Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher
Platons Werke. Zweiter Theil
Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher

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Menon

In der Übersetzung von
Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher

Einleitung

Wer das Ende des »Theaitetos« im Auge hat und es mit dem Anfang des »Sophistes« vergleicht, wo offenbar dieselben Personen wieder zusammenkommen mit bestimmter Rückweisung auf die dort getroffene Abrede, der wird sich billig wundern, daß nicht auch hier dieses Gespräch unmittelbar auf jenes folgt. Und freilich müssen es sehr triftige Gründe sein, um welcher willen eine so deutliche und absichtlich scheinende Anzeige außer Acht gelassen wird. Allein eben deshalb sind sie auch von der Art, daß sie vollständig erst dann können eingesehen werden, wenn Jemand vom »Sophistes« aus auf den »Theaitetos« und das, was durch die gegenwärtige Anordnung zwischen beide gestellt wird, zurücksehen kann. Nur soviel muß doch Jedermann zugestehen, daß jene Anzeige keine dringende Notwendigkeit enthält, und die Möglichkeit mehrere Gespräche zwischen jene beiden einzuschieben nicht ausschließt. Denn wie leicht kann Platon allerdings zwar die Absicht gehabt haben, was wir jetzt im »Sophistes« finden, unmittelbar nach dem »Theaitetos« auszuführen, hernach aber entweder durch besondere Veranlassungen dies und jenes noch zuvor zu erörtern aufgefordert worden sein, oder auch eingesehen haben, daß er nicht alles, was notwendig war, um zu jenen Ergebnissen zu gelangen, in Einem Gespräch gehörig durchnehmen könne, und deshalb hat er dann mehrere kleine dazwischen geknüpft, ohne jenen einmal angedeuteten Hauptfaden zu zerschneiden. Oder es könnte auch ursprünglich, als er den »Theaitetos« beendigte, seine Absicht gewesen sein, durch dieselbigen Personen das, was wir jetzt im »Menon« finden, durchsprechen zu lassen, und dies oder jenes ihn späterhin bewogen haben, hiezu lieber Andere zu wählen, und jene einmal hingeworfene Andeutung für eine spätere Arbeit zu benutzen. Kurz jener äußere vielfach erklärbare Umstand darf nicht gegen eine innere Notwendigkeit oder auch nur Wahrscheinlichkeit auftreten, sobald nämlich gezeigt werden kann, daß der »Menon« sich wirklich zunächst an den »Theaitetos« anschließt, und auf jeden Fall zwischen ihn und den »Sophistes« muß gesetzt werden. Dies aber wird, so weit es sich hier zur Stelle erörtern läßt, hoffentlich durch folgende Zusammenstellung deutlich genug erhellen.

