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17. Wiedergeburt.

Ich kam gerade noch zur Zeit für den Nachtzug zwölf Uhr zehn nach Pisa.

Ich nahm eine Karte und drückte mich in eine Ecke eines Wagens zweiter Klasse, den Schirm der Mütze bis auf die Nase herabgezogen, nicht so sehr um mich zu verbergen, als um selber nichts zu sehen. In Gedanken schaute ich immer dasselbe: wie ein Albdruck war mir jener Hut und Stock, die ich dort auf der Brustwehr der Brücke zurückgelassen hatte. Vielleicht ging in diesem Augenblick jemand daran vorüber und bemerkte sie ... vielleicht war schon eine nächtliche Wache zur Polizei gelaufen und hatte Bericht erstattet ... Und ich war noch in Rom! Was konnte noch alles geschehen? Ich wagte nicht mehr zu atmen ...

Endlich setzte sich der Zug in Bewegung. Zum Glück war ich allein im Abteil geblieben. Ich sprang auf, hob die Arme in die Höhe und tat einen endlos tiefen Seufzer der Erleichterung, als wäre mir ein Stein vom Herzen genommen. O nun fing ich wieder an zu leben, ich zu sein, Mattia Pascal. Ich hätte es allen laut ins Gesicht schreien können: – ich, ich bin Mattia Pascal! Ich bin es! Ich bin nicht tot! Hier bin ich! – Und nun nicht mehr lügen, nicht mehr fürchten zu müssen, entdeckt zu werden! Freilich eigentlich erst, wenn ich in Miragno ankam ... Dort erst durfte ich mich offenbaren, mich als lebend wiedererkennen, mich auf meine begrabenen Wurzeln von neuem aufpfropfen lassen ... Ich Tor! Wie hatte ich mir nur einbilden können, daß ich als ein Baumstumpf, dem man die Wurzeln abgeschlagen, zu leben vermochte? Und doch, wenn ich mich an die andere Reise erinnerte, die von Alengo nach Turin: da hatte ich mich ebenso wie jetzt glücklich gefühlt! »Frei!« hatte ich mir gesagt ... Aber damals war ich mir frei erschienen! Mit dem bleiernen Mantel der Lüge auf den Schultern! Ein bleierner Mantel über einen Schatten ... Und jetzt würde ich dieselbe Frau wieder auf mir haben und die Schwiegermutter ... Aber hatte ich sie nicht auch als Toter auf mir gehabt? Jetzt war ich wenigstens lebendig, war abgehärtet. O wir würden ja sehen!

Wenn ich jetzt zurückdachte, erschien mir die Leichtigkeit, mit der ich mich vor zwei Jahren außerhalb jedes Rechtes gestellt und mich dem Zufall ausgeliefert, geradezu unwahrscheinlich. Ich sah mich wieder, wie glücklich ich war jene ersten Tage zu Turin in meiner Unbewußtheit oder, besser gesagt, in meiner Torheit, dann in den anderen Städten meiner Pilgerfahrt, stumm, einsam, und in mich gekehrt. Dann war ich in Deutschland, war den Rhein auf einem Dampfer entlang gefahren: war das alles ein Traum? Nein ich war wirklich dagewesen! Ja, wenn ich immer in solcher Lage hätte sein können. Reisen, als ein Fremdling des Lebens ... Aber dann in Mailand ... als ich jenes arme kleine Schoßhündchen von dem Mann mit den Streichkerzchen kaufen wollte ... da hatte ich angefangen aufzumerken ... und dann ... ja dann!

Wieder eilte ich zurück nach Rom und trat gleich einem Schatten in mein verlassenes Zimmer. Schliefen sie alle? Adriana vielleicht nicht ... sie erwartete mich noch, wartete, daß ich nach Hause zurückkehrte. Vielleicht hatte man ihr gesagt, daß ich auf die Suche nach zwei Kartellträgern gegangen sei, um mich mit Bernaldez zu schlagen. Und sie fühlte, daß ich nicht nach Hause zurückkehrte, sorgte sich und weinte ...

Ich preßte die Hände vor mein Gesicht, denn ich fühlte, wie das Herz sich mir vor Gram zusammenzog.

