Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher
Platons Werke. Erster Theil
Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Ion

Sokrates • Ion

(530) Sokrates: Willkommen dem Ion! Woher kommst du uns jetzt gewandert? wohl von Hause aus Ephesos?

Ion: Mit nichten, Sokrates; sondern von Epidauros vom Feste des Asklepios.

Sokrates: Halten etwa die Epidaurier dem Gotte zu Ehren auch einen Wettstreit von Rhapsoden?

Ion: Ja wohl, so wie ja auch in den übrigen Musenkünsten.

Sokrates: Wie also? hast du uns mit gekämpft? und mit welchem Erfolge hast du gekämpft?

Ion: Den ersten Preis haben wir davon getragen, Sokrates.

Sokrates: Wohl gesprochen! Wohlan denn, mache daß wir auch noch in den Panathenaien siegen.

Ion: Das soll geschehen, so Gott will.

Sokrates: Wahrlich, oft habe ich schon Euch Rhapsoden beneidet um eure Kunst. Denn sowohl daß auch am Leibe immer geschmückt zu sein und euch aufs schönste zu zeigen euerer Kunst angemessen ist, als auch daß ihr in der Notwendigkeit seid mit vielen andern trefflichen Dichtern euch zu beschäftigen, besonders aber mit dem Homeros dem trefflichsten und göttlichsten der Dichter, und seinen Sinn zu verstehen, nicht seine Worte nur, das ist beneidenswert. Denn es kann doch keiner ein Rhapsode sein, wenn er nicht versteht was der Dichter meint; da ja der Rhapsode den Zuhörern den Sinn des Dichters überbringen soll, und dies gehörig zu verrichten, ohne einzusehen, was der Dichter meint, ist unmöglich. Dies alles also ist beneidenswert.

Ion: Ganz recht, Sokrates. Auch hat mir dies die meiste Mühe gemacht bei meiner Kunst; und ich glaube, daß ich am besten unter allen Menschen über den Homeros rede, und daß weder Metrodoros der Lampsakener, noch Stesimbrotos der Thasier, noch Glaukon, noch irgend einer der je gewesen so viele schöne Auslegungen über den Homeros vorzutragen weiß als ich.

Sokrates: Wohl gesprochen, Ion. Denn so wirst du mir auch nicht mißgönnen mir davon zu zeigen.

Ion: Es lohnt auch schon zu hören, Sokrates, wie gut ich den Homeros ausgestattet habe. So daß ich glaube, ich verdiene von den Homeriden mit goldnem Kranze bekränzt zu werden.

Sokrates: Gewiß ich werde auch noch Muße machen um dich zu hören. Jetzt aber beantworte mir nur dieses, ob du nur über (531) den Homeros so gewaltig bist oder auch über den Hesiodos und Archilochos?

Ion: Keinesweges; sondern über den Homeros nur. Auch dünkt mich das genug.

Sokrates: Gibt es aber nicht Manches, worüber Homeros und Hesiodos dasselbe sagen?

Ion: Das glaube ich, und gar Vieles.

Sokrates: Würdest du nun wohl besser auslegen, was Homeros hierüber sagt, als was Hesiodos?

Ion: Das wohl gleich gut, glaube ich, worüber sie dasselbe sagen.

Sokrates: Und wie, worüber sie nicht dasselbe sagen? wie über das Wahrsagen spricht doch Homeros und auch Hesiodos?

Ion: Freilich.

Sokrates: Wie also? was auf gleiche Art und was auf abweichende diese beiden Dichter über die Wahrsagekunst sagen, würdest du das besser auslegen oder einer von den guten Wahrsagern?

Ion: Von den Wahrsagern einer.

Sokrates: Wenn du nun ein Wahrsager wärest, würdest du nicht, wie du das auf ähnliche Art gesagte auszulegen wüßtest auch das abweichende auszulegen wissen?

Ion: Offenbar wohl.

Sokrates: Wie kannst du also über den Homeros zwar gewaltig sein, nicht aber über die andern Dichter? Spricht etwa Homeros über andere Gegenstände als worüber alle anderen Dichter auch? Handelt er nicht meistens vom Kriege und von dem Verkehr guter und böser Menschen unter einander, und Unkundiger und Kundiger, und von dem Umgang der Götter unter einander und mit den Menschen, wie sie mit ihnen umgehn, und von den Ereignissen im Himmel und in der Unterwelt und von den Erzeugungen der Götter sowohl als Heroen? Ist es nicht dies, worüber Homeros seine Gedichte gedichtet hat?

Ion: Ganz richtig, Sokrates.

