Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher
Platons Werke. Zweiter Theil
Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher

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Phaidon

In der Übersetzung von
Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher

Einleitung

Was schon in der Einleitung zum »Gastmahl« vorläufig ist gesagt worden über die Verwandtschaft und das Zusammengehören dieser beiden Gespräche, das liegt uns nun zunächst ob in Beziehung auf das vorliegende Werk genauer durchzuführen, wie es eigentlich gemeint ist. Wollte nämlich jemand des Versuchs wegen mit uns annehmen, das »Gastmahl« und der »Phaidon« zusammengenommen wären zu den bereits gegebenen Darstellungen des Sophisten und des Staatsmannes die dritte, die des Philosophen; so würden wir ihn dann, damit ihm auch das nähere nicht entgehe, aufmerksam darauf machen, daß in der Rede der Diotima aus dem Begriff der Liebe, um dieses Gebiet lediglich der Ausgeburt in dem Schönen anweisen zu können, das Verlangen nach der Weisheit ausdrücklich ausgeschlossen worden, und also gleichsam an einen andern Ort hin verwiesen, welches man schon an sich für eine Andeutung auf den »Phaidon« ansehen könnte. Denn niemand wird ja wohl in Abrede sein, daß, wenn die Liebe überhaupt das Gute haben will, alsdann, wer die Weisheit liebt, nicht auch die Weisheit vorzüglich sollte für sich haben wollen, so daß dieses eben so wesentlich zu seinem Tun und Leben gehört, als sie Andern mitzuteilen und einzupflanzen. Und erst durch diese beiden Verrichtungen des Philosophen ist sein Verhältnis zu dem Sophisten und dem Staatsmann vollkommen bestimmt. Denn der Staatsmann als solcher erzeugt auch, aber nur vorbereitend in der Gattung die besseren zwischen den äußersten Enden schwebenden Naturen, welche dann auch der Erkenntnis am meisten empfänglich sind; so daß der Philosoph am besten aus den Händen des wahren Staatsmannes den Gegenstand für seine Liebe empfängt, um dann in demselben das höhere Leben der Erkenntnis zu erzeugen und auszubilden. Und der Sophist gleichermaßen ist auch in dialektischem Teilen und Verknüpfen beschäftigt, aber von den Sinnen festgehalten in Lust und Wahn befangen haftet er nur an den irdischen Abbildern, und will nur das Nichtseiende daraus für sich gewinnen und haben. Der Philosoph hingegen strebt sich das Seiende zu erwerben und rein zu erhalten in Erkenntnis, und deshalb sucht er, um sich zu den Urbildern zu erheben in denen es allein zu finden ist, wie er könne seine Seele, der sie einwohnen, für sich allein wirken lassen und loskommen von dem Einfluß der Sinne und des gesamten Leibes. Und eben dieses ist das Verlangen reiner Geist zu werden, das Sterbenwollen des Weisen, welches uns zu Anfang dieses Werkes beschrieben wird, und aus dem sich alle folgenden Untersuchungen entwickeln. Allein, wird mancher sagen, wenn auch dieses Sterbenwollen das andere wesentliche Treiben des Philosophen ist in Platons Sinn, so ist es doch nicht der hauptsächlichste Inhalt unseres Gespräches, sondern scheint nur als Einleitung und Veranlassung da zu stehen neben allen Verhandlungen über der Seelen Unsterblichkeit, welche doch offenbar dasjenige sind, worauf es am meisten ankommt. Daß nun die Unsterblichkeit wenigstens zu gleichen Teilen geht mit jenem Sterbenwollen, soll nicht geläugnet werden; nur übersehe auch niemand, wie eben in die Beweisführungen über die Unsterblichkeit immer wieder die Möglichkeit und Wahrheit des Erkennens verwebt ist, und beides in der Tat auf das innigste verbunden für unseren Schriftsteller. Denn das Streben nach Erkenntnis könnte als ein Sterbenwollen gar nicht Statt finden, auch nicht in dem Philosophen, wenn es notwendig zugleich wäre ein Vernichtetwerdenwollen. Und