– Aber da ich für dich doch nicht lebend sein kann, Adriana, seufzte ich, ist es besser, daß du mich jetzt tot glaubst! Tot die Lippen, die einen Kuß von deinem Munde pflückten, arme Adriana ... Vergiß! Vergiß!

Was würde am nächsten Morgen in jenem Hause geschehen, wenn sich jemand von der Polizeiwache vorstellte, um Bericht zu erstatten? Welchen Grund würde man, wenn der erste Schrecken vorüber war, meinem Selbstmord unterlegen? Das bevorstehende Duell? Wohl nicht! Es würde zumindest sehr seltsam sein, daß ein Mann, der niemals einen Beweis von Feigheit gegeben hatte, sich aus Furcht vor einem Duell tötete ... Was dann? Hatte ich keine Kartellträger finden können? Nichtiger Vorwand! Wer weiß, vielleicht lag in meiner seltsamen Existenz irgendein Geheimnis ...

O ja, so würde man zweifellos denken! Ich tötete mich scheinbar ohne jeden Grund, ohne vorher eine Absicht verraten zu haben. Mehr als eine Seltsamkeit war in den letzten Tagen von mir ausgegangen: die verworrene Geschichte des Diebstahls, der dann so unerwartet abgeleugnet wurde ... Vielleicht war jenes Geld gar nicht meines? Mußte ich es jemand zurückerstatten? Hatte ich es mir etwa unrechtmäßig angeeignet und versuchte nun glauben zu machen, daß ich das Opfer eines Diebstahls war? Sicher war ich ein sehr geheimnisvoller Mensch: kein Freund, kein Brief, niemals ...

Vielleicht hätte ich besser daran getan, außer Namen Datum und Adresse, etwas mehr auf jenes Stück Papier zu schreiben: irgendeinen Grund des Selbstmordes?

– Wer weiß, dachte ich bei mir, was für einen Lärm jetzt die Zeitungen von dem geheimnisvollen Adriano Meis machen werden ... Sicher meldete sich der treffliche »Vetter«, der Francesco Meis aus Turin, der Hilfsrevisor und gab der Polizei Nachrichten. Man stellte Nachforschungen an, und wer weiß, was dabei heraus kam. Und das Geld? Eine Erbschaft? Adriana hatte sie gesehen, all meine Banknoten ... Und man stelle sich Papiano vor! Wie er zum Wandschrank gestürzt sein möchte! Und ihn leer fand ... Verloren? Auf dem Grund des Flusses? Schade, schade! Welche Torheit, nicht alles auf einmal gestohlen zu haben! Die Polizei belegte meine Kleider, meine Bücher mit Beschlag. Wo kamen sie hin? Für Adriana waren sie wenigstens ein Andenken! Mit was für Augen betrachtete sie jetzt mein verlassenes Zimmer?

Solche Fragen, Gedanken und Gefühle bestürmten mich, während der Zug durch die Nacht dahinbrauste. Und sie ließen mich nicht zur Ruhe kommen.

Ich hielt es für angebracht, mich einige Tage in Pisa aufzuhalten, um zu verhindern, daß man das Wiedererscheinen des Mattia Pascal in Miragno mit dem Verschwinden des Adriano Meis in Rom in Zusammenhang brächte, was leicht geschehen konnte, zumal wenn die Zeitungen Roms zuviel über den Selbstmord berichteten. Ich würde in Pisa die römischen Zeitungen abwarten, Abend- und Morgenausgabe. Dann würde ich mich, wenn nicht zuviel Lärm geschlagen wurde, bevor ich nach Miragno ging, nach Oneglia zu meinem Bruder Robert begeben, um den Eindruck kennen zu lernen, den meine Auferstehung machte. Unter keinen Umständen aber durfte ich meinen Aufenthalt in Rom auch nur im entferntesten andeuten, ebensowenig meine sonstigen Abenteuer. Von jenen zwei und einhalb Jahren mußte ich phantastische Nachrichten geben, ferne Reisen vorschützen ... Jetzt, wo ich lebendig zurückkehrte, mußte ich auch leider wieder Geschmack an Lügen finden.