Die erste Andeutung finden wir darin, daß im »Theaitetos«, wo der Gegensatz zwischen Wissen und Nichtwissen aufgestellt und in Betrachtung gezogen wird, Sokrates sagt, er wolle das Lernen und Vergessen als zwischen beiden liegend für jetzt bei Seite setzen, und offenbar so davon redet, als läge darin auch eine Aufgabe, die er nur um seinen Hauptgegenstand nicht zu verlieren für ein anderes Mal aufsparen will. Grade diese Aufgabe nun wird im »Menon« zur Sprache gebracht, und wer aufmerksam vergleicht, kann sich nun schon um deshalb den »Menon« nicht mehr vor dem »Theaitetos« denken. Nicht anders aber wird sie gelöset, als wie Platon immer vorläufig zu tun pflegt, durch eine mythische Voraussetzung, so daß wir hier gerade dasjenige finden, was nach seiner Weise, wenn die Frage einmal aufgeworfen war, zunächst geschehen mußte. Da nun im »Sophistes« sowohl als in andern offenbar dieser Reihe angehörigen Gesprächen dieselbe Frage mehr dialektisch und wissenschaftlich behandelt wird: so kommt natürlich der »Menon« näher an den »Theaitetos« und vor jenen zu stehen. Denn wäre, als Platon den »Menon« schrieb, schon in öffentlichen Darstellungen zur wissenschaftlichen Lösung dieser Frage soviel von ihm geleistet gewesen als wir in späteren Gesprächen finden werden: so hätte die mythische Behandlung derselben in diesem Gespräch keinen Sinn mehr gehabt, sondern Platon würde die Leser auf eine andere Art, die wir von ihm auch schon kennen, zu jenen Werken, wo dies bessere geschehen, zurückgewiesen haben. Dasselbe ergibt sich, wenn man eine andere, ebenfalls durch mehrere von diesen Gesprächen hindurchgehende Frage berücksichtiget, nämlich die von der Unsterblichkeit. Wenn man erwägt, wie diese Idee zuerst im »Gorgias« und »Theaitetos« fast nur vorausgesetzt und mythisch ausgezeichnet ist, dann hier als Erklärungsgrund einer Tatsache aufgestellt und gleichsam gefodert wird, anderwärts aber und vornehmlich im »Phaidon« mit einem höheren Grade von wissenschaftlicher Anschaulichkeit dargetan und auseinandergesetzt: so muß Jeder nun schon einigermaßen mit Platons Verfahren bekannt gewordene gestehen, daß nur durch diese Stellung des »Menon« jene steigende allmählig bis zum Mittelpunkt durchdringende Klarheit, welche dem Platon eigen ist, in diese Verhandlung kommt, und daß das erste, was Platon nach jener allgemeinen Aufstellung zu tun hatte, eben dieses war, zu zeigen, er sei berechtigt gewesen, die Unsterblichkeit auf solche Art vorauszusetzen, wiefern nämlich alle Wissenschaft und alle Mitteilung mit ihr zugleich steht und fällt. Dies jedoch ist allerdings kein Beweis für diejenigen, welche den »Phaidon« für ein früheres Werk halten können als den »Gorgias«. Allein gegen diese können wir uns erst wenden, wenn wir nach unserer Anordnung jene beiden Gespräche mit einander vergleichen. – Behält man nun im Auge auf der einen Seite, wie diese beiden Fragen, die von der Möglichkeit des Lernens und die von der Unsterblichkeit, mit einander in Verbindung gebracht werden, und auf der andern Seite, wie die Frage von der Möglichkeit zur Erkenntnis zu gelangen hier verschränkt ist in die andere von der Möglichkeit zur Tugend zu gelangen und von der Natur der Tugend überhaupt: so sieht man, daß der »Menon« eben so unmittelbar zum »Gorgias« gehört wie zum »Theaitetos«, und daß sich durch ihn die aufgestellte Ansicht von dem Verhältnis dieser beiden Gespräche zu einander noch mehr bestätiget, indem er bestimmt ist, beide noch genauer zusammen zu ziehen und in einander zu verflechten, für diejenigen, welche etwa noch nicht begreifen konnten, wie teils die Hauptaufgaben beider Gespräche mit einander, teils in jedem von beiden das als Abschweifung vorgetragene mit dem Hauptgegenstande zusammenhinge. Und dies bestätiget jede genauere Betrachtung des »Menon«, welcher, je näher man ihn mit jenen beiden zusammenhält, um desto dichter sich ihnen anschließt, und so unmittelbar, daß man sich unmöglich noch etwas Anderes dazwischen denken kann. Daher auch kaum etwas mehreres nötig sein wird, als nur die einzelnen Angaben hinzustellen. Zuerst zeigt sich Jedem als letztes wiewohl dort nicht bestimmt und ausführlich ausgesprochenes Ergebnis des »Theaitetos« die Aufstellung und Entwickelung des Begriffes der richtigen Vorstellung und der aufgezeigte Unterschied zwischen ihr und der eigentlichen reinen Erkenntnis. Dieser wird nun nicht nur im »Menon« als erwiesen vorausgesetzt und ausdrücklich unter das Wenige gestellt, wovon Sokrates behaupten möchte, daß er es wisse, sondern es leuchtet ein, daß die entscheidende Behandlung der Frage über die Lehrbarkeit der bürgerlichen Tugend nichts anderes ist als eine unmittelbare Folgerung, ein Corollarium aus dem »Theaitetos«, welches, was dieser zuletzt herausgebracht, auf den Gegenstand des »Gorgias« anwendet. Eben so gibt uns der »Menon« eine unmittelbare Fortsetzung des letzteren, indem darin gezeigt wird, daß die Begriffe des Guten und der Tugend so wenig als durch das Angenehme im allgemeinen eben so wenig auch durch irgend eine genauer bestimmte Art zum Angenehmen zu gelangen, können bestimmt werden, sondern man beide zusammengehörige Begriffe rein für sich von Grund aus behandeln müsse. Und damit die Verbindung nicht übersehen werde, wird der Mitunterredner aufgeführt als ein Schüler des Gorgias, und ausdrücklich auf ein Gespräch des Sokrates mit diesem angespielt. Auch ganz in dem Sinne, wie Gorgias und seine Freunde das Schöne eingestehen mußten, antwortet auch Menon. Und so wie das letzte Ergebnis des »Theaitetos« bestätigend ausgesprochen wird, so wird auch das des »Gorgias« wiederholt, und gezeigt, es sei noch kein letztes und treibe die Untersuchung höher hinauf.