Sokrates: Und wie? die andern Dichter nicht gleichfalls über eben dieses?

Ion: Ja, Sokrates. Aber sie haben doch gar nicht so gedichtet wie Homeros.

Sokrates: Wie doch? schlechter?

Ion: Bei weitem.

Sokrates: Und Homeros besser?

Ion: Besser, ja wohl, beim Zeus.

Sokrates: Wenn nun, du edelster Freund Ion, unter Vielen, die über Zahlen sprechen, Einer am besten spricht: so wird doch Einer den erkennen, der gut spricht.

Ion: Das denke ich.

Sokrates: Ob wohl derselbe, der auch die schlecht sprechenden, oder ein anderer?

Ion: Derselbe gewiß.

Sokrates: Nicht wahr der die Rechenkunst inne hat, der ist es?

Ion: Ja.

Sokrates: Und wie wenn über die Zuträglichkeit der Speisen unter Vielen Einer am besten spricht, wird ein Anderer den am besten sprechenden erkennen, daß er am besten spricht, und wiederum ein Anderer den schlechteren daß er schlechter? oder derselbe?

Ion: Offenbar ja doch derselbe.

Sokrates: Wer ist es? welchen Namen hat er?

Ion: Der Arzt ist es.

Sokrates: Wollen wir nun nicht im Allgemeinen sagen, daß allemal, wo über denselben Gegenstand Viele sprechen, Einer und derselbe den erkennen wird der gut spricht, und den der (532) schlecht. Oder wenn Jemand nicht den schlecht redenden erkennt, dann offenbar auch nicht den gut redenden von derselben Sache.

Ion: Das wollen wir.

Sokrates: Derselbe also wird uns stark in beiden?

Ion: Ja.

Sokrates: Nun behauptest du doch, daß Homeros und die anderen Dichter, unter denen ja auch Hesiodos und Archilochos sind, über dieselben Gegenstände sprechen; aber nicht auf gleiche Art, sondern jener gut, diese aber schlechter.

Ion: Und das ist auch wahr, wie ich es sage.

Sokrates: Also wenn du den gut sprechenden erkennst, so mußt du ja auch die schlechter sprechenden erkennen, daß sie schlechter sprechen.

Ion: Das scheint wohl.

Sokrates: Also, Bester, wenn wir sagen, Ion sei gleich stark im Homeros und in den andern Dichtern, so werden wir nicht fehlen, indem er ja selbst gesteht, ein und derselbe Beurteiler reiche hin für Alle, welche von denselben Gegenständen reden, die Dichter aber dichteten alle fast über das nämliche.

Ion: Was ist also wohl die Ursache, Sokrates, daß ich wenn Jemand über einen andern Dichter spricht, weder sonderlich Acht gebe, noch auch irgend etwas der Rede wertes mit beizubringen im Stande bin, sondern ordentlich wie schlummere; sobald aber Jemand des Homeros erwähnt, dann gleich erwache und aufmerke, und gar Vieles zu sagen weiß.

Sokrates: Das ist nicht schwer aufzufinden, Freund; sondern es ist wohl Jedem deutlich, daß du durch Kunst und Wissenschaft über den Homeros zu reden unvermögend bist. Denn vermöchtest du es durch Kunst: so vermöchtest du auch über Alle andern Dichter zu reden. Denn die Dichtkunst ist doch wohl das Ganze, oder nicht?

Ion: Ja.

Sokrates: Wenn nun Jemand auch irgend eine andere Kunst ganz nimmt, so ist es immer dieselbe Betrachtungsart in allen Künsten. Wie ich das meine, willst du das wohl von mir hören, Ion?

Ion: Gar sehr, o Sokrates, beim Zeus! Denn ich mag gar gern euch Weisen zuhören.

Sokrates: Ich wollte wohl du sprächest wahr, Ion! Aber weise seid ihr wohl eigentlich, ihr Rhapsoden und Schauspieler, und die deren Gedichte ihr singt; ich aber rede eben nur die Wahrheit, wie es sich für einen ungelehrten Menschen schickt. So auch darüber, wonach ich dich jetzt fragte, betrachte nur wie gemein und ungelehrt, so daß jeder Mensch es einsehen kann, das ist, was ich eben sagte, daß es nur eine und dieselbe Untersuchung sei, wenn jemand eine Kunst ganz nimmt. Laß es uns aber durchgehn. Die Malerei ist doch eine ganze Kunst.

Ion: Ja.

Sokrates: Und auch viele Maler gibt es und hat gegeben gute und schlechte.