Es blieben mir noch zweiundfünfzigtausend Lire. Die Gläubiger, die mich seit zwei Jahren tot wähnten, würden sich sicherlich mit dem Gut Stia und mit der Mühle zufrieden gegeben haben. Nachdem beides verkauft, hatten sie sich vielleicht geeinigt und würden mich nicht mehr belästigen. Aber auch ich würde darauf denken, mich nicht mehr belästigen zu lassen. Mit zweiundfünfzigtausend Lire würde ich nicht gerade im Überfluß, aber doch leidlich leben können.

Als ich in Pisa den Zug verlassen, kaufte ich mir vor allem einen Hut in der Art, wie Mattia Pascal ihn seinerzeit zu tragen pflegte; danach ließ ich mir sofort die Haare des Idioten Adriano Meis schneiden.

– Kurz, recht kurz, sagte ich zu dem Barbier.

Der Bart war mir wieder ein wenig gewachsen, und jetzt mit den kurzen Haaren begann ich mein früheres Aussehen wieder zu bekommen, nur feiner ... liebenswürdiger. Und das Auge schielte nicht mehr. Ich ähnelte Robert jetzt so, wie ich es nie vermutet hätte.

Um nicht mit leeren Händen in einem Gasthof abzusteigen, kaufte ich einen Handkoffer; hineintun würde ich den Anzug, den ich anhatte und den Mantel. Denn ich mußte mich nun ganz neu ausrüsten, da ich nicht hoffen konnte, daß meine Frau in Miragno nach so langer Zeit noch einen Anzug von mir oder Wäsche aufbewahrt haben würde. Ich kaufte einen fertigen Anzug und zog ihn sofort an. Mit dem neuen Koffer stieg ich im Hotel Nettuno ab.

In Pisa war ich schon als Adriano Meis gewesen; damals wohnte ich im Albergo di Londra. Alle Herrlichkeiten der Kunst, die diese Stadt birgt, hatte ich damals schon bewundert; jetzt fiel ich, gänzlich erschöpft von den gewaltigen Aufregungen und da ich seit dem Morgen des vergangenen Tages nichts Ordentliches gegessen hatte, fast um vor Hunger und Müdigkeit. Ich nahm schnell etwas zu mir und schlief bis zum Abend.

Kaum aber war ich wieder wach, als ich einer ständig wachsenden Erregung zum Opfer fiel. Wer weiß, was an diesem Tag, der mir kaum bewußt geworden war, alles im Hause Paleari geschehen war! Verwirrung, Bestürzung, krankhafte Neugier Fremder, eilige Nachforschungen, Verdächtigungen, Argwohn, nutzlose Untersuchungen! Und dann meine Kleider und Bücher, behütet mit einer Scheu, wie sie Gegenstände uns einflößen, die einem tragisch ums Leben Gekommenen gehören.

Ich aber hatte geschlafen! Und setzt würde ich in meiner sorgenvollen Ungeduld noch bis zum nächsten Morgen warten müssen, ehe ich etwas aus den römischen Zeitungen erfuhr.

Da ich weder nach Miragno noch nach Oneglia fahren konnte, blieb mir nichts übrig, als zwei, drei Tage, vielleicht noch länger hierzubleiben: als der in Miragno verstorbene Mattia Pascal und der in Rom verstorbene Adriano Meis. Ich wußte nicht recht, was ich beginnen sollte; aber in der Hoffnung, mich nach sovielen Aufregungen ein wenig zu zerstreuen, führte ich jene beiden Toten durch Pisa spazieren.

Es war ein äußerst angenehmer Spaziergang! Adriano Meis, der schon da gewesen war, wollte gleichsam den Führer und Cicerone spielen für Mattia Pascal; dieser aber, bedrückt von so vielem, das ihm in die Erinnerung kam, wehrte sich mit düsteren Geberden, hob den Arm, wie um sich zu befreien von dem widerwärtigen Schatten im langen Rock, mit dem großen breitkrämpigen Hut und der Brille.

– Nein, nein! Kehr in den Fluß zurück, Ertrunkener!

Da aber erinnerte ich mich, daß auch Adriano Meis, als er vor zwei Jahren durch die Straßen von Pisa spazieren ging, sich von dem ebenso widerwärtigen Schatten des Mattia Pascal belästigt fühlte, und daß er ihn mit derselben Geberde von sich schüttelte, um ihn in den Mühlengraben von Stia zurückzujagen. Das Beste war schon, keinem von beiden eine zu große Vertraulichkeit zu gestatten. O weißer Campanile, du konntest dich nach einer Seite neigen, ich aber, zwischen jenen beiden, konnte es weder nach der einen noch nach der anderen.