wenn die Seele das Seiende, welches nicht dem Entstehen und Vergehen und der ganzen Form des Werdens unterworfen ist, erkennen soll, so kann sie es, nach dem alten immer mit zu verstehenden Grundsatz, daß Gleiches nur von Gleichem erkannt wird, auch nur als eine eben so seiende und auf eben solche Weise. So ist denn die Ewigkeit der Seele die Bedingung der Möglichkeit alles wahren Erkennens für den Menschen, und wiederum die Wirklichkeit des Erkennens ist der Grund, aus welchem am sichersten und leichtesten die Ewigkeit der Seele eingesehen wird. Daher auch in den vorigen Gesprächen, in denen das Erkennen gesucht wurde, die Unsterblichkeit immer zugleich mit gesucht und geahnet ward; und man kann sagen, daß beide vom »Gorgias« und »Theaitetos« an immer mehr annähernd zusammentreten, bis sie endlich hier aufs genaueste verknüpft werden. Wer nun so den Zusammenhang dieser beiden Punkte im Sinn des Platon aufgefaßt hat, der wird wohl nicht länger Bedenken tragen, den »Phaidon« und das »Gastmahl« zusammenzustellen, und die Verwandtschaft beider anzuerkennen. Denn wie die dort beschriebene Liebe das Bestreben ist, das Unsterbliche mit dem Sterblichen zu verbinden: so ist die hier dargestellte reine Betrachtung das Bestreben das Unsterbliche als solches aus dem Sterblichen zurückzuziehn. Und beide sind offenbar notwendig mit einander verbunden. Denn wenn die erkennende Seele wünscht, sich immer mehr und zuletzt gänzlich aus dem Gebiete des Werdens und Scheinens zu entfernen: so ist es, da ihr doch obliegt sich immer alles unbeseelten anzunehmen, nur schuldiger Ersatz, daß sie zuvor die Erkenntnis Anderen, die länger in diesem Gebiete zu wandeln bestimmt sind, einpflanzte. Und auf der andern Seite, wenn die Seele sich bestrebt in Andere das Wahre hineinzubilden: so ist ja dieses die einzige Bewährung ihrer Liebe, wenn auch sie selbst dem Wahren allein anhangend so weit sie kann von dem Scheine flieht. Von diesen beiden wesentlichen Verrichtungen des Philosophen beherrscht nun je eine eines von unseren beiden Gesprächen ; wiewohl eben ihr notwendiger Zusammenhang eine gänzliche Scheidung nicht zuließ, auch darin ganz dem Charakter dieser zweiten Periode der Platonischen Werkbildung entsprechend. Denn wie die Darstellung der Liebe in der Rede der Diotima gar nicht bestehen konnte ohne Rückweisung auf die reine Betrachtung: so blickt auch hier wo eigentlich die Betrachtung dargestellt wird auf mannigfaltige Weise das Verlangen hindurch, immer mit Gleichgesinnten zusammen zu leben, und in ihnen das Wahre mit zu erzeugen als gemeinsames Werk und Gut, nur daß es für den Sokrates gleichsam um ein ruhiges Hinscheiden zu gewähren als in seinem eigentlichen Kreise schon im wesentlichen vollendet dargestellt wird. Und dieses führt uns darauf, wie auch das mimische in beiden Gesprächen so sehr analog erscheint, und dasselbe Verhältnis bezeichnet. Im »Gastmahl« nämlich ist Sokrates vorzüglich dargestellt in der Festlichkeit und dem Glanze des Lebens, aber doch auch nicht vergessen, wie er in philosophische Betrachtung versunken alles übrige hintansetzen konnte; im »Phaidon« hingegen ist das am meisten hervorragende die Ruhe und Heiterkeit, mit welcher er den Tod erwartet, als den Befreier von allem was die Betrachtung stört, und wiederum unterbricht er auch so nicht das gewohnte Zusammenleben, sondern will noch mit dem tödlichen Becher die heiligen Gebräuche des festlichen Mahles begehen. Allgemein ist wohl anerkannt, daß es wenig schöneres gibt von Darstellungen dieser Art als hier der sterbende Sokrates; aber ganz wird doch die Seele erst von der Größe des Gegenstandes erfüllt, wenn man beide Bilder desselben Mannes, das hier und das im »Gastmahl« aufgestellte in eines zusammenfaßt.

