagtest (126) du nicht, du möchtest über die Bürger herrschen?

Theages: Aber nicht mit Gewalt noch wie die Tyrannen, sondern mit ihrem Willen, wie auch die andern im Staate berühmten Männer.

Sokrates: Meinst du etwa wie Themistokles und Perikles und Kimon und die andern, die in Staatssachen gewaltig gewesen sind?

Theages: Beim Zeus, diese meine ich.

Sokrates: Wie nun? wenn du in der Reitkunst wünschtest weise zu werden, zu wem glaubst du wohl, daß du gehen müßtest um ein tüchtiger Reiter zu werden? etwa zu andern als den Bereitern?

Theages: Nein gewiß nicht.

Sokrates: Sondern wiederum zu denen, die in der Sache selbst Meister sind und Pferde haben, und mit vielen immer umgehn, eigenen und fremden?

Theages: Offenbar.

Sokrates: Und wie wenn du im Schießen weise werden wolltest, glaubst du nicht, daß wenn du zu den Schützen gingest, du hierin weise werden würdest, zu denen die Pfeile haben, und viele eigene und fremde immer gebrauchen?

Theages: So dünkt es mich.

Sokrates: Sage mir also, da du nun in der Staatskunst willst weise werden: glaubst du, daß du zu Andern gehen mußt, um weise hierin zu werden, als eben zu diesen Staatsmännern, die selbst gewaltig sind in Staatssachen, und immer zu tun haben mit ihrem eigenen Staat und mit vielen andern sowohl mit Hellenischen Staaten Verkehr treibend als barbarischen? Oder glaubst du mit irgend andern umgehn zu müssen, um weise zu werden darin, worin diese es sind, aber nicht mit ihnen selbst?

Theages: Ich habe von den Reden wohl gehört, Sokrates, die sie sagen, daß du hierüber führest, daß dieser Staatsmänner Söhne um nichts besser sind als die der Schuster. Und du dünkst mich vollkommen recht zu haben nach dem was ich davon merken kann. Ganz unvernünftig wäre ich also, wenn ich glaubte, einer von diesen würde mir seine Weisheit mitteilen, seinen eigenen Sohn aber nicht darin gefördert haben, wenn er im Stande wäre hierin irgend einem andern Menschen förderlich zu sein.

Sokrates: Was würdest du also, bester Mann, beginnen, wenn du einen Sohn hättest, und er dir so zu schaffen machte, und erst sagte, er möchte gern ein guter Maler werden, und dir, seinem Vater, Vorwürfe machte, daß du eben hiezu nicht Geld an ihn wenden wolltest, dann aber wieder die Künstler selbst in diesem Fache die Maler verachtete, und nicht bei ihnen lernen wollte, oder die Flötenspieler, wenn er ein Flötenspieler werden wollte, oder die Leierspieler? wüßtest du wohl, was du mit ihm anfangen und wohin du ihn anders schicken solltest, wenn er bei diesen nicht lernen wollte?

Theages: Beim Himmel! ich nicht.

(127) Sokrates: Nun aber du es eben so machst mit deinem Vater, wunderst du dich und tadelst ihn, daß er verlegen ist und nicht weiß, was er mit dir anfangen und wohin er dich schicken soll? Denn unter den Athenern, die rechtliche und tüchtige Männer sind in Staatssachen, wollen wir dich zu welchem du selbst willst hinbringen, der dir umsonst seinen Umgang vergönnen wird; und so wirst du sowohl das Geld sparen als auch in weit bessern Ruf kommen bei den meisten Menschen, als wenn du dich zu einem Andern hältst.

Theages: Wie nun, Sokrates? Gehörst du nicht auch unter die rechtlichen und tüchtigen Männer? Denn wenn du mit mir umgehn willst, habe ich genug und suche weiter keinen Andern.

Sokrates: Was sagst du da, Theages?

Demodokos: Gar nichts schlechtes, o Sokrates, sagt er, und mir wirst du auch dadurch gefällig sein. Denn ich wüßte nicht, was ich als einen glücklichern Fund ansehn könnte für diesen, als wenn er sich in deinem Umgang gefiele und du dich zu ihm halten wolltest. Ja ich schäme mich fast zu sagen, wie sehr ich es wünsche. Also bitte ich euch beide, dich daß du mit ihm umgehen wollest, und dich daß du nicht erst suchest dich zu einem Andern zu geben als zum Sokrates. So werdet ihr mich vieler und ängstlicher Sorgen entledigen; denn itzt bin ich sehr besorgt um diesen, daß er nicht auf einen Andern treffe, der sich dazu eigne ihn zu verderben.