Ion: Freilich.

Sokrates: Hast du nun wohl je einen gesehen, der stark darin ist zu zeigen, was Polygnotos, des Aglaophon Sohn, gut malt und was nicht, von andern Malern aber es nicht kann? und wenn Jemand Werke von andern Malern vorzeigt, dann schlummert und verlegen ist, und seinerseits nichts beizubringen (533) hat; wenn er aber über den Polygnotos, oder welchen andern einzelnen Maler du sonst willst, seine Meinung mitteilen soll, dann erwacht, und seiner Gedanken mächtig ist, und vieles zu sagen weiß?

Ion: Beim Zeus nein, dergleichen nicht.

Sokrates: Oder wie, hast du wohl in der Bildnerei einen gesehen der von Daidalos dem Sohne des Metion, oder Epeios dem des Panops, oder Theodoros dem Samier oder irgend einem andern einzelnen Bildner stark wäre zu erklären, was er gut gebildet hat, bei anderer Bildner Werken aber verlegen wäre und schlummerte, nicht habend was er sage?

Ion: Nein, beim Zeus, auch einen solchen habe ich nicht gesehn.

Sokrates: Auch nicht glaube ich über das Flötenspielen oder über den Gesang zur Lyra oder über das Spiel darauf, noch auch über die Rhapsodenkunst glaube ich wirst du Einen gesehen haben, der über den Olympos stark ist sich zu erklären, oder über den Thamyras oder Orpheus oder Phemios den Ithakesischen Rhapsoden, über Ion den Ephesischen aber im bloßen wäre, und nichts darüber zu sagen wüßte, was der gut vorträgt und was schlecht!

Ion: Dagegen weiß ich dir nicht zu widersprechen, Sokrates; jenes aber bin ich mir wohl bewußt, daß ich über den Homeros am besten unter allen Menschen rede und sehr reichhaltig, so daß auch alle Andern sagen ich redete gut, über die andern aber nicht. Also sieh zu, was das wohl sein mag.

Sokrates: Ich sehe ja zu, o Ion, und fange schon an dir zu zeigen, was mich dies zu sein dünkt. Nämlich dies wohnt dir nicht als Kunst bei, gut über den Homeros zu reden wie ich eben sagte, sondern als eine göttliche Kraft, welche dich bewegt, wie in dem Steine der vom Euripides der Magnet gewöhnlich aber der Herakleiische genannt wird. Denn auch dieser Stein zieht nicht nur selbst die eisernen Ringe, sondern er teilt auch den Ringen die Kraft mit, daß sie eben dieses tun können wie der Stein selbst, nämlich andere Ringe ziehn, so daß bisweilen eine ganze lange Reihe von Eisen und Ringen an einander hängt; allen diesen aber ist ihre Kraft von jenem Steine angehängt. Eben so auch macht zuerst die Muse selbst Begeisterte, und an diesen hängt eine ganze Reihe Anderer durch sie sich begeisternder. Denn alle rechten Dichter alter Sagen sprechen nicht durch Kunst sondern als Begeisterte und Besessene alle diese schönen Gedichte, und eben so die rechten Liederdichter, so wenig die welche vom tanzenden Wahnsinn befallen sind in vernünftigem Bewußtsein tanzen, so dichten auch die Liederdichter nicht bei vernünftigem Bewußtsein diese schönen Lieder, sondern wenn sie der (534) Harmonie und des Rhythmos erfüllt sind, dann werden sie den Bakchen ähnlich, und begeistert, wie diese aus den Strömen Milch und Honig nur wenn sie begeistert sind schöpfen, wenn aber ihres Bewußtseins mächtig dann nicht, so bewirkt auch der Liederdichter Seele dieses, wie sie auch selbst sagen. Es sagen uns nämlich die Dichter, daß sie aus honigströmenden Quellen aus gewissen Gärten und Hainen der Musen pflückend diese Gesänge uns bringen wie die Bienen, auch eben so umherfliegend. Und wahr reden sie. Denn ein leichtes Wesen ist ein Dichter und geflügelt und heilig, und nicht eher vermögend zu dichten, bis er begeistert worden ist und bewußtlos und die Vernunft nicht mehr in ihm wohnt. Denn so lange er diesen Besitz noch festhält ist jeder Mensch unfähig zu dichten oder Orakel zu sprechen. Wie sie nun nicht durch Kunst dichtend vieles und schönes über die Dinge sagen, eben wie du über den Homeros, sondern durch göttliche Schickung: so ist nun deshalb Jeder nur dasjenige schön zu dichten vermögend, wozu die Muse ihn antreibt, der Dithyramben, der Lobgesänge, der Tänze, der Sagen, der Jamben, und im übrigen ist Jeder schlecht. Nämlich nicht durch Kunst bringen sie dieses hervor, sondern durch göttliche Kraft. Denn wenn sie durch Kunst über Eins schön zu reden wüßten, würden sie es auch über alles Andere. Daher auch der Gott nur nachdem er ihnen die Vernunft genommen sie und die Orakelsänger und die göttlichen Wahrsager zu Dienern gebraucht, damit wir Hörer gewiß wissen mögen, daß nicht diese es sind, welche das sagen was soviel wert ist, denen ihre Vernunft ja nicht einwohnt; sondern daß der Gott selbst es ist, der es sagt, und daß er nur durch diese zu uns spricht. Ein großer Beweis für diese Rede ist Tynnichos der Chalkidier, der nie irgend ein anderes Gedicht gedichtet hat, dessen es nur lohnte zu erwähnen, doch aber diesen Päan, den Jedermann singt, fast unter allen Liedern das schönste, recht, wie er selbst sagt einen Fund der Musen. Denn an ihm scheint ganz vorzüglich der Gott uns dieses gezeigt zu haben, damit wir ja nicht zweifeln, daß diese schönen Gedichte nicht menschliches sind und von Menschen, sondern göttliches und von Göttern, die Dichter aber nichts sind als Sprecher der Götter, besessen jeder von dem, der ihn eben besitzt. Um dies zu zeigen hat recht absichtlich der Gott durch den (535) schlechtesten Dichter das schönste Lied gesungen. Oder dünkt dich nicht daß ich recht habe, Ion?