Wenn nun jemand fragen wollte, warum denn nicht, wenn die Sache eine solche Bewandtnis hat, Platon dieses selbst getan, und überhaupt die Darstellung des Philosophen in seinen beiderlei Tätigkeiten in Ein Werk zusammen gearbeitet habe: so ist dies, da man ihn selbst nicht mehr fragen kann, auf der einen Seite zu viel gefragt, und es kann uns nicht obliegen eine bestimmte Erklärung darüber zu geben; auf der andern Seite aber ist es leicht im allgemeinen hinzuweisen darauf, wie weit eben in dieser Periode die Philosophie selbst des Platon gebildet war, und wie sie ihm seine Werke gestaltete, so nämlich daß ohne gänzliche Trennung doch überwiegend in jedem ein Gegensatz vorherrscht, und ganz natürlich eben wie der »Gorgias« und der »Theaitetos« so auch das »Gastmahl« und der »Phaidon« zusammen gehören. Ja man kann sagen, daß sich diese Bildungsstufe in unserem Gespräch noch besonders abspiegelt in der Darstellung des Gegensatzes zwischen Seele und Leib, welche beide auch schroff genug dem äußeren nach geschieden werden, aber doch, wo die Sache selbst redet, nie gänzlich von einander lassen können. Übrigens aber wäre es auch ein wunderliches Mißverständnis des Gesagten, wenn jemand dieses so streng und äußerlich nehmen wollte, daß die beiden Gespräche der dritte Teil jener im »Sophisten« angekündigten Trilogie sind, als ob Platon, die öftere Wiederholung der nämlichen Form fürchtend, nun den Philosophen auf eine andere Weise darzustellen beschlossen, und weil er statt der etwas trocknen ironischen Einteilungen wieder die prachtvollste Mimik erwählt hätte, eben dadurch vielleicht zu einer Teilung des Gegenstandes bewogen worden wäre, und sich so beide Gespräche mit einander konstruiert und sie zugleich entworfen hätte. Denn es wäre zu derb und handfest, dergleichen behaupten zu wollen. Sondern leicht kann Platon die Trilogie haben unvollendet fallen gelassen, meinend, seine Leser könnten sich nun den Philosophen wie den zweiten Teil jener einen Rede im »Phaidros« selbst konstruieren, aus manchem früheren und späteren, worauf er sie in Gedanken verweisen konnte. Hat es sich aber auch so verhalten, so mußte ihm dennoch, und dies ist es eigentlich nur was wir behaupten, im Fortschreiten auf seiner schriftstellerischen Laufbahn notwendig dieselbe Aufgabe unter einer andern Form wiederkommen.

Unsere beiden Gespräche nämlich bilden den ersten, so wie der »Philebos« den zweiten Übergangspunkt von den bisherigen Werken, deren Charakter das indirekte Verfahren war, zu den folgenden unmittelbar konstruktiven. Und wenn Platon im Begriff zu einer andern Methode sich zu wenden das, was er mit der bisherigen beabsichtiget, und was er, wenngleich ohne überall die Resultate mit gleicher Bestimmtheit auszusprechen, auch wirklich gelehrt und festgestellt hatte, noch einmal, beschließend sowohl das Alte als vorbereitend das Neue, zusammenfassen wollte: was konnte ihm anders entstehen, als daß er das Tun des Philosophen als reines Tun, denn die Schilderung seiner Werkbildung sollte nun ihm erst angehn, so darstellte, wie er es nach eigner Lust und Einsicht geübt hatte? Merkwürdig bleibt es freilich und könnte auf eine frühere Abfassung unserer Gespräche zu deuten scheinen, daß das in den unmittelbar vorangehenden Gesprächen so fast verschwundene und im »Philebos« auch gleich wieder sehr zurückgedrängte mimische in diesen beiden Gesprächen so gewaltig heraustritt, gleichsam in seiner letzten und höchsten Glorie. Allein teils sieht wohl Jeder, daß das mimische auch in keinem andern Gespräche, am wenigsten in den frühesten, dem »Phaidros« und dem »Protagoras« so ganz in den Gegenstand verwachsen und innig mit ihm eines ist als hier, und es also auch nirgends ein größeres Recht hatte, sich in vollem Glanze zu zeigen. Teils auch können mancherlei andere Umstände hiezu Veranlassung gegeben haben, im »Gastmahl«, von welchem ohnehin gewiß ist, daß es nicht zu den früheren Werken des Platon gehört, in diesem etwa die nicht abzuläugnende apologetische Tendenz der eine anschauliche Darstellung des Sokratischen Lebens sehr gut mußte zu statten kommen, im »Phaidon« vielleicht die Erinnerung an die eigenen sikelischen Begebenheiten, und der Wunsch zu zeigen, wie feigherzige Furcht vor dem Tode dem wahren Schüler des Sokrates nicht einwohnen könne. Darum ist es auch gar nicht das genaue Verhältnis zu dem »Gastmahl« allein, was dem »Phaidon« diese Stelle in den Platonischen Werken bestimmt. Vielmehr ist es das so deutliche Zusammenfassen alles bisherigen, die bestimmte Vorbereitung auf das künftige, worauf wir einen Jeden vorzüglich verweisen; mag ihm dann jenes besondere Verhältnis mehr oder minder klar einleuchten, dies kann der Hauptsache keinen Eintrag tun.