Theages: Um mich, Vater, sei nun nicht länger besorgt, wenn du nur im Stande bist diesen zu überreden, daß er sich meinen Umgang gefallen lasse.

Demodokos: Sehr wohl gesprochen. Also, Sokrates, an dich richtet sich von nun an die Rede. Denn ich bin gern bereit, um es mit kurzem zu sagen, dir mich und alles meinige ganz aufs eigenste hinzugeben, wessen du nur bedürfen magst mit einem Wort, wenn du dich dieses Theages annimmst und ihm Hülfe leistest soviel du nur vermagst.

Sokrates: O Demodokos, daß es dir so großer Ernst ist, wundert mich nicht, wenn du meinst, daß dieser von mir vorzüglich könne Nutzen ziehen. Denn ich weiß nicht, was ein vernünftiger Mann ernstlicher betreiben könnte, als daß sein Sohn ihm aufs beste gedeihe. Woher dir aber diese Meinung gekommen ist, daß ich besser im Stande wäre deinem Sohne förderlich zu sein, damit er ein guter Bürger werde als du selbst, und woher dieser glaubt, daß ich mehr als du ihn fördern könne, darüber wundere ich mich höchlich. Denn du bist erstlich älter als ich, dann hast du viele und wichtige Ämter unter den Athenern verwaltet, und stehst bei den Anagyrasiern, deinen Zunftgenossen, in vorzüglichen Ehren und bei der übrigen Stadt Niemandem nach. An mir aber wird keiner von Euch dergleichen etwas gewahr. Dann auch, wenn nun einmal Theages den Umgang der Staatsmänner verschmäht, und Andere aufsucht welche sich dafür ausgeben, daß sie verstehen die Jünglinge zu bilden: so ist hier Prodikos der Keer und Gorgias der Leontiner und Polos der Akragantiner und (128) viele andere, die so weise sind, daß sie in den Städten umhergehn und die edelsten und reichsten Jünglinge überreden, denen freistände zu wem sie wollten unter ihren Mitbürgern unentgeltlich sich zu halten, diese überreden sie mit Hintansetzung des Umganges Jener sich zu ihnen, die doch erst vieles Geld als einen hohen Preis ansetzen, zu halten, und ihnen noch Dank dazu zu wissen. Von diesen solltet ihr wohl billig einige vorgezogen haben, dein Sohn und du selbst; nicht aber mich; denn gar nichts verstehe ich von diesen glückseligen und schönen Kunststücken. Ich möchte es freilich wohl; aber ich sage ja das auch selbst immer, daß ich, mit einem Wort zu sagen, nichts verstehe außer nur eine kleine Kunst, die Liebeskunst. In dieser Kunst glaube ich stärker zu sein als irgend einer sowohl von den ehemaligen als den jetzigen.

Theages: Siehst du wohl, Vater, wie Sokrates gar nicht scheint Lust zu haben sich mit mir einzulassen? Denn meinerseits ist alles bereit, wenn er nur wollte. Aber er redet ja nichts als Scherz mit uns. Denn ich kenne unter meinen Altersgenossen und etwas ältern, die ehe sie mit ihm umgingen, nichts wert waren, nachdem sie sich aber zu ihm gegeben, zeigen sie sich in kurzer Zeit besser als alle hinter denen sie vorher zurückstanden.

Sokrates: Weißt du wohl, was für eine Bewandtnis es hiermit hat, o Sohn des Demodokos?

Theages: Ja wohl beim Zeus, daß nämlich, wenn du willst, auch ich ein solcher werden kann wie jene.

