Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher
Platons Werke. Erster Theil
Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher

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Minos

Sokrates • Ein Freund

(313) Sokrates: Was ist uns doch das Gesetz?

Freund: Nach was für einem Gesetz fragst du denn?

Sokrates: Wie? unterscheidet sich denn irgend wodurch ein Gesetz vom andern eben in sofern es Gesetz ist? Denn erwäge nur recht was ich dich eigentlich frage. Ich frage dich nämlich als wenn ich dich fragte was Gold ist; und wenn du mich eben so weiter fragtest was doch für Gold ich meinte, so glaube ich du fragtest nicht recht. Denn es unterscheidet sich weder Gold vom Golde noch Stein vom Steine sofern dieser Stein ist und sofern jenes Gold ist; und eben so ist auch ein Gesetz vom andern um gar nichts unterschieden, sondern sie sind alle dasselbe. Denn ein Gesetz ist jedes von ihnen auf gleiche Weise, nicht das eine mehr, das andere weniger. Und eben hiernach frage ich nach diesem Ganzen was das Gesetz ist. Hast du es nun bei der Hand, so sage es.

Freund: Was also wäre das Gesetz wohl anderes, als eben das festgesetzte?

Sokrates: Dünkt dich denn auch die Rede das Geredete zu sein? oder das Gesicht das Gesehene? oder das Gehör das Gehörte? oder ist die Rede etwas anderes und das Geredete auch? und das Gesicht etwas anderes und das Gesehene auch? und das Gehör etwas anderes und das Gehörte auch? und das Gesetz also auch etwas anderes und das festgesetzte auch. So? oder wie dünkt dich?

Freund: Als etwas anderes erscheint es mir nun.

Sokrates: Das Gesetz ist also nicht das festgesetzte?

Freund: Nein, dünkt mich.

Sokrates: Was ist nun wohl das Gesetz? Laß es uns so untersuchen : Wenn Jemand uns über das eben gesagte weiter fragte, Da ihr doch sagt, daß durch das Gesicht das Gesehene gesehen wird, was ist denn nun das Gesicht, womit gesehen wird? so (314) würden wir ihm antworten, es ist diejenige Wahrnehmung welche durch die Augen uns die Farben offenbart. Und wenn er wiederum fragte, was ist denn das Gehör, wodurch Gehörtes gehört wird: so würden wir ihm antworten, es ist die Wahrnehmung, welche durch das Ohr uns die Töne offenbart. Eben so demnach wenn er uns fragte, da doch durch das Gesetz das festgesetzte festgesetzt wird, was ist denn nun das Gesetz, sofern dadurch festgesetzt wird? ist es eine Wahrnehmung oder Mitteilung? so wie das Gelernte gelernt wird durch eine sich mitteilende Erkenntnis? Oder ist es eine Entdeckung, wie das Entdeckte entdeckt wird, was gesund ist zum Beispiel und ungesund durch die Heilkunde, und was die Götter beabsichtigen, nach Aussage der Wahrsager, durch die Wahrsagekunst? Denn Kunst ist uns ja wohl eine Erfindung der Dinge. Nicht wahr?

Freund: Allerdings.

Sokrates: Was also hievon wollen wir annehmen daß das Gesetz vornehmlich sei?

Freund: Diese Beschlüsse und Verordnungen dünkt mich. Denn was anderes könnte Jemand wohl sagen daß das Gesetz sei? So daß es scheint dieses Ganze, wonach du fragst, das Gesetz, ist der Beschluß eines Gemeinwesens.

Sokrates: Für eine im Gemeinwesen geltende Meinung, wie es scheint, erklärst du das Gesetz?

Freund: Das tue ich.

Sokrates: Und vielleicht erklärst du es vortrefflich. Besser aber werden wir es wohl so einsehn. Nennst du Einige weise?

Freund: Das tue ich.

Sokrates: Und die Weisen sind doch durch Weisheit weise?

Freund: Ja.

Sokrates: Und wie, die Gerechten durch Gerechtigkeit gerecht?