Dasselbe zeigt sich gleichfalls, wenn man auf dasjenige sieht, was Nebensache ist oder zu sein scheint; denn auch dieses ist im »Menon« so durchaus einerlei mit jenen Gesprächen, daß man daraus auf noch fortdauernde gleiche Verhältnisse und Beschäftigungen schließen muß. Derselbe Gebrauch des mathematischen zu Beispielen, wie im »Theaitetos«, ja sogar der gewählte Gegenstand in sichtbarem Zusammenhange mit jenem. Denn die dem Pythagoreischen Lehrsatz zum Grunde liegende Aufgabe, die Seite des doppelten Viereckes zu finden, ist grade der Fall, wobei am unmittelbarsten, und gewiß auch zuerst, die Unmeßbarkeit zweier Linien gegen einander ist zur Anschauung gekommen. Diese Stätigkeit des Stoffes, aus welchem die Beispiele genommen werden, kann so wenig zufällig sein, daß man vielmehr dadurch möchte in Versuchung geführt werden, dem Beispiel selbst noch einen höheren symbolischen Wert beizulegen, zumal wenn man bedenkt, daß Platon überall in seinen Werken Denkzeichen setzt für die Hörer seiner unmittelbaren lebendigen Anweisungen. Doch möge auch dieses nur schwache Vermutung bleiben oder vielleicht gar voreilig sein und falsch; offenbar deutet doch dieser sonst nirgends so vorkommende Gebrauch darauf, daß während der Abfassung beider Gespräche Platon sich zugleich mit demselben Gegenstande, sei es nun mehr in mathematischer oder mehr in Pythagoreischer Hinsicht, beschäftigte. Ferner hängen die im »Menon« vorkommenden Beispiele aus der Naturlehre ganz deutlich zusammen mit dem, was im »Theaitetos« zur Erläuterung der Lehre des Protagoras beigebracht wurde, und sollen verteidigend beweisen, daß Sokrates dort wirklich im Sinne der Meister jener Schule ihre Lehren vorgetragen. Und diesen wird hier Gorgias als Schüler des Empedokles ausdrücklich beigesellt, und auch dadurch auf den innern Zusammenhang zwischen dem von ihm benannten Gespräch und dem »Theaitetos« aufmerksam gemacht. Eben so schließt sich der »Menon« an beide Gespräche an durch die gleiche Polemik. Denn die Anspielung auf Aristippos den Gastfreund reicher Tyrannen ist nicht zu verkennen, wo Menon der Gastfreund des großen Königs aussagt, Reichtum zusammenzubringen sei Tugend, ja auch da nicht, wo er die seiner Denkungsart, wie sie Xenophon schildert, nicht angemessene Einschränkung macht, daß es nur auf rechtmäßige Weise geschehen dürfe. Eben so wird Jeder an den Antisthenes denken, wo etwas verächtlich von Allen zugestanden und wiederholt bekräftiget wird, ein Sophist könne die Tugend nicht lehren, welches Antisthenes in einem dem Platon nicht annehmlichen Sinne behauptete, und wo sogar sein erster Lehrer Gorgias, als der hierauf keine Ansprüche machte, ihm zum Muster vorgestellt wird. Ferner hat der »Menon« mit dem »Theaitetos« und »Gorgias« gemein die gleiche Anspielung auf die Anklage des Sokrates. Wie im »Theaitetos« ihrer ausdrücklich und zwar ziemlich müßig erwähnt, und sie im »Gorgias« fast geweissagt wird, und in beiden manches aus der Verteidigungsrede sehr merklich wiederkommt: so erscheint hier der künftige Ankläger selbst, und man sieht seinen Zorn entstehen ganz so wie ihn Sokrates in der Verteidigungsrede beschreibt. Und so gleiches Gepräge tragen diese Anspielungen, daß offenbar die gleiche Veranlassung hier wie dort zum Grunde gelegen, und »Menon« in den gleichen Zeitraum mit jenen zusammenfällt. Noch besonders schließt sich aber dieses Gespräch dem »Gorgias« an durch das, was Sokrates dem Anytos abfragt und erzählt von den Athenischen Staatsmännern. Platon gibt sich nämlich das Ansehn aus dem, was er im »Gorgias« behauptet hatte, umzulenken in eine günstigere Meinung; aber nur scheinbar tut er es mit genug Ironie, die auch am Ende recht hell heraustönt. Es scheint freilich eine ordentliche Ehrenerklärung zu sein, die ihnen Sokrates ausstellt, ehrenwerte und rechtliche Männer habe es immer viele gegeben unter den Staatskundigen zu Athen, und er wolle hier nur behaupten, daß ihre Tugend nicht auf Erkenntnis beruht habe, und daß dies die Ursach gewesen, warum sie sie auch nicht lehren und mitteilen konnten, und diese Erklärung scheint um so kräftiger, da Sokrates nun in die gelinder gewendete Verurteilung selbst den Aristeides mit begreift, den er vorher so sehr herausgehoben hatte vor den andern. Allein dieser, den er, was das Mitteilen betrifft, allerdings preiszugeben genötiget war, bleibt nun doch von den übrigen Vorwürfen, deren hier nicht weiter erwähnt wird, frei, und die Möglichkeit wie er es bleiben könne, wird aufgestellt, da es doch solche geben kann, bei denen die richtige Vorstellung die sie einmal haben, unwandelbar bleibt; und eben dieses ist hingestellt als der wahre Wert der nicht von einer ganz durchgebildeten Vernunft begleiteten und also nicht auf eigentlicher Erkenntnis beruhenden Tugend. Die Andern hingegen, denen schon sonst gezeigt worden, daß sie das Nützliche nicht festzuhalten vermochten, werden ganz leise mit ihrer richtigen Vorstellung, die aber nicht bleiben will ohne Erkenntnis, in die gleiche Klasse der Gottbegeisterten gesetzt mit den Wahrsagern und Dichtern, und zuletzt wird deutlich herausgesagt, wie es hiermit auch anderwärts gemeint gewesen, daß nämlich diese Alle sich nur wie Schatten verhalten zu dem Einen, wenn es einen solchen gäbe, der da wisse und lehren könne.