Zuerst wird wohl jeder sehen, daß nur bei dem Übergang von den bisherigen Werken zu den künftigen jene Rechenschaft an ihrer Stelle war, die uns hier Platon in der Person des Sokrates ablegt von seinen Fortschritten in der Spekulation, und von den Wendungen seiner philosophischen Laufbahn, wie er nämlich den Anfang gemacht mit dem Anaxagoras, wie ihm durch diesen zuerst die Idee des Guten und die Herrschaft der Vernunft als höchste Norm aller Weltbetrachtung eingeleuchtet, wie er sich auf dialektischem Wege von der Untauglichkeit der Empedokleischen Physik überzeugt, und deshalb, so lange seine eigene Idee ihm noch nicht klar genug gewesen, um sie als Prinzip treu und vollständig durchzuführen, nicht anders als kritisch und hypothetisch habe zu verfahren gewußt, was vorzüglich wohl auf seine Behandlung der Eleatischen und Herakleitischen Philosophie geht, und auf das Resultat derselben, daß nur die ewigen Formen das Beharrliche sind zu dem Wechselnden und die wahren Einheiten zu dem Mannigfaltigen, und daß nur auf sie und die Beziehung der Dinge zu ihnen Erkenntnis und Wissenschaft von irgend etwas kann gebaut werden. Welcher Grundsatz hier zuerst ganz frei und mit solcher Bezugnahme auf die Konstruktion der Wissenschaft aufgestellt wird, daß jeder, der sich auf Platonische Wendungen und den Platonischen Wert der Ausdrücke versteht, sehr leicht sehen muß, indem Platon dieses geschrieben, sei ihm auch die Idee des Guten nicht mehr zu fremd gewesen oder zu unklar, um aus ihr in Verbindung mit jenem Grundsatz beide Wissenschaften, die auch hier angedeutet werden, aufzubauen. Sondern jeder recht aufmerksame Leser fühlt gewiß bei dieser Stelle die bestimmteste Neigung, gleich aus dem »Phaidon« in den »Timaios« hinüberzuspringen, bis er sich etwa besinnt, daß dem Platon das sittenwissenschaftliche überall früher komme in seinen Darstellungen als das naturwissenschaftliche, und daß auf der andern Seite doch auch die Idee des Guten selbst, noch einer genaueren Darlegung fähig, und zumal wegen der damals schwebenden Streitpunkte, auch wohl bedürftig sei, und wir also zuvor noch den »Philebos« und die »Republik« durchzumachen haben, die auch hier beide offenbar aus dem »Phaidon« emporkeimen. Auch das entgeht wohl keinem gesunden Gefühl, daß die Lehre von der Seele in unserm Gespräch noch unfertig ist, aber doch in der letzten Entwicklung, nicht mehr mythologisch verpuppt wie im »Phaidros«, sondern wie der eben ausschlüpfende Schmetterling, dem nur noch die Flügel, welches ja in wenigen Momenten geschieht, zur Vollständigkeit wachsen müssen, was dann ebenfalls ganz nahe auf den »Timaios« hinweiset. Denn wie die Seele hier beschrieben wird als Leben überall hinbringend, als dem sich immer gleich bleibenden verwandter, das nähert sich zwar der strengen Bestimmtheit, aber es ist sie noch nicht selbst, und es sieht ganz so aus, wie wenn jemand von einem Gegenstand, dem eine eigne Untersuchung soll gewidmet werden, zum Behuf einer andern soviel nur beibringt, als jeder ohne weiteres zugeben muß.

