Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher
Platons Werke. Erster Theil
Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher

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Kriton

In der Übersetzung von
Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher

Einleitung

Daß es mit diesem Gespräche dieselbe Bewandtnis zu haben scheine, wie mit der vorstehenden Verteidigungsrede, ist schon in der Einleitung zu dieser angedeutet worden. Nämlich der »Kriton« mag wohl auch nicht ein vom Platon eigentlich gebildetes Werk sein; sondern ein wirklich so vorgefallenes Gespräch, welches Platon von dem Mitunterredner des Sokrates so gut es dieser geben konnte überkommen, und selbst schwerlich mehr hinzugetan hat, als die ihm wohlbekannte Sprachweise des Sokrates verschönernd herzustellen, Anfang und Ende zu verzieren, und vielleicht hie und da etwas notwendiges zu ergänzen. Diese Ansicht beruht ganz auf denselben Gründen, welche bereits bei der »Verteidigung« auseinander gesetzt worden sind. Denn auch hier fehlt es eben so gänzlich an einem philosophischen Zweck, und wiewohl die unmittelbare Veranlassung zu den wichtigsten Untersuchungen einlud über Recht, Gesetz und Vertrag, und die gewiß den Platon zu jeder Zeit beschäftigten: so sind doch hier diese Gegenstände so ganz lediglich in Beziehung auf den vorliegenden Fall abgehandelt, daß man wohl sieht, von diesem sind die Unterredner, wenn das Gespräch wirklich gehalten worden, ausschließlich erfüllt gewesen; und wenn es eine völlig freie Arbeit des Platon sein sollte, daß ihr dann ganz vollkommen der Charakter einer Gelegenheitsschrift zukommen müßte. Auch wird ja ganz ausdrücklich darin vom Philosophieren abstrahiert, indem die eigentlichen Grundsätze ohne alle Erörterung nur hingestellt werden als eingestanden, und zwar in Beziehung auf alte, aber keinesweges solche Gespräche die in andern Schriften des Platon zu suchen wären, welches Verfahren in denen Werken des Platon die eine philosophische Bedeutung haben ganz unerhört ist. Was aber sollte wohl die Veranlassung einer solchen Gelegenheitsschrift, wenn wir als eigene Arbeit des Platon ansehn, gewesen sein? Denn der Gesinnung nach wird hier nichts dargestellt, was nicht schon in der »Verteidigung« enthalten wäre. Will man aber glauben, die Tatsache daß nämlich die Freunde des Sokrates zu seiner Entweichung wollten behülflich sein, er aber sich nicht helfen lassen, diese habe Platon bekannt machen wollen, alles übrige aber außer dieser historischen Grundlage sei seine eigne Erfindung: so möchte hievon bei näherer Betrachtung wohl nur die erste Hälfte bestehen können, die letzte aber nicht. Denn auf der einen Seite ist an dieser Tatsache nichts merkwürdiges, als die Art wie sie sich ereignet; indem man schon aus der »Verteidigung« den Ausgang vorhersehn konnte, und deshalb auch schon durch sie die Freunde des Sokrates vollkommen gerechtfertiget wären, wenn sie auch nichts dergleichen unternommen hätten. Auf der andern Seite aber ist das Gespräch selbst so beschaffen, wie ein wirklich gehaltenes, welches immer gewissermaßen dem Zufall unterworfen ist, gar wohl beschaffen sein darf, ein absichtlich und mit Kunst gedichtetes aber keinesweges. Jenes nämlich kann leicht von einem erst angedeuteten Gedanken wieder abspringen; oder auch was auf einmal hätte bestimmt und nachdrücklich können gesagt werden, nur durch Wiederholung befestigen wollen; dieses hingegen darf weder ohne Gewinn und Fortschreitung zu derselben Stelle zurückkehren, noch auch Erwartungen erregen die es nicht befriedigt. Der »Kriton« nun ist offenbar auf jene Art gebaut; und wenn gleich die Idee im Ganzen schön und klar ausgeführt ist, so ist doch im Einzelnen der Zusammenhang oft lose geknüpft, unnütz unterbrochen und nachlässig wieder aufgenommen; wie denn überhaupt von den angeführten Mängeln eines wirklich gehaltenen und nur wieder erzählten Gespräches keiner ganz fehlen möchte.

Auf diese Weise also halte ich noch immer für möglich daß Platon auch dieses Gespräch aufgesetzt habe, und denke mir daß er so nahe dem Tode des Sokrates eben so gewissenhaft mit einer solchen Unterredung könne umgegangen sein als mit seiner Verteidigungsrede. Erst in einer weiten Entfernung, in der Zeit, in welche nach meiner Ansicht der »Phaidon« fällt, konnte er auch bei dem, was sich auf den Tod des Sokrates bezieht, von der pünktlichen Treue zu der freieren Behandlung übergehen, und es in ein selbstgebildetes zur philosophischen Darstellung bestimmtes Kunstwerk verweben. Ich wenigstens will noch suchen, mittelst dieser Ansicht, dem Platon das Gespräch zu erhalten, bis etwa eine tüchtigere Kritik als die bisherige es ihm ganz abspricht. Zweierlei vorzüglich bewegt mich hiezu; teils die Sprache, gegen welche auch Hr. Ast nichts sonderliches einwendet, und welche eben so deutlich als die in der »Verteidigung« alle Eigentümlichkeiten aus der ersten Periode der Platonischen Schriften vereinigt. Teils aber auch eben die große Strenge, womit der Verfasser sich an den einzelnen Fall hält, den das Gespräch betrifft, und hier sich jeder Einmischung von Untersuchungen über die ersten Grundsätze enthält, eine Keuschheit welche gewiß nicht kleinen Philosophen wie die übrigen Sokratiker, sondern nur einem so ausgezeichneten Manne möglich war, und durch welche er diese Schrift zugleich ausdrücklich aus der Reihe der übrigen heraushebt. Daher auch der starke Nachdruck der auf die Äußerung gelegt wird, daß denen, welche nicht von gleichen sittlichen Grundsätzen mit einander ausgehn, jede gemeinschaftliche Beratschlagung unmöglich ist, ein Nachdruck der eher dem Platon, um die Art und das Verfahren des Gespräches zu erklären, zuzuschreiben ist, als dem Sokrates, der dessen gegen seinen Freund Kriton, welcher nur in den Folgerungen von ihm abweichen konnte, schwerlich bedurft hätte.

Auf die Erzählung des Diogenes, daß Aeschines eigentlich der Unterredner gewesen, und Platon ihm aus Abneigung den Kriton untergeschoben habe, ist wohl wenig Wert zu legen. Indes ist es leicht möglich, daß Platon sich hierin eine Abweichung erlaubt, und den Kriton gewählt hat, der durch seine Lage und sein Alter vor unangenehmen Folgen am meisten gesichert war, vielleicht auch bald nach dem Tode des Sokrates gestorben ist. Wenigstens sieht man das Bestreben keinem Athenischen Freunde des Sokrates zu schaden daraus, daß Platon als Teilhaber an dem Entführungsentwurf nur Ausländer namhaft macht. So daß der Umstand selbst vielleicht gegründet ist, und nur die Ursache, wer weiß von wem, hinzugefabelt.


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