Freund: Allerdings.

Sokrates: Auch die Gesetzlichen durch Gesetz gesetzlich?

Freund: Ja.

Sokrates: Die Ungesetzlichen aber durch Ungesetzlichkeit ungesetzlich?

Freund: Ja.

Sokrates: Und die Gesetzlichen sind gerecht?

Freund: Ja.

Sokrates: Und die Ungesetzlichen ungerecht?

Freund: Ungerecht.

Sokrates: Und etwas ganz vortreffliches ist die Gerechtigkeit und das Gesetz?

Freund: So ist es.

Sokrates: Ganz schändlich aber die Ungerechtigkeit und Gesetzlosigkeit?

Freund: Ja.

Sokrates: So daß jene den Staat und alles übrige erhalten, diese aber alles verderben und umstürzen?

Freund: Ja.

Sokrates: Als von etwas Schönem muß man also vom Gesetz denken, und als ein Gut es suchen?

Freund: Wie anders!

Sokrates: Und nicht wahr ein Beschluß des Staates behaupteten wir sei das Gesetz?

Freund: Das behaupteten wir.

Sokrates: Wie nun, sind nicht einige Beschlüsse gute, andere schlechte?

Freund: Das sind sie.

Sokrates: Aber doch ein Gesetz gab es nicht, das schlecht wäre?

Freund: Nein freilich.

Sokrates: Nicht richtig ist es also so ganz allgemein zu antworten, das Gesetz sei der Beschluß des Staates?

Freund: Nein wie mich dünkt.

Sokrates: Denn es würde nicht stimmen daß ein schlechter Beschluß ein Gesetz wäre.

Freund: Nicht füglich.

Sokrates: Indessen eine Meinung scheint mir selbst allerdings das Gesetz auch zu sein. Wenn nun nicht die schlechte Meinung, ist dann nicht schon offenbar, daß es die gute sein muß, wenn doch das Gesetz eine Meinung ist?

Freund: Ja.

Sokrates: Welches ist aber die gute Meinung? Nicht die wahre?

Freund: Ja.

(315) Sokrates: Und die wahre Meinung ist doch eine Entdeckung dessen was ist?

Freund: Das ist sie.

Sokrates: Das Gesetz also will sein die Entdeckung dessen was ist.

Freund: Wie so aber, Sokrates, wenn das Gesetz die Entdeckung dessen ist was ist, behalten wir nicht immer dieselben Gesetze über dieselben Gegenstände, wenn sie uns das was ist ausgefunden haben?

Sokrates: Nichts desto weniger will doch das Gesetz die Entdeckung dessen sein was ist. Wenn aber die Menschen nicht immer dieselben Gesetze beibehalten, wie uns scheint, können sie wohl das was das Gesetz will nicht immer ausfinden, nämlich das wahre. Denn komm laß uns sehen, wenn es uns vielleicht hieraus deutlicher werden kann, ob wir immer dieselben Gesetze gebrauchen oder zu anderer Zeit andere, und ob Alle dieselben oder je andere auch andere.

Freund: Aber dieses, o Sokrates, ist doch nicht schwer einzusehen, daß nicht nur die nämlichen nicht immer dieselben Gesetze haben, sondern auch Andere immer andere. Denn gleich unter uns ist kein Gesetz Menschen zu opfern, sondern dies ist unfromm; die Karchedonier hingegen opfern, wie dies bei ihnen fromm ist und gesetzlich, und zwar Einige sogar ihre Söhne dem Kronos, wie vielleicht auch du gehört hast. Und nicht nur, daß unhellenische Menschen andere Gesetze haben als wir, sondern auch die in Lykaia und die Nachkommen des Athamas, was für Opfer opfern die obgleich sie Hellenen sind? So wie auch von uns selbst du vielleicht gehört haben und wissen wirst, was für Gesetze wir ehedem hatten wegen der Verstorbenen, wie wir ihnen Opfer nachschlachteten vor Heraustragung des Leichnams und Knochenleserinnen herbeiholten. Ja die noch älteren als jene begruben ihre Toten im Hause, wir hingegen tun nichts hievon. Und tausenderlei könnte Einer dergleichen sagen, denn gar weit und breit her ist das zu erweisen, daß weder wir mit uns selbst übereinstimmend immer dasselbe festsetzen, noch auch die Menschen überhaupt unter einander.