Ion: Ja, beim Zeus, mich dünkt es gewiß. Denn du ergreifst mir recht die Seele mit deinen Worten, Sokrates; und ich glaube wohl, daß durch göttliche Schickung die rechten Dichter uns dies von den Göttern überbringen.

Sokrates: Und nicht wahr ihr Rhapsoden überbringt wieder jenes von den Dichtern?

Ion: Auch daran hast du Recht.

Sokrates: Ihr seid also Sprecher der Sprecher?

Ion: Allerdings.

Sokrates: Komm aber, und sage mir auch dies, Ion, und verheimliche es mir nicht was ich dich fragen will. Wenn du die Verse schön vorträgst und deine Zuschauer am meisten hinreißest, es sei nun, daß du den Odysseus singst wie er auf die Schwelle springt, sich den Freiern offenbart und sich die Pfeile ausgießt vor die Füße, oder den Achilleus wie er gegen den Hektor dringt, oder auch etwas klägliches von der Andromache oder der Hekabe oder dem Priamos: bist du dann bei völligem Bewußtsein, oder gerätst du außer dich und glaubt deine begeisterte Seele bei den Gegenständen zu sein, von welchen du sprichst, sie mögen nun in Ithaka sein oder in Troja oder wo sonst das Gedicht sich aufhält?

Ion: Welchen deutlichen Beweis hast du mir da aufgestellt, Sokrates! Denn ich will dir nichts davon verheimlichen. Wenn ich nämlich etwas klägliches vortrage: so füllen sich mir die Augen mit Tränen, wenn aber etwas furchtbares und schreckliches, so sträuben sich die Haare aufwärts vor Furcht, und das Herz pocht.

Sokrates: Was wollen wir also sagen, Ion? daß derjenige bei vollem Bewußtsein ist, welcher mit bunten Kleidern und goldnen Kränzen geschmückt mitten unter Opfern und Festlichkeiten weint, ohne von jenen Herrlichkeiten etwas verloren zu haben, oder sich fürchtet mitten unter zwanzigtausend befreundeten Menschen, ohne daß ihn Jemand ausziehen oder sonst ihm Leides zufügen will?

Ion: Nein, beim Zeus, Sokrates, nicht eben, wenn ich doch die Wahrheit sagen soll.

Sokrates: Und weißt du wohl, daß ihr auch unter den Zuschauern gar viele eben dahin bringt?

Ion: Gar sehr weiß ich das. Denn ich betrachte sie jedesmal oben herab von der Bühne wie sie weinen und furchtbar umblicken und mitstaunen über das Gesagte. Auch muß ich ja wohl gar sehr auf sie Acht geben: Denn habe ich sie recht weinen gemacht, so lache ich hernach weil ich Geld einnehme: habe ich sie aber zu lachen gemacht; so muß ich selbst weinen, weil ich das Geld einbüße.