Mit Gottes Hilfe überstand ich die endlose qualvolle Nacht und hielt am Morgen die Zeitungen aus Rom in den Händen.

Ich kann nicht sagen, daß ich beim Lesen ruhiger wurde: ich konnte es einfach nicht. Die Aufregung, die mich noch immer beherrschte, wurde indessen gemildert, als ich sah, daß die Zeitungen die Nachricht von meinem Selbstmord in der Art ganz gewöhnlicher Vorfälle der Tageschronik brachten. Sie berichteten alle ungefähr dasselbe: Von dem Hut und Stock, die man auf dem Ponte Margherita mit der lakonischen Nachricht gefunden, daß ich ein Turiner und ein etwas merkwürdiger Mensch war. Keine Zeitung wußte etwas von den Gründen, die mich zu dem traurigen Schritt getrieben hatten. Nur eine sprach von »intimen Gründen« von einem »Wortwechsel mit einem jungen spanischen Maler im Hause einer sehr bekannten Persönlichkeit der klerikalen Welt«, eine andere von »pekuniären Schwierigkeiten«. Kurz, alles unbestimmte und kurze Nachrichten. Eine Morgenzeitung, die die Gewohnheit hatte, Tagesereignisse besonders weitläufig zu verzeichnen, machte eine Anspielung »auf die Überraschung und den Schmerz der Familie des Cavaliere Anselmo Paleari, des jetzt im Ruhestand befindlichen Abteilungschefs im Unterrichtsministerium, bei dem Meis wohnte und sehr wegen seiner Zurückhaltung und seiner höflichen Umgangsformen geschätzt wurde«. Danke! Auch diese Zeitung, welche die Herausforderung von seiten des spanischen Malers M. B. berichtete, ließ durchblicken, daß der Grund zu dem Selbstmord in einer heimlichen Liebesleidenschaft zu suchen sei.

Das hieß also, ich hatte mich wegen Pepita Pantogada getötet. Gut so. Der Name Adrianas war nicht an die Öffentlichkeit gekommen, noch war etwas von meinen Banknoten erwähnt worden. Die Polizei würde also im geheimen weiter nachforschen. Aber auf welche Anzeichen hin?

Ich konnte nach Oneglia abreisen.

Ich fand Robert in der Villa, es war Weinernte. Was ich empfand, als ich mein schönes Gestade wiedersah, auf das ich nie mehr den Fuß setzen zu können glaubte, läßt sich leicht begreifen. Aber die Freude ward getrübt durch die Sehnsucht, endlich das Ziel zu erreichen, durch die Befürchtung, unterwegs von irgend jemand vor meinen Angehörigen erkannt zu werden und durch die sich ständig steigernde Erregung, was diese wohl empfinden würden, wenn sie mich plötzlich lebend vor sich sahen. Der Blick verhüllte sich mir mit Nebeln, Himmel und Meer verdüsterten sich vor mir, wenn ich daran dachte, das Blut prickelte mir in den Adern und das Herz schlug stürmisch. Mir war, als gelangte ich nie mehr an!

Der Diener kam und öffnete das Gitter der hübschen Villa, die Robert von seiner Frau als Mitgift erhalten hatte. Mir schien, während ich die Allee durchschritt, als kehrte ich wahrhaftig aus der anderen Welt zurück.

– Bitte sehr, sagte der Diener. Wen darf ich melden?

Ich hatte keine Stimme mehr in der Kehle, um ihm zu antworten. Unter einem Lächeln die Anstrengung verbergend, stammelte ich:

– Sagen ... Sagen Sie ... hier sei einer seiner Freunde ... seiner intimsten, der ... der von weit herkommt ...

Das Stottern wenigstens mußte mir der Diener glauben. Er stellte den Koffer neben den Kleiderständer und bat mich, in den Salon zu treten.