Sokrates: Nicht so, Guter, sondern du bist ganz unbekannt mit der Bewandtnis dieser Sache; ich will sie dir aber erklären. Es begleitet mich nämlich durch göttliche Schickung von Kindheit an etwas wunderbares. Es ist nämlich das eine Stimme, welche jedesmal, wenn sie sich hören läßt, mir von dem was ich tun will Abmahnung andeutet, zugeredet aber hat sie mir nie. Und wenn einer von den Freunden mir etwas anvertraut, und die Stimme läßt sich vernehmen, so ist es dasselbe; sie mahnt ab und läßt es ihn nicht ausführen. Und davon will ich euch Zeugen aufstellen. Den Charmides hier kennt ihr doch, den Schönen, den Sohn des Glaukon. Dieser vertraute mir einmal, er wollte beim Wettlauf auftreten in den Nemeischen Spielen, und gleich wie er anfing zu sagen, daß er auftreten wolle, ließ die Stimme sich vernehmen. Ich hielt ihn also zurück und sagte ihm: Indem du sprachst habe ich die Stimme vernommen, die göttliche; also tritt nicht auf. Vielleicht, sprach er, deutet sie nur an, daß ich nicht siegen werde. Allein wenn ich auch nicht siegen soll, wird es mir doch Nutzen bringen, wenn ich mich diese Zeit hindurch geübt habe. Das sagte er, und schickte sich an zum Wettlauf, und es lohnt wohl von ihm zu erfahren, wie diese Übung für ihn (129) abgelaufen ist. Und wollt ihr so fragt des Timarchos Bruder, Kleitomachos, was Timarchos ihm gesagt hat, als er seinem Tode entgegen ging wider den Rat des Göttlichen, er und Euathlos, der Eilläufer, der den Timarchos aufnahm auf seiner Flucht. Er wird euch also sagen, er habe ihm dieses gesagt.

Theages: Was denn?

Sokrates: O Kleitomachos, sagte er, ich muß jetzt sterben, weil ich dem Sokrates nicht gehorchen wollte. Wie dies aber Timarchos meinte, will ich erklären. Als nämlich Timarchos vom Gastmahl aufstand und Philemon, der Sohn des Philemonides, um Nikias den Sohn des Heroskamandros umzubringen, wußten sie zwar nur beide allein um diese Nachstellung, Timarchos aber sagte im Aufstehn zu mir: Was meinst du nun Sokrates? ihr trinkt hier, ich aber muß mich anders wohin aufmachen; ich will aber bald wieder kommen, wenn es gut geht. Da geschah mir die Stimme, und ich sagte zu ihm: Keineswegs gehe mir weg, denn mir ist das gewohnte Zeichen geschehen, das göttliche. Da wartete er, und nachdem einige Zeit vorübergegangen, rüstete er sich wieder zum Gehn, und sagte, Nun gehe ich, Sokrates. Wiederum ließ sich die Stimme vernehmen; ich nötigte ihn also auch wiederum da zu bleiben. Zum dritten Male nun weil er mich nichts merken lassen wollte stand er auf ohne mir etwas zu sagen und entging mir indem er eine Zeit wahrnahm, wo ich anderwo aufmerkte; und so entfernte er sich und ging und führte das aus, was ihm hernach den Tod brachte. Daher er dann dieses sagte zu seinem Bruder, wie ich es euch jetzt wieder sage, daß er nämlich sterben müsse, weil er mir nicht geglaubt habe. Eben so werdet ihr wegen der Ereignisse in Sikelien von Vielen hören, was ich von dem Untergange des Heeres gesagt habe. Doch das Vergangene könnt ihr von denen hören, die es wissen. Aber itzt gleich könnt ihr eine Prüfung anstellen mit dem Zeichen, ob es etwas bedeutet. Denn als Sannion der Sohn des Kalos ins Feld zog, ist mir auch das Zeichen widerfahren. Er ist nun fort mit dem Thrasyllos ins Feld gegen Ephesos und Ionien; und ich glaube nun, daß er entweder sterben wird oder doch ein großes Unglück erleiden, und was übrigens die ganze Unternehmung betrifft, bin ich sehr besorgt ihretwegen.