Sokrates: Merkst du nun, daß dieser Zuschauer der letzte ist von den Ringen, von welchen ich sagte, daß sie aus dem herakleotischen Stein einer durch den andern ihre Kraft empfingen? der mittlere aber bist du, der Rhapsode und Darsteller, und (536) der erste ist der Dichter selbst. Der Gott aber zieht durch alle diese die Seelen der Menschen wohin er will, indem er der einen Kraft an den andern anhängt. Und wie an jenem Steine so hängt auch hier eine gar lange Reihe von Chorsängern und Lehrern des Chors und Unterlehrern, die wieder seitwärts angehängt sind, an den an der Muse hangenden Ringen. Und der eine Dichter hängt an dieser, der andere an jener Muse; wir nennen das zwar sie besitzt ihn, das ist aber ziemlich dasselbe, denn sie hält ihn doch immer. An diesen ersten Ringen nun den Dichtern hangen wieder an Jedem Andere und sind begeistert einige vom Orpheus, Andere vom Musaios, die meisten aber werden vom Homeros besessen und gehalten, von denen auch du, Ion, einer bist und vom Homeros gehalten wirst. Wenn daher Jemand von einem andern Dichter etwas singt, so schlummerst du und hast nichts zu sagen; wenn aber Jemand ein Lied von diesem Dichter anstimmt, so wachst du sogleich und deine Seele tanzt und gar Vieles weißt du zu sagen. Denn nicht durch Kunst oder Wissenschaft sagst du was du vom Homeros sagst, sondern durch göttliche Schickung und Besitzung, so wie die Korybanten nur auf jenen Gesang recht hören, der von dem Gotte herrührt, welcher sie besitzt, und auf dessen Weise einen Reichtum an Gebärden und Worten haben, um andere sich aber gar nicht bekümmern: so hast auch du, Ion, wenn Jemand des Homeros erwähnt großen Vorrat; bei andern aber gar keinen. Und die Ursach hievon, wonach du mich fragst, weshalb du nur über den Homeros etwas weißt, über andere aber nicht, ist die, daß du nicht durch Kunst, sondern durch göttliche Schickung so gewaltig bist als ein Verherrlicher des Homeros.

Ion: Sehr gut zwar sprichst du, Sokrates, jedoch wollte ich mich wundern, wenn du so gut sprächest, daß du mich überreden könntest, ich verherrlichte den Homeros durch Eingeistung und Wahnsinn. Ich glaube auch es würde nicht einmal dir so vorkommen wenn du mich hörtest über den Homeros reden.

Sokrates: Gewiß will ich dich ja hören, nicht eher jedoch bis du mir dies beantwortest. Worüber von allem, wovon Homeros spricht, sprichst du gut? Denn über alles und jedes doch wohl nicht?

Ion: Das wisse nur, Sokrates, über alles ohne Ausnahme.

Sokrates: Doch aber nicht darüber, wovon du nichts verstehst, und Homeros doch spricht?

Ion: Was für Dinge wären das, wovon Homeros zwar spricht, ich aber nichts verstehe?

Sokrates: Redet nicht auch Homeros von allerlei Künsten an (537) vielen Orten vielerlei? So wie von der Kunst des Wagenführers; wenn mir die Verse einfallen, will ich sie dir sagen.

Ion: Ich will sie dir schon sagen; mir fallen sie gewiß ein.

Sokrates: So sage mir denn, was Nestor zu seinem Sohne Antilochos spricht, indem er ihn erinnert sich wohl vorzusehen mit der Wendung beim Wagenrennen zu Ehren des Patroklos.

Ion: Selber zugleich dann beug' in dem schöngeflochtenen Sessel, Sanft zur Linken dich hin, und das rechte Roß des Gespannes Treib mit Geißel und Ruf, und laß ihm die Zügel ein wenig, Während dir nah am Ziele das linke Roß sich herumdreht, So daß fast die Nabe den Rand zu erreichen dir scheinet Deines zierlichen Rades: den Stein nur zu rühren vermeide –

Sokrates: Genug. Ob also, o Ion, in diesen Versen Homeros richtig spricht oder nicht, welcher von beiden wird das besser verstehen, der Arzt oder der Wagenführer?

Ion: Der Wagenführer allerdings.

Sokrates: Etwa weil er diese Kunst inne hat, oder sonst weswegen?

Ion: Nein, sondern deswegen.

Sokrates: Ist nun nicht jeder Kunst von Gott Ein Werk angewiesen, das sie vermögend ist zu verstehen. Denn was wir durch die Steuermannskunst verstehen, das verstehen wir doch nicht durch die Heilkunst.