Wie nun alle diese Andeutungen auf das, was noch kommen sollte, dem »Phaidon« seinen Platz anweisen vor den letzten großen Werken des Platon, aber nahe an dieselben ihn hinanrückend: so bestimmen auch alle Verhältnisse zu den bereits mitgeteilten Gesprächen ihm seinen Platz nach diesen. Wenn wir nämlich auf die Gespräche, welche den zweiten Teil bilden, in der Ordnung, wie sie hier aufgeführt werden, sehen: so finden wir, daß in demselben der Zusammenhang, welcher statt findet zwischen der Platonischen Lehre von der Erkenntnis und der von der Unsterblichkeit, noch nicht mit festen Strichen sondern nur auf entfernte Art gezeichnet wird, indem wo von dem seienden und gleichen im Gegensatz des veränderlichen und werdenden die Rede ist, auch immer irgendwie der Unsterblichkeit Erwähnung geschieht. Näher wird er zuerst gebracht durch die Art, wie im »Menon« die Lehre, daß die Erkenntnis Erinnerung sei, durchgeführt und anschaulich gemacht wird, worauf sich auch Platon hier im »Phaidon« beruft, vielleicht bestimmter und ausdrücklicher als irgend sonstwo auf ein früheres Werk. Denn wer diese Berufung läugnen wollte, dem bliebe schwerlich etwas anderes übrig, als anzunehmen, die Aussage des Sokratischen Kebes gehe nur auf mündliche Vorträge sei es nun des Sokrates oder des Platon zurück, und nach eben dieser Aussage sei nun der »Menon«, aber dann wohl nicht vom Platon selbst sondern von einem Andern gebildet worden; was indes wohl keinem, der irgend gesunde Kritik ausübt, wird wahrscheinlich gemacht werden können. Ganz klar aber konnte jener Zusammenhang nicht füglich dargestellt werden, bis die im »Sophisten« enthaltenen Untersuchungen vorangegangen waren; und die Leichtigkeit, mit der sich Sokrates alles was diesen Punkt betrifft als längst abgesprochene Sachen zugeben läßt, wäre ohne eine solche Beziehung unerklärlich. Darum also erfolgt diese Darstellung erst hier, hier aber dafür auch ganz vollständig, und der Ort, wo sie gegeben wird, ist unstreitig der Kern des ganzen Gespräches, wie denn offenbar der Platonische Sokrates selbst darauf das meiste Gewicht legt, daß es die gleiche Notwendigkeit ist, vermöge deren die Ideen sind und die Seele ist, auch ehe wir geboren werden, und auch die gleiche Weise wie die Ideen sind und wie die Seele ist außer dem Gebiete des Werdens, worin sie im Leben erscheint. Dieses nur ist dem Sokrates und den seinigen das unmittelbar gewisse, woran sie fest halten, eben weil es mit der Realität der Erkenntnis selbst unmittelbar eins und dasselbige ist; und diejenigen, welche den Platon anders verstehen, oder wenigstens ihm eine andere Vorstellung der Unsterblichkeit, als sei sie das ihm unmittelbar gewisse und das Resultat seiner Demonstration, unterschieben, mögen sich durch diese Stelle warnen lassen, daß sie sich nicht denen ohne es zu wollen beigesellen, welche verwirrt genug träumen, daß nach Platon auch die Ideen außer der Natur und außer dem Gemüt noch irgendwo ein ich weiß nicht auf welche Weise sinnliches oder irgendwie räumliches und äußeres Dasein hätten. Denn außer dem was mit jenem höheren wahrhaft unsterblichen Sein der Seele notwendig zusammenhängt, und hier auch als eine ordentliche Rede durchgeführt wird, daß nämlich die in der Zeit sich immer wiederholenden Erscheinungen der Seele im Leibe immer wieder aus der Fülle jener Unsterblichkeit hervorgehen, und wahre Wiederholungen sind, nicht neue Schöpfungen, außer diesem ordnet Platon selbst alle andern Vorstellungen und näheren Bestimmungen unter jene Lehre als nicht gleichartiges noch von gleichem Grade der Gewißheit, sondern teils als anmutiges Gespräch und als Beschwörungen für das Kind in uns, welches törichterweise den Tod fürchtet, teils hat es überhaupt eine andere Beziehung. So zum Beispiel sind die