Sokrates: Es ist wohl nicht zu verwundern, Bester, wenn du vollkommen recht hast, mir aber dieses entgangen ist. Aber so lange du für dich allein sprichst was dir gut dünkt, in einer langen Rede, und dann wieder ich, werden wir nie etwas zusammenbringen, wie ich glaube. Wenn du aber die Aufgabe gemeinschaftlich hinstellst, dann können wir uns vielleicht vereinigen. Willst du also, so frage du mich aus und erwäge es gemeinschaftlich mit mir, oder auch wenn du willst, antworte mir.

Freund: So will ich denn, o Sokrates, beantworten was du nur willst.

Sokrates: Komm also. Erklärst du etwa das Gerechte für ungerecht, und das Ungerechte für gerecht? oder das Gerechte für gerecht, und das Ungerechte für ungerecht?

Freund: Ich das Gerechte für gerecht und das Ungerechte für ungerecht.

Sokrates: Und ist dies bei Allen eben so wie unter uns festgesetzt?

Freund: Ja.

Sokrates: Also auch bei den Persern?

(316) Freund: Auch bei den Persern.

Sokrates: Und wohl auch immer?

Freund: Immer.

Sokrates: Und was mehr wiegt wird hier als schwer festgesetzt, und was weniger als leichter, oder umgekehrt?

Freund: Nein, sondern was mehr als schwerer, und was weniger als leichter.

Sokrates: Und das auch in Karchedon und in Lykaia?

Freund: Auch.

Sokrates: Das Schöne also, wie es scheint, wird überall als schön festgesetzt, und das Schändliche als schändlich; und nicht das Schändliche als schön noch das Schöne als schändlich.

Freund: So ist es.

Sokrates: Um es also allgemein zu sagen wird ja das was ist festgesetzt, daß es ist, nicht was nicht ist, sowohl bei uns als bei allen übrigen.

Freund: Mich dünkt es.

Sokrates: Wer also dessen was ist verfehlt, der verfehlt auch des gesetzlichen?

Freund: So zwar wie du es sagst, Sokrates, erscheint dasselbe als gesetzlich sowohl für uns zu allen Zeiten als auch für die übrigen. Wenn ich aber bedenke, daß wir gar nicht aufhören unsere Gesetze durch und durch zu verändern: so kann ich mich nicht überzeugen.

Sokrates: Vielleicht bemerkst du eben nicht, daß was wir zurückgenommen und anders gezogen haben doch immer dasselbe ist. Allein betrachte es nur so mit mir. Bist du schon irgend auf Schriften gestoßen über die Wiederherstellung der Kranken?

Freund: O ja.

Sokrates: Weißt du auch, welcher Kunst solche Schriften angehören?

Freund: Ich weiß daß sie der Heilkunst angehören.

Sokrates: Und Ärzte nennst du die Sachverständigen über dergleichen?

Freund: Das sage ich.

Sokrates: Setzen nun die Sachverständigen über dieselben Gegenstände auch dasselbe fest, oder Andere Anderes?

Freund: Dasselbe, dünkt mich.

Sokrates: Und etwa nur die Hellenen unter einander? oder setzen auch die Ausländer unter einander und mit den Hellenen über das nämlich wovon sie Erkenntnis haben dasselbe fest?

Freund: Dasselbe müssen ja ganz notwendig alle wissenden gemeinschaftlich festsetzen sowohl Hellenen als Ausländer.

Sokrates: Schön geantwortet. Und zwar immer?

Freund: Ja auch immer.

Sokrates: Und Ärzte schreiben doch über die Gesundheit was sie wirklich festsetzen daß es sei?

Freund: Ja.

Sokrates: Heilkundig also und heilkundige Gesetze sind diese Schriften der Ärzte?