Ion: Nein freilich.

Sokrates: Und was durch die Heilkunst, das nicht auch durch die Baukunst.

Ion: Nein freilich.

Sokrates: Und wird es nicht mit allen Künsten so sein, daß was wir durch die eine verstehen, wir nicht auch durch eine andere verstehen? Zuerst aber beantworte mir das, behauptest du auch daß diese Kunst eine ist, und jene wieder eine andere?

Ion: Ja.

Sokrates: Auch wohl wie ich urteilend, wenn nämlich die eine die Erkenntnis dieser Gegenstände ist und die andere wieder jener, diese dann eine andere Kunst nenne, und jene wieder eine andere, so auch du?

Ion: Ja.

Sokrates: Denn wenn eine jede die Erkenntnis derselben Gegenstände wäre, warum soll man sagen die eine wäre diese und die andere wieder jene, wenn man doch durch beide nur einerlei weiß? So wie ich weiß, daß dies fünf Ringe sind, und du dies ganz eben so weißt wie ich; und wenn ich dich nun fragte, ob auch wohl durch dieselbe Kunst, nämlich die Rechenkunst, wir beide das nämliche wissen, ich und du, oder durch eine andere: du doch wohl sagen würdest durch dieselbe.

Ion: Ja.

(538) Sokrates: Was ich dich also schon vorher im Begriff war zu fragen, das sage mir nun, ob es dich auch in Absicht aller Künste so dünkt, daß man notwendig durch dieselbe Kunst auch dasselbe erkennt, durch eine andere aber nicht dasselbe, sondern da sie ja eine andere ist, sie auch notwendig etwas anderes erkennen muß?

Ion: So dünkt es mich, Sokrates.

Sokrates: Also wer irgend eine Kunst nicht besitzt, der wird auch was vermöge dieser Kunst geredet oder getan wird nicht richtig zu beurteilen vermögen.

Ion: Wahr gesprochen.

Sokrates: Wirst nun wohl über die Verse, welche du eben hersagtest ob sie gut gesagt sind vom Homeros oder nicht, du besser urteilen können oder ein Wagenführer?

Ion: Ein Wagenführer.

Sokrates: Denn du bist ein Rhapsode und kein Wagenführer.

Ion: Nein.

Sokrates: Und die Kunst der Rhapsoden ist eine andere als die der Wagenführer?

Ion: Ja.

Sokrates: Wenn also eine andere, so ist sie auch Erkenntnis anderer Gegenstände.

Ion: Ja.

Sokrates: Wie nun, wenn Homeros sagt, daß Hekamede des Nestors Leibdienerin dem verwundeten Machaon einen Kühltrank zu trinken reicht, und er so etwa sagt: Mengte des Pramnischen Weins, spricht er, und rieb mit eherner Raspel Ziegenkäse darauf mit weißem Mehl ihn bestreuend, ob dies Homeros recht sagt oder nicht, ist das die Sache der Arzneikunst richtig zu beurteilen oder der rhapsodischen?

Ion: Der Arzneikunst.

Sokrates: Und wie wenn Homeros sagt: Jene sank wie gerundetes Blei in die Tiefe hinunter Welches über dem Horn des geweideten Stieres befestigt Sinkt den gefräßigen Fischen des Meers das Verderben zu bringen; wollen wir sagen dies gehöre mehr für die Fischerkunst zu beurteilen oder für die rhapsodische, was er hier sagt und ob es recht ist oder nicht?

Ion: Offenbar, Sokrates, für die Fischerkunst.

Sokrates: Erwäge also, wenn du nun der fragende wärest und mich fragtest: Da du nun, Sokrates, für alle diese Künste etwas findest im Homeros was ihnen zusteht zu beurteilen, so komm und finde mir auch heraus, was für den Wahrsager und die Wahrsagekunst gehört, was das wohl sein mag was denen gebührt beurteilen zu können ob es gut oder schlecht gedichtet ist: so sieh wie leicht und richtig ich dir antworten werde. Denn gar oft sagt er dergleichen auch in der Odysseia, wie was der Seher der Melampodideer Theoklymenos zu den Freiern sagt: Ach unglückliche Männer was duldet ihr? rings ja in Nacht sind Euch gehüllt die Häupter, die Angesicht' und (539) die Glieder! Schrecklich ertönt Wehklag', und tränenbenetzt sind die Wangen! Voll der Schattengebild ist die Flur und voll auch der Vorhof die zum Erebos eilen in Finsternis! aber die Sonn' ist ausgelöscht am Himmel und rings herrscht gräßliches Dunkel! Oft auch in der Ilias wie im Mauergefecht, denn auch hier sagt er: Denn ein Vogel erschien, da sie überzugehn sich entschlossen Ein hochfliegender Adler der links hin streifend das Kriegsheer Eine Schlang' in den Klauen dahertrug rot und unendlich Lebend annoch und zappelnd, noch nicht vergessend der Streitlust. Denn dem haltenden Adler durchstach sie die Brust an dem Halse Rückwärts drehend das Haupt, er schwang sie hinweg auf die Erde Hart von Schmerzen gequält, und sie fiel in die Mitte des Haufens, Aber er selbst lauttönend entflog im Hauche des Windes. Dieses würde ich sagen gehört für den Wahrsager zu betrachten und zu beurteilen.