wiederholten und immer vervollkommneten Erscheinungen der Seele im Leben des Leibes ganz gleichartig und gleichlaufend mit den verschiedenen Orten derselben auf der Erde, an deren einem sie auch deutlicher und minder getrübt sieht als an andern; aber was sie sieht sind doch immer nur die Dinge, und nicht im helleren Vorstellen deutlicherer Abdrücke der Ideen bewährt sich ihr höheres und wahrhaft unsterbliches Sein, sondern nur im Erkennen selbst. Daher dient beides wohl mehr dazu, das ganze Gebiet der Seele im Reiche des Werdens und des leiblichen Lebens zu verzeichnen, als die Unsterblichkeit selbst darzustellen oder näher zu bestimmen. Ja wer weiß, ob nicht der ganze Einwurf des Kebes, daß das Überdauern der Seele über viele Leiber noch nicht die Unsterblichkeit beweise, der etwas hart und unerwartet an den Simmias, den Schüler des Philolaos gerichtet wird, verdeckterweise gegen die Pythagoreer gemeint ist, welche glaubten in der Seelenwanderung die Unsterblichkeit dargestellt zu haben, und daher, worüber auch früher geklagt wird, nichts genaueres über diese lehrten. Nur lasse sich niemand etwa hiedurch und durch die Harmonia verführen, zu glauben, daß vielleicht auch Simmias seine Einwendung, daß die Seele wohl nur Stimmung des im Körper gegebenen sein könne, gleichsam im Namen der Pythagoreer vortrage. Vielmehr waren diese wohl darin ganz einig mit Platon, daß nur die Tugend und das Laster als Stimmung der Seele selbst könne angesehen werden, und die Einwendung ist vielmehr ganz im Geiste des strengen atomistischen Systems, dem sich aber freilich von dieser Seite Empedokles nicht wenig nähert, so daß sich schwerlich möchte entscheiden lassen, wem namentlich die Einkleidung des Gedankens abgeborgt oder angepaßt ist. Und wem die Beantwortung teilweise wenigstens unklar und ungenügend scheint, der übersehe nur nicht, daß sie sich auf den schon an mehreren Orten angeregten Unterschied bezieht zwischen den Begriffen, welche dem mehr und weniger unterworfen sind, und denen, welche ein eigenes Sein ausdrückend auch ihr Maß in sich selbst haben; denn hieraus läßt sich wohl finden, obgleich es nicht ganz in unserer Art ist die Sache zu sehen, wiefern die Stimmung wohl sich unter jene setzen lasse, die Seele aber nur unter diese.

Ungerechnet nun diese allgemeine Beziehung auf die bisherigen Gespräche vermöge der Verbindung zwischen der Lehre von der Erkenntnis und der von der Unsterblichkeit, fehlt es auch nicht an anderen mehr oder minder mit jenem durchgreifenden Hauptpunkt zusammenhängenden Rückweisungen auf anderes frühere. So erinnert zum Beispiel außer jener Anführung auch dasjenige noch an eine Stelle im »Menon«, was hier von der gemeinen und bürgerlichen Tugend gesagt wird, und es scheint, Platon habe hier zeigen gewollt, daß diese niedere Art der Tugend, eigentlich nur ein Schattenbild der wahren, auch stattfinden könne, ohne daß selbst eine eigene richtige Vorstellung dabei zum Grunde liegt; und jene Ansicht im »Staatsmann« von den natürlichen Anlagen, welche die eine zu dieser, die andere zu jener Tugend führen, bildet gleichsam den Übergang zwischen beiden. So auch wo von der wahren Tugend die Rede ist, und sie als Vernünftigkeit beschrieben wird, setzt die Art, wie auf den »Protagoras« Rücksicht genommen und noch einmal jeder Mißverstand der dortigen Dialektik beseitiget wird, eigentlich alle dazwischenliegenden Untersuchungen voraus. Denn nun erst können wir wissen, was doch notwendig dazu gehört, daß das Abschätzen verschiedener Lustgrade gegen einander keine Erkenntnis sein kann. Ferner die Abkunft der Geborenwerdenden aus den Toten, die hier aus einem Naturgesetz alles Werdenden allgemein abgeleitet wird, haben wir im »Staatsmann« schon in einer mythischen Darstellung gehabt, die sich wohl