Freund: Heilkundig allerdings.

Sokrates: Sind etwa auch die Schriften der Landbauverständigen Gesetze für den Landbau?

Freund: Ja.

Sokrates: Und wessen sind nun wohl Schriften und Erklärungen über die Bearbeitung der Gärten?

Freund: Der Gärtner.

Sokrates: Gesetze des Gartenwesens sind also diese?

Freund: Ja.

Sokrates: Von denen, welche verstehen Gärten anzuordnen?

Freund: Wie sonst!

Sokrates: Dies verstehn aber die Gärtner?

Freund: Ja.

Sokrates: Und wessen sind Schriften und Festsetzungen über die Bereitung der Speisen?

Freund: Der Köche.

Sokrates: Für das Kochwesen sind diese also Gesetze?

Freund: Allerdings.

Sokrates: Derer, wie es scheint, welche verstehen die Bereitung der Speisen anzuordnen?

Freund: Ja.

Sokrates: Dies verstehen aber, wie man sagt, die Köche?

(317) Freund: Diese freilich verstehen es.

Sokrates: Gut. Wessen aber sind wohl Schriften und Festsetzungen über Einrichtung eines Staates? Nicht derer welche verstehen Staaten zu regieren?

Freund: Mich dünkt ja.

Sokrates: Verstehn dies nun Andere als die des städtischen Gemeinwesens und des Königtumes Kundigen?

Freund: Eben diese, allerdings?

Sokrates: Staatskundige Schriften also sind das, was die Leute Gesetze nennen, Schriften von Königen und trefflichen Männern.

Freund: Wahr gesprochen.

Sokrates: Und nicht wahr die Sachkundigen werden doch nicht jedesmal wieder anderes schreiben über denselben Gegenstand?

Freund: Nein.

Sokrates: Und werden nicht über denselben Gegenstand ihre Festsetzungen wieder so und so umändern?

Freund: Nein freilich.

Sokrates: Wenn wir also welche wo auch immer sehen die dies tun, was wollen wir sagen, daß die sachkundig sind welche dies tun oder unkundig?

Freund: Unkundig.

Sokrates: Und was das rechte ist, das sagen wir, sei Jedem gesetzlich, es gehöre nun zur Heilkunst oder zur Kochkunst oder zur Gartenkunst?

Freund: Ja.

Sokrates: Was aber nicht das rechte ist, das erklären wir auch nicht mehr für gesetzlich?

Freund: Nicht mehr.

Sokrates: Also wird es ungesetzlich?

Freund: Notwendig.

Sokrates: Also auch in den Schriften über das Gerechte und Ungerechte und überhaupt über die Einrichtung eines Staats und wie ein Staat muß verwaltet werden, ist das rechte das königliche Gesetz, das nicht rechte aber nicht, welches nur scheint ein Gesetz zu sein den Unkundigen: denn es ist ungesetzlich.

Freund: Ja.

Sokrates: Ganz recht also haben wir uns dahin erklärt, das Gesetz sei die Auffindung dessen was ist?

Freund: So zeigt es sich.

Sokrates: Laß uns aber auch noch dieses daran betrachten. Wer ist kundig für die Erde den Samen anzuweisen?

Freund: Der Landmann.

Sokrates: Und dieser wird jedem Boden den angemessenen anweisen?

Freund: Ja.

Sokrates: Der Landmann also ist der rechte Anweiser hiezu, und seine Anweisungen und Verteilungen sind hierin die rechten?

Freund: Ja.

Sokrates: Und wer versteht Töne anzuweisen für die Lieder, jedem die angemessenen? Und wessen Gesetze sind hierüber die rechten?

Freund: Die des Flötenspielers und Lyraspielers.

Sokrates: Der gesetzkundigste hierin ist also der tonkundigste.

Freund: Ja.

Sokrates: Und wer ist der beste um den Leibern der Menschen die Nahrung anzuweisen? nicht der welcher die angemessenste anweiste?

Freund: Ja.