Dies führt von selbst auf noch eine andere Ähnlichkeit des »Menon« mit dem »Gorgias«. In diesem nämlich fanden wir erklärende Rückweisungen auf mehrere frühere Gespräche; von dem »Menon« kann man sagen, daß er fast alle aus der ersten Reihe berührt, und einen großen Teil ihres gemeinschaftlichen Inhaltes, für welchen die Entscheidung gleichsam noch offen gelassen war, mit klaren Worten abschließt und besiegelt. Dies gilt vornehmlich vom »Protagoras« und den ihm unmittelbar zugehörigen Gesprächen, und um dieser Beziehung willen wird nun aus dem »Protagoras«, der schon zu fern lag, als daß Platon nur durch eine oder die andere leise Andeutung auf ihn hinweisen konnte, vieles fast zu wörtlich und zu ausführlich wieder aufgenommen. Hier wird nun gezeigt, was von den Tugenden, wie sie gewöhnlich aufgezählt werden und schon nicht mehr die Eine Tugend sind, zurückbleibt, wenn man sie von der Erkenntnis trennt; und zugleich wird der ganze Streit, in welchem dort nicht nur Sokrates mit dem Protagoras, sondern auch jeder von beiden mit sich selbst befangen war, über das Erkenntnissein und das Lehrbarsein der Tugend, eben durch den vorläufig festgestellten Unterschied der Erkenntnis und der richtigen Vorstellung gelöset. So nämlich daß gesagt wird, die höhere Tugend beruhe allerdings auf Erkenntnis, aber auf einer höheren auch als jener Berechnung des Angenehmen, und sei dann auch lehrbar, in dem Sinne, in welchem dies überhaupt gesagt werden könne von dem Erinnern und Aufregen und Beleben der Ideen; die gewöhnliche bürgerliche Tugend aber sei nicht lehrbar, beruhe aber auch größtenteils nur auf richtiger Vorstellung, auf einem nicht bis zur wahren Erkenntnis durchgedrungenen Gefühl. Ist uns also der »Menon« wegen des zuerst bemerkten unentbehrlich als Grundlage zu manchem folgenden und als befestigender Schlußstein der Gespräche, welche den Anfang der zweiten Reihe bilden: so ist er es auch durch diese Rückweisungen als Schlüssel zu manchem noch nicht ausdrücklich aufgelösten in der ersten Reihe.