einem Jeden als die frühere wird zu erkennen geben. So ist auch ebendaselbst schon der erste Grund gelegt zu der höchsten Erweiterung und allgemeinsten Behandlung des Begriffs der Seele, indem gesagt ist, daß auch Himmel und Erde der Natur des Leibes teilhaftig sind, zu dem es ja auf diese Weise notwendig auch eine Seele geben muß, so daß auch von dieser Seite angesehn der »Phaidon« näher vorbereitend und bestimmend zwischen jenes Werk und den »Timaios« tritt. Eben so wenn man genau betrachtet, was hier von der Lust gesagt wird, kann man kaum glauben, es sei früher als das im »Gorgias« abgehandelte, so sehr ist es leidenschaftloser hingestellt und aus einer tieferen Anschauung geschöpft; wohl aber wird es jeder für früher erkennen, als den »Philebos«, der erst die ausgeführte Darstellung des Angenehmen von dieser Seite enthält; ja es scheint fast, als ob Platon hier habe darauf vorbereiten gewollt, daß dieser Gegenstand noch einmal müsse abgehandelt werden, und zwar reifer, ruhiger, mit mehr Berücksichtigung der Natur. Für jeden aber, der vom »Phaidon« aus auf die bisher mitgeteilten Werke umherschaut, wird wohl am meisten Reiz haben die Vergleichung desselben mit dem »Phaidros«, wegen der mannigfaltigen Berührungspunkte zwischen beiden. Und vielleicht wird es den meisten so gehn, daß wenn sie den »Phaidon« schon eine Weile hinter sich haben, und sie sich dann den »Phaidros« dicht vors Auge halten, sie einzelne Punkte in demselben finden werden, die ihnen dem »Phaidon« zu ähnlich scheinen, um einen großen Zwischenraum zwischen beiden zu gestatten, ja vielleicht manche, in denen sie noch mehr Vorschmack vom »Timaios« finden, und deshalb den »Phaidros« für später halten möchten als den »Phaidon«; woraus ich mir denn erkläre, wie auch diese Meinung Anhänger gefunden hat. Wer hingegen sich beide Werke in gleiche Entfernung stellt, und also das Ganze von beiden gleichförmig zu überschauen im Stande ist, der glaube ich wird sich wundern müssen, um wievieles doch der »Phaidon« sich vollendeter zeigt, weiser und eines reiferen Alters würdig, so daß er sich recht zum »Phaidros« verhält, wie der sterbende Sokrates zu jenem, der noch vieles zu lernen hofft von den Leuten auf dem Markte. Denn schon das mythische sogar, wieviel nüchterner ist es und besonnener! Hier ist nicht mehr die Rede von einem überhimmlischen Ort und von einem blinzelnden Schauen der Ideen, und kein Bedürfnis regt sich der trocken aufgestellten Unsichtbarkeit derselben durch ein mißdeutliches Bild nachzuhelfen; sondern es genügt, um den Kreislauf der Seele zu zeigen, an einer Darstellung der Erde, welche zwar auch auf Sagen der Dichter und der Weisen gebaut ist, aber doch auf späteren, mehr Ahndung von Wissenschaft enthaltenden. Ja wiewohl man nicht in jeder Einzelheit eine besondere Bedeutung suchen soll, würden wir doch demjenigen kaum abstimmen, welcher vermutete, was von Sokrates Behandlung der Aesopischen Fabeln gesagt wird, sei eine Rechtfertigung dafür, daß in den meisten Platonischen Mythen so wenig eigne Erfindung enthalten ist. Und wie viel gebildeter ist nicht im »Phaidon« das philosophische Talent, wieviel bestimmter tritt der Zusammenhang eigner Einsichten auf, wie wird hier, verglichen mit jener jugendlichen Freude an den ersten Elementen, über die philosophische Methode gesprochen aus langer Übung und vielseitiger Kenntnis, so daß gewiß leichter der junge Platon den Sokrates im »Phaidros« so jung konnte reden lassen, als im »Phaidon« so alt. Ja selbst wenn jemand annehmen will, Platon habe, als er den »Phaidros« schrieb, schon Kenntnis gehabt von Pythagoreischen Schriften, was uns jedoch noch immer keinesweges notwendig scheint; wie ganz anders wird von dieser Schule dort gehandelt, wo sie als eine ferne mythische Weisheit