Sokrates: Dessen Anweisungen und Gesetze sind also die besten, und der gesetzkundigste hierin gibt auch die beste Anweisung?

Freund: Allerdings.

Sokrates: Und wer ist dieser?

(318) Freund: Der Vorsteher der Leibesübungen.

Sokrates: Dieser also ist am geschicktesten die menschlichen Herden leiblich zu weiden?

Freund: Ja.

Sokrates: Und wer ist der beste um einer Herde von Schafen das ihrige anzuweisen? wie heißt er?

Freund: Der Hirte.

Sokrates: Des Hirten Gesetze also sind die besten für die Schafe?

Freund: Ja.

Sokrates: Und die des Rinderhirten für die Rinder?

Freund: Ja.

Sokrates: Wessen Gesetze aber sind die besten für die Seelen der Menschen? Nicht des Königes? Sprich.

Freund: Ja, ich spreche also.

Sokrates: Vortrefflich gesprochen. Kannst du nun wohl sagen, wer unter den Alten sich ausgezeichnet hat als Gesetzgeber für das Flötenspielen? Vielleicht entsinnst du dich nicht; willst du aber daß ich dich erinnere?

Freund: Das will ich freilich.

Sokrates: Sagt man es nicht vom Marsyas und von seinem Liebling Olympos dem Phrygier?

Freund: Ganz richtig.

Sokrates: Deren Tonstücke sind die göttlichsten; sie allein bewegen und bringen ans Licht wer der Götter bedürftig ist, und sind auch noch jetzt allein übrig als göttliche.

Freund: So ist es.

Sokrates: Wer aber von den alten Königen wird als ein guter Gesetzgeber gerühmt dessen Festsetzungen auch jetzt noch in Ansehn bleiben als göttliche?

Freund: Ich entsinne mich nicht.

Sokrates: Weißt du nicht welche Hellenen die ältesten Gesetze haben?

Freund: Meinst du etwa die Lakedaimonier und ihren Gesetzgeber Lykurgos?

Sokrates: Die sind ja noch nicht dreihundert Jahre als oder kaum etwas weniges drüber. Aber woher kommen die besten unter diesen Gesetzen? weißt du das?

Freund: Man sagt wenigstens aus Kreta.

Sokrates: Diese also haben die ältesten Gesetze unter den Hellenen?

Freund: Ja.

Sokrates: Weißt du nun was für treffliche Könige diese gehabt haben? den Minos und Rhadamanthys, des Zeus und der Europa Söhne, von denen diese Gesetze herrühren.

Freund: Rhadamanthys gilt wohl für einen gerechten Mann, Sokrates; Minos aber für wild und rauh und ungerecht.

Sokrates: Das ist eine Attische und tragische Fabel, o Bester, die du vorträgst.

Freund: Wie so? Sagt man dies nicht vom Minos?

Sokrates: Nicht Homeros und Hesiodos, wiewohl diese glaubwürdiger sind als alle Tragödiendichter insgesamt, von denen du eben, was du sagst, gehört hast.

Freund: Was sagen also jene vom Minos?