Auch wird hiedurch der »Menon« bei einiger Aufmerksamkeit eine neue Bestätigung der bisherigen Anordnung im Ganzen. Denn daß er das Rätsel des »Protagoras«, und um nur bei dem namentlich erwähnten stehen zu bleiben, des »Laches« gemeinschaftlich löst, und so beide Gespräche vor ihn und zusammen müssen gestellt werden, sieht Jeder, und kein Verständiger wird etwa das Verhältnis umkehren und sagen wollen, jene wären später und weitere Ausführungen des hier vorläufig angedeuteten. Dasselbe gilt vom »Phaidros«, auf welchen auch hier bestimmt genug zurückgewiesen wird durch eine Annäherung der Diktion, die auch ohne irgend wörtliche Übereinstimmung fast wie eine Anführung auffällt, aber ohne daß aus dem ganz anders gestimmten Ton unseres Gespräches auf eine plumpe Art ausgewichen würde. Auch hier wird Niemand bei Vergleichung beider Stellen eine andere Ansicht möglich finden, als daß der »Menon« zurücksähe auf den »Phaidros«, es müßte denn jemand überall gar kein Verhältnis zwischen der mythischen und philosophischen Darstellung anerkennen wollen, und mutwillig verwirren, was von selbst ins Licht zu treten strebt.

Dies ist die Ansicht, welche man von den ziemlich verwickelten Beziehungen dieses Gesprächs erhält, wenn man sich auf den Haupt- und Angelpunkt gestellt hat, von welchem aus man allein alles richtig übersehen kann. So ausgerüstet wird es dann auch nicht schwer fallen zu beurteilen, welche Bewandtnis es wohl haben kann mit zwei andern sehr weit von dieser entfernten Ansichten.