erscheint, und hier, wo Platon Hand anlegt um das unzulängliche in ihren Lehren zu ergänzen. Und nun der im »Phaidros« geführte Beweis für die Unsterblichkeit der Seele, wird wohl jemand glauben können, dieser sei noch eine annehmliche Zugabe nach allem was in unserem Gespräch über diesen Gegenstand darüber verhandelt ist? Und wird nicht vielmehr Jeder einsehn, Platon habe diesen Beweis bei Seite gestellt und gleichsam verläugnet, weil er sich nun gescheut, die Seele, wie er dort getan, Urgrund, oder Gott, welcher der wahre Urgrund ist, Seele zu nennen? Diejenigen also, welche den »Phaidon« gleich nach des Sokrates Tode, den »Phaidros« aber erst nach der Ägyptischen Reise geschrieben glauben, was können sie wohl außer dem in der Einleitung zum »Phaidros« schon besprochenen noch aufbringen, als etwa einerseits den großen Fund, wenn wir ihnen dieses nicht erst leihen, daß im »Phaidros« als Veranlasser von Reden Simmias deshalb über den Phaidros gesetzt werde, weil er die Reden im »Phaidon« veranlaßt habe, und andrerseits jene einzelnen Stellen im »Phaidros«, in denen doktrinelle Gegenstände mit einer größeren Bestimmtheit ausgesprochen werden, als der ersten Schrift zuzukommen scheint, und in denen Wörter vorkommen, welche Untersuchungen voraussetzen, die sich erst in anderen Gesprächen finden. Allein wie wenig jener Umstand gegen alles von uns aufgestellte besagen will, leuchtet wohl Jedem ein; und so auch kann jedem überlassen bleiben, sich selbst zu erklären, wie diese wenigen Stellen des »Phaidros« aus der dialektischen Tendenz desselben auch bei einem noch ganz unentwickelten Zustande der Platonischen Philosophie entstanden sind, so daß es der Ausrede gar nicht bedarf, als seien sie bei einer späteren Bearbeitung erst eingelegt, wiewohl sie eingelegt genug aussehn. Endlich ohne allen Bezug auf den »Phaidros« wäre wohl für eine so frühe Stellung des »Phaidon« nichts zu sagen, als daß eine so ausführliche Darstellung des Sokrates nur kurz nach seinem Tode an ihrem Ort gewesen wäre, und daß die Stelle im »Theaitetos« über die Flucht von hinnen eine Erläuterung über das Sterbenwollen im »Phaidon« sein solle; und solche Gründe anführen heißt genugsam die Schwachheit der Sache ins Licht setzen.

Diese Auseinandersetzung, in welche sich zugleich von selbst eingefügt hat, was über den Inhalt des Gesprächs vorher zu erinnern war, wird hoffentlich dem »Phaidon« seine Stelle zwischen dem »Gastmahl« und dem »Philebos« sichern. Außerdem sind chronologische Spuren nicht geradezu vorhanden, wohl aber deuten mehrere Zeichen auf eine spätere Zeit. Nur auf zwei wollen wir aufmerksam machen. Einmal trägt die Art, wie Sokrates sowohl in dem Mythos den Sitz der hellenischen Bildung als die schlechteste Gegend der Erde darstellt, als auch ausdrücklich seine Schüler ermahnt, die Weisheit auch außerhalb Hellas unter den Geschlechtern der Barbaren zu suchen, durchaus das Gepräge einer späteren Zeit, wo vorzüglich vielleicht durch die Bekanntschaft mit den Pythagoreern die Sehnsucht nach morgenländischer Weisheit aufgeregt war, und hat eine ganz andere Bedeutung als anderwärts wohl einzelne Anpreisungen der Ägyptier oder Lokrer oder Geten. Dann aber auch wird hier offenbar die Bekanntschaft mit den Schriften des Philolaos vorausgesetzt, und das Gespräch selbst lehrt genugsam, daß diese in Athen selbst damals noch nicht einheimisch waren, weil nur den Thebischen Freunden zugemutet wird von der Lehre des Mannes, der sich dort aufgehalten, zu wissen; nach Schriften aber, die in Athen bekannt waren, auf andere Weise pflegt gefragt zu werden; so daß die Sage allerdings Wahrscheinlichkeit gewinnt, Platon habe diese Bücher als ein Gastgeschenk von seinen Reisen mitgebracht.


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