Ion: Sehr wahr sprichst du daran, o Sokrates.

Sokrates: Auch du sprichst hieran sehr wahr, o Ion! So komm denn, und wie ich dir ausgesucht habe aus der Odysseia und Ilias, was für den Wahrsager gehört, und was für den Arzt und was für den Fischer: so suche du nun auch mir heraus, da du ja des Homeros kundiger bist als ich, was doch für den Rhapsoden gehört, o Ion, und für die rhapsodische Kunst, und was diesem gebührt zu betrachten und zu beurteilen vor den übrigen Menschen.

Ion: Ich behaupte eben, Alles, Sokrates.

Sokrates: So eben, Ion, wolltest du doch nicht behaupten, Alles. Oder bist du so vergeßlich? Das ziemt ja wohl einem Rhapsoden nicht vergeßlich zu sein?

Ion: Was vergesse ich denn?

Sokrates: Erinnerst du dich nicht, daß du behauptetest, die Kunst des Rhapsoden wäre eine andere als die des Wagenführers?

(540) Ion: Das erinnere ich mich.

Sokrates: Und daß sie als eine andere auch anderes verstehe, gestandest du das auch?

Ion: Ja.

Sokrates: Nicht alles also wird doch die rhapsodische Kunst nach deiner Rede verstehen, und der Rhapsode?

Ion: Ausgenommen vielleicht dergleichen, Sokrates.

Sokrates: Mit diesem dergleichen meinst du doch ausgenommen was für alle übrigen Künste gehört? Aber was wird er denn verstehen, wenn doch nicht Alles?

Ion: Was einem Manne zu sprechen ziemt, glaube ich, und was einer Frau, was einem Knechte und was einem Freien, was einem Gehorchenden und was einem Gebietenden.

Sokrates: Meinst du etwa was dem Gebietenden über ein auf dem Meere mit dem Sturme kämpfendes Schiff, zu sprechen geziemt, werde der Rhapsode besser verstehen als der Steuermann.

Ion: Nein, sondern dies wohl der Steuermann.

Sokrates: Aber was dem, der über einen Kranken gebietet, zu sprechen geziemt, das wird der Rhapsode besser verstehen als der Arzt?

Ion: Auch das nicht.

Sokrates: Aber was einem Knechte geziemt, sagst du?

Ion: Ja.

Sokrates: Was einem Knechte der das Vieh hütet zu sprechen gebührt, wenn ihm die Rinder wild werden und er ihnen zuredet, das wird der Rhapsode verstehn und nicht der Ochsenhirte?

Ion: Freilich wohl nicht.

Sokrates: Aber was einer webenden Frau geziemt von der Verarbeitung der Wolle zu sprechen?

Ion: Nein.

Sokrates: Was aber einem Heerführer zu sprechen geziemt, der den Kriegern zuredet, wird er verstehn?

Ion: Ja dergleichen wird der Rhapsode verstehn.

Sokrates: Wie doch? Ist die Kunst des Rhapsoden die des Heerführers?

Ion: Ich würde wenigstens schon verstehen, was einem Heerführer zu sprechen geziemt!

Sokrates: Vielleicht bist du eben auch ein Heerführer der Kunst nach. Denn wenn du zugleich ein Bereuter wärest und ein Künstler auf der Lyra, so verständest du dich auch auf Pferde die gut und schlecht zugeritten wären. Aber wenn ich dich dann fragte: durch welche Kunst o Ion erkennst du die gut zugeritteten Pferde? durch die vermöge der du ein Bereuter bist, oder durch die vermöge der ein Lyraspieler? was würdest du mir antworten?

Ion: Durch die vermöge welcher ich ein Bereuter bin, antwortete ich.