Die eine war bisher noch nicht eben laut geworden, sondern wurde nur einzeln von zum Teil sehr ehrenwerten Kennern des Altertums gehört, könnte aber zu einem ziemlichen Grade von Wahrscheinlichkeit ausgebildet werden, das heißt meiner Überzeugung nach weit besser als Herr Ast seitdem wirklich getan hat. Diese will nämlich unser Gespräch dem Platon absprechen, weil sie meint, es habe wenig philosophischen Gehalt, der nicht anderwärts bestimmter und besser ausgesprochen wäre, es sei daher zum Verständnis der Platonischen Philosophie auch ziemlich entbehrlich, und in Absicht auf Anordnung und Behandlung auch des Platon nicht sonderlich würdig. Und gewiß wer sich einmal, weil er das Gespräch nicht in dem gehörigen Zusammenhang betrachtete, von dem ersten überredet hat, der kann leicht das letzte durch manche Einzelheiten belegen, die ihm nur um so mehr auffallen müssen, je weniger er das Ganze versteht. Gleich der abgebrochene Anfang ohne allen Eingang ist nicht sehr Platonisch, und ein Eingang schien hier um so notwendiger, als wir nun erst mitten im Gespräch ganz unerwartet erfahren, daß Anytos von Anfang an mit dabei gewesen, was nirgends im Platon sonst vorkommt. Auch könnte nur durch einen Eingang die Wendung gerechtfertiget werden, auf welcher der letzte Teil des Gespräches beruht, daß Menon nach einem Lehrer in der bürgerlichen Tugend verlange; denn in dem Gespräche selbst ist dies nirgend vorbereitet. Mehrere harte Übergänge und ungleichmäßige Fortschritte scheinen sich auch nur durch einen in der Mimik doch nirgends recht heraustretenden Ungestüm erklären zu lassen; und die Ähnlichkeit mit dem »Phaidros« und »Protagoras« könnte um so mehr als eine sehr mittelmäßige Nachahmung erscheinen, da sich kaum denken läßt, wie Platon sich könne genötiget gesehen haben, zum zweiten Male zu tun, wovon er das Unfruchtbare schon früher aufgedeckt, nämlich nach einer Beschaffenheit der Tugend, ob sie lehrbar ist oder nicht, zu fragen eher als nach ihrer Natur. Von allen diesen Ausstellungen aber bleibt für den, welcher den philosophischen Gehalt des Gespräches recht gewürdiget hat, dennoch nichts anderes übrig, als daß er mit uns den »Menon« für eine von den loseren nicht vollkommen durchgearbeiteten Darstellungen des Platon halten wird. Denn dies zugegeben begreifen sich alle einzelnen Beschuldigungen, und verschwinden zum Teil, da sie fast durchgängig mit den aufgezeigten vielfachen Nebenabsichten des Gespräches zusammentreffen, dessen Vernachlässigung im Einzelnen dem Platon um so eher zu verzeihen ist, da ihm wahrscheinlich im Zusammenhange mit dem »Theaitetos« die größeren folgenden Werke schon vorschwebten, und er eilte, zu diesen zu kommen. – Und wahrlich nichts ist wohl wunderlicher als wenn man verlangt, daß alle Werke auch eines großen Meisters von gleicher Vollkommenheit sein sollen, oder die es nicht sind soll er gleich nicht verfertiget haben. Was hingegen den Vorwurf betrifft, daß in diesem Gespräch gesucht werde, was vor einer andern Untersuchung nicht möglich ist zu finden: so steht es damit so arg nicht. Denn durch die Voraussetzung, die Tugend werde nur dann und in so fern lehrbar sein als sie Erkenntnis ist, wird jene Frage ein Teil der ursprünglichen, was die Tugend an sich ist oder nicht ist. Und was sonst Herr Ast unplatonische Behauptungen unseres Gespräches nennt, das läuft teils darauf hinaus, daß er den in Bezug auf den größten Teil des Inhaltes nur vorbereitenden Charakter des Gespräches durchaus nicht anerkennen, teils daß er dem Platon nicht gestatten will, die Worte in verschiedenen Gesprächen in dem einen in engerem in dem anderen in weiterem Sinne, und hier mehr wissenschaftlich dort mehr nach Art des gemeinen Lebens zu gebrauchen. Gefiele ihm dies zu erlauben, so könnte er nicht so darüber herfahren, daß die Tugend von der hier die Rede ist von der φρόνησις getrennt wird; und es würde ihm nicht entgangen sein, daß grade die Unterscheidung der bürgerlichen Tugend von der Tugend im höheren Sinne hier recht soll angeregt werden. Alles übrige erledigt sich teils aus dem angeführten, teils scheint es mir keine besondere Berücksichtigung zu verdienen, bei so vielem unläugbar vortrefflichem und Platonischem, wovon man einen andern wahrscheinlichen Verfasser wohl nirgends finden möchte.