Sokrates: Das will ich dir sagen, damit nicht auch du wie die Meisten frevelest. Denn es gibt nichts frevelhafteres und nichts, was man mehr scheuen müßte, als gegen die Götter in Wort und Tat zu fehlen; das zweite aber gegen göttliche Menschen. Sondern gar viele Vorsicht mußt du immer anwenden, wenn du einen Mann zu loben oder zu tadeln im Begriff stehst, ob (319) du auch nichts unrichtiges sagest. Und deshalb eben muß man auch lernen gute und schlechte Menschen unterscheiden. Denn es zürnt der Gott, wenn man den ihm ähnlichen tadelt, oder den ihm entgegengesetzt sich verhaltenden lobt. Jener aber ist der gute. Denn glaube ja nicht, daß Steine wohl heilig sein können und Hölzer und Vögel und Schlangen, Menschen aber nicht. Sondern das heiligste unter allem ist ein guter Mensch und das verworfenste ein schlechter. So auch was den Minos betrifft wie ihn Homeros und Hesiodos loben, will ich dir deshalb sagen, damit du nicht als Mensch und eines Menschen Sohn gegen einen Heros und Sohn des Zeus mit Worten dich vergehest. Denn Homeros, wo er von Kreta sagt daß viel und unzählbare Menschen darin sind, die Neunzig Städte bewohnen, spricht weiter: Jenen erhebt sich Knossos, die mächtige Stadt wo Minos Einst geherrscht neunjährig dem Zeus als Genosse sich nahend. Dieses nun ist in kurzen Worten eine solche Lobrede des Homeros auf den Minos, wie sie Homeros auf keinen andern Heros gedichtet hat. Denn daß Zeus ein Weisheitslehrer ist und diese Kunst die vortrefflichste, das deutet er auch an vielen andern Orten anderwärts an, aber auch hier. Denn er sagt, Minos sei ins neunte Jahr mit dem Zeus umgegangen in Gesprächen und habe ihn besucht um sich von dem Zeus als Weisheitslehrer unterrichten zu lassen. Daß nun diesen Ruhm Homeros keinem andern Heroen beigelegt hat, als nur dem Minos, das ist ein bewundernswürdiges Lob. Auch in der Totenfahrt der Odysseia dichtet er den Minos mit goldenem Zepter geschmückt die Gestorbenen richtend, nicht den Rhadamanthys. Vom Rhadamanthys aber sagt er weder hier daß er richtet, noch sonst irgendwo daß er mit dem Zeus umgegangen wäre. Deshalb nun behaupte ich, daß Minos am allermeisten vom Homeros ist gepriesen worden. Denn daß als ein Sohn des Zeus er allein vom Zeus ist unterrichtet worden, das ist ein Lob worüber keines geht. Und dies bedeutet doch der Vers: Einst geherrscht neunjährig dem Zeus als Genosse sich nahend, daß Minos mit dem Zeus umgegangen. Denn diese Genossenschaft bestand in Gesprächen, und ein Genosse ist wer mit dem Andern umgeht in Gesprächen. Nämlich ins neunte Jahr ist Minos in des Zeus Höhle gegangen um teils zu lernen und teils zu zeigen was er in den ersten Neun Jahren vom Zeus gelernt. Einige zwar nehmen an, ein Genosse des Zeus sei wer mit ihm getrunken und gescherzt habe. Allein folgenden Beweis kann (320) Jemand anführen, daß die nichts sagen, welche dies annehmen. Denn so viele Menschen es auch gibt, Hellenen und Ausländer, gibt es doch keine, die sich des Zusammentrinkens und dieser ganzen Freude wozu der Wein gehört enthalten, als die Kreter, und nächstdem die Lakedaimonier, die es von den Kretern gelernt haben. In Kreta aber ist dies eins von den Gesetzen die Minos gegeben hat, nicht zusammenzutrinken bis zum Rausch. Und offenbar ist doch, daß was er selbst für schön erkannte, er auch wird gesetzlich gemacht haben für seine Mitbürger. Denn gewiß hat Minos nicht wie ein gemeiner Mensch anderes festgesetzt und anders selbst getan abweichend von dem was er selbst festsetzte. Sondern jenes Zusammensein bestand, wie ich behaupte, in Gesprächen zum Unterricht in der Tugend. Daher er denn auch solche Gesetze seinen Bürgern gegeben hat, durch welche Kreta zu allen Zeiten glücklich gewesen ist, und auch Lakedaimon, seitdem es angefangen hat diese zu gebrauchen, weil sie göttlich sind. Rhadamanthys aber war zwar vom Minos unterrichtet, aber nicht in der ganzen königlichen Kunst war er unterrichtet, sondern nur in jener Dienstleistung für die königliche daß er verstand den Gerichtsstätten vorzustehn. Daher er auch den Ruf erworben hat ein guter Richter zu sein. Seiner nämlich bediente sich Minos als Gesetzwächters innerhalb der Stadt, im übrigen Kreta aber des Talos. Talos nämlich ging dreimal des Jahrs in allen Flecken umher hatte Acht auf die Gesetze darin, die er auf eherne Tafeln geschrieben hatte, daher er auch der eherne heißt. Ähnliches sagt auch Hesiodos vom Minos, denn indem er seines Namens gedenkt sagt er, dieser sei der königlichste gewesen unter allen sterblichen Königen. Und auch viele regiert' er umwohnende Menschengeschlechter Haltend das Zepter des Zeus, womit er die Stadt beherrschte. Auch dieser nun meint mit dem Zepter des Zeus nichts anderes als den Unterricht vom Zeus, durch welchen er nun ganz Kreta leitete.