Sokrates: Also wenn du auch die welche die Lyra gut spielen, erkenntest: so würdest du gestehen sie, durch die vermöge deren du selbst die Lyra spielst zu erkennen, nicht durch die vermöge der du ein Bereuter bist?

Ion: Ja.

Sokrates: Wenn du also was zur Heerführung gehört verstehst, verstehst du es in so fern du der Kunst nach ein Heerführer, oder in so fern du ein guter Rhapsode bist?

(541) Ion: Das dünkt mich gar nicht unterschieden zu sein.

Sokrates: Wie meinst du gar nicht unterschieden? Meinst du das wäre nur Eine Kunst, die des Rhapsoden und die des Heerführers oder zwei?

Ion: Eine scheint es mir wenigstens.

Sokrates: Wer also ein guter Rhapsode ist, der ist auch ein guter Heerführer?

Ion: Ganz gewiß, Sokrates.

Sokrates: Und auch wer ein guter Heerführer ist, ist also ein guter Rhapsode?

Ion: Das dünkt mich wieder nicht.

Sokrates: Aber jenes dünkt dich, wer nur ein guter Rhapsode ist, sei auch ein guter Heerführer?

Ion: Gar sehr.

Sokrates: Nun bist du doch unter den Hellenen der beste Rhapsode?

Ion: Bei weitem, Sokrates.

Sokrates: Bist du etwa auch, o Ion, der beste Heerführer unter den Hellenen?

Ion: Wisse nur, Sokrates, daß ich auch das aus dem Homeros gelernt habe.

Sokrates: Warum also doch bei den Göttern, o Ion, wenn du unter den Hellenen beides der beste bist, Rhapsode und Heerführer, gehst du zwar umher und singst den Hellenen vor als Rhapsode, führst sie aber nicht an als Heerführer? Oder glaubst du daß um einen mit goldenem Kranze bekränzten Rhapsoden zwar große Not ist unter den Hellenen, um Heerführer aber gar nicht?

Ion: Unsere Stadt wird ja von Euch regiert und beschützt und bedarf keines Heerführers, die eurige aber, Sokrates, und Lakedaimon würden mich nicht zum Heerführer wählen, denn ihr glaubt dazu selbst genug zu sein.

Sokrates: Bester Ion, kennst du nicht Apollodoros den Kyzikener?

Ion: Was doch für einen?

Sokrates: Den die Athener als einen Fremden doch schon oft zu ihrem Heerführer gewählt haben, wie auch den Phanosthenes von Andros und Herakleides den Klazomenier, welche, obgleich Fremde, die aber gezeigt haben was sie wert sind, die Stadt zu Heerführer sowohl als zu andern Staatsämtern erhebt. Und Ion den Ephesier also sollte sie nicht zum Heerführer wählen und sonst ehren, wenn sie glaubt daß er der Rede wert sei? Und wie? seid ihr Ephesier nicht noch überdies Athener von Alters her, und Ephesos nicht geringer als irgend eine andere Stadt? Aber du, o Ion, wenn du Recht daran hast, daß du durch Kunst und Wissenschaft im Stande bist den Homeros zu verherrlichen, so tust du Unrecht, da du doch viel Schönes über den Homeros zu wissen behauptest und mir versprochen hast davon zu zeigen, daß du mich betrügst und weit gefehlt dich mir mit Jenem zu zeigen, mir nicht einmal sagen willst, was das ist worin du gewaltig bist, wornach mich doch schon lange recht gelüstet. Sondern ordentlich wie Proteus vervielfältigst du dich und drehst dich von oben nach unten bis du mir endlich ganz entschlüpfst und mir als Heerführer wieder erscheinst, um nur nicht zu zeigen wie stark du bist, in der Weisheit über den Homeros. Wenn (542) du also als ein Künstler um dein Versprechen, dessen ich eben erwähnte daß du dich mir über den Homeros zeigen wolltest, mich betrügst: so tust du Unrecht. Wenn du aber kein Künstler bist; sondern durch göttliche Schickung am Homeros festgehalten ohne etwas zu wissen viel und Schönes sagst über den Dichter, wie ich eben von dir sagte, dann tust du nicht unrecht. So wähle nun, wofür du lieber von uns willst gehalten sein, für einen unrechtlichen Mann oder für einen göttlichen.

Ion: Ein großer Unterschied ist das, Sokrates! denn weit schöner ist es für einen göttlichen gehalten zu werden.

Sokrates: Dieses Schönere also, o Ion, trägst du von unserntwegen davon, ein göttlicher zu sein, nicht aber ein künstlerischer Verherrlicher des Homeros.


 << zurück weiter >>