Dieses alles nun habe ich dir erzählt, weil die Kraft dieses göttlichen Zeichens auch für das Verhältnis derer, die meines nähern Umganges pflegen, alles entscheidet. Denn Vielen ist es zuwider, und diesen wäre es nicht möglich irgend Nutzen zu haben von ihrem Umgange mit mir, so daß es mir auch nicht möglich ist mit ihnen umzugehn. Viele verhindert es zwar nicht sich zu mir zu halten, aber sie haben doch keinen Nutzen davon, wenn sie es tun. Welchen aber die Kraft dieses göttlichen Zeichens zu Hülfe kommt bei ihrem Umgang mit mir, das sind solche wie du auch kennen gelernt; denn sie machen gleich schnelle Fortschritte. Und auch von diesen wiederum welche fortschreiten haben nur einige einen bleibenden und dauernden Nutzen. Viele aber machen, so lange sie bei mir sind, wunderbare Fortschritte, wenn sie sich aber von mir (130) entfernen, sind sie wiederum nicht besser als erst einer. Dies ist einst dem Aristeides, dem Sohn des Lysimachos und Enkel des Aristeides, begegnet. Er hielt sich nämlich zu mir und schritt sehr fort in kurzer Zeit. Hernach fiel ihm ein Kriegsdienst vor, und er mußte fort zu Schiffe. Als er nun zurückkam, fand er, daß zu meiner Gesellschaft auch gehörte Thukydides, der Sohn des Milesias, Enkel des Thukydides. Thukydides aber war mir Tages zuvor etwas böse geworden im Gespräch. Als nun Aristeides zu mir kam, und mich begrüßt auch sonst mancherlei mit mir gesprochen hatte, sagte er: Und Thukydides, höre ich, ist verdrießlich auf dich und tut ordentlich vornehm, als ob er etwas wäre? – Ja, sprach ich, so ist es. – Und wie? sagte er, weiß er denn nicht was für ein Kerlchen er war, ehe er zu dir kam? – Es scheint wohl eben nicht, sprach ich, bei den Göttern. – Allein auch mir, fuhr er fort, ergeht es ganz lächerlich, o Sokrates. – Wie so? fragte ich. – Weil, sagte er, ehe ich zu Schiffe ging, ich wohl im Stande war mich mit jedem Menschen ordentlich einzulassen in Gespräch, und mich nicht schlechter zeigte in Reden als irgend einer, so daß ich auch den Umgang mit den feinsten Leuten aufsuchte. Nun aber im Gegenteil weiche ich jedem aus, von dem ich merke daß er irgend unterrichtet ist; so schäme ich mich über meine eigene Schlechtigkeit. – Hat dich denn, fragte ich, dies Vermögen plötzlich verlassen oder allmählig? – Allmählig, sagte er. – Als du es aber besaßest, sagte ich, besaßest du es etwa, weil du etwas von mir gelernt hattest, oder auf welche andere Weise? – Ich will es dir sagen, Sokrates, sprach er, wiewohl es unglaublich klingt bei den Göttern, wahr ist es doch. Gelernt habe ich nämlich nie etwas von dir, wie du auch selbst weißt. Ich machte aber Fortschritte so oft ich bei dir war, wenn ich auch nur in einem Hause mit dir war und nicht in einem Zimmer, mehr aber wenn auch in einem Zimmer. Und wie mich dünkte, wenn ich in demselben Zimmer mit dir war, mehr wenn ich dich zugleich auch ansah indem du sprachst als wenn ich anderswohin sah. Bei weitem aber am meisten und besten nahm ich zu, wenn ich dicht neben dir saß und mich an dich hielt und dich berührte. Nun aber, sprach er, ist jene ganze Fertigkeit verschwunden.

So demnach, o Theages, steht es um den Umgang mit mir. Ist es dem Gotte genehm, so wirst du dich viel verbessern und schnell; wo aber nicht, dann nicht. Sieh also zu, ob es dir nicht sicherer ist dich von einem von jenen unterrichten zu lassen, die den Vorteil in ihrer Gewalt haben, den sie Andern bringen, lieber als bei mir dich so zu befinden, wie es eben kommt.

Theages: Mich dünkt, o Sokrates, wir sollten es so machen. Wir (131) wollen im Umgang mit einander dieses göttliche versuchen. Zeigt es sich uns nun günstig, so ist das am besten; wo nicht, so wollen wir alsdann gleich Rat pflegen, was wir tun sollen, ob uns zu einem andern halten, oder ob versuchen, das dir beiwohnende göttliche zu überreden durch Gelübde und Opfer und was uns sonst die Wahrsager angeben werden.

Demodokos: Setze nun dem Knaben nichts weiter entgegen hierauf, o Sokrates. Denn ganz recht hat Theages.

Sokrates: Wohl, wenn ihr glaubt, daß wir so tun sollen, so wollen wir es tun.


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