Freund: Weshalb doch, o Sokrates, hat sich dies Gerücht vom Minos verbreitet, als wäre er ungebildet und hart?

Sokrates: Weshalb auch du, Bester, und jeder Andere dem daran gelegen ist guten Ruf zu haben, dich hüten wirst nie einen Dichter zu erzürnen. Denn die Dichter vermögen viel in Absicht des Ruhms auf welche Weise sie eines Menschen erwähnen lobend oder tadelnd. Darin eben hat Minos gefehlt, indem er mit dieser Stadt Krieg führte, in welcher neben vieler anderen Weisheit auch vielerlei Dichter gefunden werden in andern Zweigen der Dichtkunst und auch in der Tragödie. Die Tragödie aber ist hier sehr alt, nicht wie sie glauben nur vom Thespis her oder vom Phrynichos; sondern wenn du es recht untersuchen (321) willst, wirst du finden, daß sie eine sehr alte Erfindung dieser Stadt ist. Denn die Tragödie gereicht am meisten unter allen Dichtarten dem Volke zur Belustigung und Gemütsbewegung. In diese haben wir daher den Minos gebracht, und so unsere Rache an ihm genommen, dafür daß er uns genötigt hat ihm jene Abgabe zu erlegen. Dies also war des Minos Versehen daß er uns erzürnte, weshalb er denn auch, wonach du fragst, einen übleren Ruf erlangt hat. Denn daß er gut und gesetzkundig war, wie wir im vorigen sagten, und ein trefflicher Herrscher, davon ist das der beste Beweis, daß seine Gesetze noch unverändert sind, weil er nämlich das rechte aufgefunden hatte wie es wirklich ist in der Verwaltung eines Staates.

Freund: Du scheinst mir, o Sokrates, sehr wahrscheinlich diese Sache erklärt zu haben.

Sokrates: Wenn ich also Recht habe so dünken dich die Kreter, des Minos und Rhadamanthys Bürger, die ältesten Gesetze zu besitzen.

Freund: Offenbar.

Sokrates: Diese also sind unter den Alten die vortrefflichsten Gesetzgeber gewesen und Anführer und Hirten der Völker, wie auch Homeros einen guten Heerführer einen Hirten der Völker nennt.

Freund: Allerdings.

Sokrates: So sage denn beim freundlichen Zeus, wenn uns Jemand fragte, ein guter Gesetzgeber und Anordner des Leibes was verordnet denn der dem Leibe um ihn besser zu machen, so würden wir sagen wenn wir gut und in der Kürze antworten wollten, Nahrungsmittel und Anstrengungen, um durch jene den Leib wachsen zu machen, durch diese aber ihn zu üben und zu stärken.

Freund: Richtig.

Sokrates: Wenn er uns nun aber weiter fragte, was ist aber wohl dasjenige was ein guter Gesetzgeber der Seele verordnet um sie besser zu machen? was würden wir ihm wohl antworten wenn wir uns nicht schämen wollten für uns selbst und für unsere Jahre?

Freund: Das weiß ich nicht mehr zu sagen.

Sokrates: Aber zur Schande gereicht es gewiß unser beider Seelen daß sie offenbar werden, von sich selbst nicht zu wissen worauf ihr Wohl und Wehe beruht, vom Leibe aber und den übrigen Dingen es untersucht zu haben.


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