Die andere der unsern auf andere Weise entgegengesetzte Ansicht, welche wir noch zu berücksichtigen haben, ist die bekannte, welche auf den »Menon« einen großen ausgezeichneten Wert legt, weil er ein herrliches Übungsstück sein soll in der sogenannten Vernunftlehre, auch die Sokratische Hebammenkunst darin mit vorzüglicher Geschicklichkeit ausgeübt sei, und, hat man ihn erst verständig präpariert, gar viel Schönes davon den Knäblein in der Schule könne demonstriert werden. Nur Schade, daß Platon keine logischen Übungsstücke zu fertigen pflegte, die eher in dem späten Machwerk der kleinen ihm untergeschobenen Gespräche gefunden werden, und daß, wenn er hier selbst etwas so darzustellen scheint, es nur geschieht, um die ganz andern Absichten dienende Einführung eines fremdartigen Bestandteiles doch einigermaßen zu übertünchen. Schade auch, daß wir von seiner Hebammenkunst nach dem Begriff, den er selbst im »Theaitetos« aufstellt, weit kunstreichere und fruchtbarere Beispiele finden in den kunstreicheren Gesprächen, und er dieses nur für einen ersten Anfang erklärt, die Vorstellungen zum Bewußtsein zu bringen, und es in der Tat auch etwas leicht behandelt hat, wie es den mathematischen Elementen gebührt im Vergleich mit den philosophischen, an denen er sonst diese Kunst zu üben pflegt. Schade endlich, daß man diesen »Menon« selbst und ganz nicht eben so leicht präparieren und demonstrieren kann als man es mit einzelnen abgerissenen Stücken daraus getan hat, die man aber dann selbst in ihrer Beziehung auf das Ganze nicht versteht. Daher sind denn auch diese Lobredner selbst in einem lehrreichen Streite begriffen, welches wohl eigentlich die Meinung des Platon sein möge über die Lehrbarkeit der Tugend, ob es ihm wohl ein Ernst sei mit der ganzen Frage, und ob die Entscheidung, daß sie nur durch göttliche Schickung erlangt werde, wohl mit andern Äußerungen des Philosophen zusammenstimme. Und viele wahrhaft göttliche Männer sind unter den Streitenden, denen auch, was sie irgend verstehen sollen, aus göttlicher Schickung kommen muß, weil sie sich darauf gesetzt haben, was an Anderem hängt, für sich allein zu betrachten, und die außer einer warnenden Stimme auch noch einer zurufenden und ermunternden bedürfen, um zu hören, wo der Schriftsteller die Antworten erteilt auf ihre weisen Fragen. Denn verständen sie nur selbst seine Stimme, so würden sie auf drei Stellen besser geachtet haben, auf die Art, wie er die erste Frage stellt, ob die Tugend Erkenntnis sei oder etwas ganz von der Erkenntnis gesondertes und verschiedenes; dann auf die Beschränkung, daß in der bürgerlichen Tugend die richtige Vorstellung wohl dieselben Dienste leisten könne wie die Erkenntnis, und endlich auf die letzte Äußerung über den wahren Staatsmann.

Was die Personen betrifft: so wird zwar Anytos, der Ankläger des Sokrates, meines Wissens weder vom Platon noch Xenophon bei seinem Vatersnamen genannt. Diogenes und Athenaios aber halten den Anytos dieses Gesprächs und den Ankläger des Sokrates für einen und denselben, und die ganze Art, wie er hier aufgeführt wird, spricht zu deutlich dafür, daß Platon diesen in Gedanken gehabt, als daß man noch anderer Gewährsmänner bedürfen sollte. Darum ist auch nicht nötig zu forschen, wer wohl die vielen Schriftsteller sein mögen, bei denen Gedike gefunden, der Ankläger des Sokrates sei ein Sohn des Anthemion gewesen. Menon ist unstreitig derselbe, dessen Xenophon im Feldzuge des Kyros erwähnt, wenn gleich Platon ihn nicht als einen so verworfenen Ruchlosen schildert. Vaterland, Schönheit, Reichtum und die Freundschaft des Thessalischen Aristippos, der nicht auch ein zwiefacher wird sein sollen, sind zutreffende Umstände genug.


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