Ich zitterte vor Erwartung, lachte, atmete schwer, sah mich um in dem kleinen hellen Salon, der so schön mit neuen, grünlackierten Möbeln eingerichtet war. Mit einemmal sah ich auf der Schwelle der Tür, durch die ich eingetreten, einen hübschen kleinen Jungen von vielleicht vier Jahren, mit einem Gießkännchen in der einen und einer kleinen Harke in der anderen Hand. Er betrachtete mich aufmerksam.

Ich fühlte eine unsagbare Zärtlichkeit: es mußte mein kleiner Neffe sein, der älteste Sohn Roberts. Ich beugte mich herab und winkte ihm näher zu kommen. Aber ich machte ihm Angst und er lief weg.

In diesem Augenblick hörte ich, wie sich die andere Tür des Salons öffnete. Ich richtete mich auf, die Augen wurden mir trübe vor Erregung und eine Art konvulsivischen Lachens wallte mir in der Kehle auf.

Robert war erregt und fast bestürzt vor mir stehen geblieben.

– Mit wem ...? sagte er.

– Robert! rief ich, die Arme ausbreitend. Erkennst du mich nicht wieder?

Er wurde kreidebleich beim Laut meiner Stimme, fuhr sich mit der Hand über Stirn und Augen, wankte und stammelte:

– Wie ... wie?

Ich hielt ihn, da er sich wie aus Furcht zurückzog.

– Ich bin es! Mattia! Hab keine Furcht! Ich bin nicht tot ... Siehst du mich? Faß mich an! Ich bin es, Robert. Ich war nie lebendiger als jetzt! ...

– Mattia! Mattia! Mattia! rief der arme Robert aus, noch nicht seinen Augen trauend. Wie ist das möglich? Du? O Gott ... mein Bruder! Lieber Mattia!

Er umarmte mich heftig, und ich begann wie ein Kind zu weinen.

– Wie ist es möglich? fragte Robert wieder und weinte auch. Wie ist es nur möglich?

– Hier bin ich ... Siehst du? Ich bin zurückgekehrt ... nicht aus jener anderen Welt, nein ... ich bin immer in dieser schlechten Welt gewesen ... ich werde dir erzählen ...

Robert hielt mich fest in seinen Armen, die Augen voll Tränen, und sah mich noch ganz verwundert an:

– Aber wie ... wenn du doch dort ...?

– Das war ich nicht ... Man hat mich verwechselt ... Ich war fern von Miragno und habe, wie auch du wahrscheinlich, aus einer Zeitung meinen Selbstmord in Stia erfahren.

– Das warst du also nicht? rief Robert aus. Aber was hast du denn gemacht?

– Ich habe den Toten gemacht. Doch ruhig. Ich werde dir alles erzählen. Jetzt kann ich es nicht. Ich kann dir nur das sagen, daß ich hierhin und dahin gereist bin und mich anfangs für glücklich hielt, verstehst du? Dann aber ... nach so vielen Wechselfällen habe ich bemerkt, daß ich mich geirrt hatte und daß den Toten zu spielen kein schöner Beruf ist. Jetzt bin ich hier und mache mich wieder lebendig.

– Mattia, hab ich immer gesagt, Mattia wahnsinnig ... wahnsinnig! rief Robert. O welche Freude hast du mir bereitet! Wer konnte das erwarten? Mattia lebt ... hier! Aber weißt du, daß ich noch nicht daran glauben kann? Laß mich dich betrachten ... Du scheinst mir ein Anderer!

– Siehst du, daß ich mir das Auge habe richten lassen?

– Ach ja ... deswegen schien es mir so ... ich weiß nicht ... ich mußte dich immerzu ansehen ... Sehr gut! Komm, wir wollen gleich zu meiner Frau gehen ... Halt, warte ... Du ...

Er hielt plötzlich inne und sah mich entgeistert an:

– Du willst nach Miragno zurückkehren?

– Natürlich, heute Abend.

– Du weißt also noch nichts?

Er bedeckte sich das Gesicht mit den Händen und seufzte:

– Unglücklicher! Was hast du gemacht ... was hast du gemacht ...? Weißt du nicht, daß deine Frau ...?

– Tot ist? rief ich verwundert aus.

– Nein! Schlimmer! Sie hat ... sie hat sich wieder verheiratet.

Ich war starr vor Erstaunen.

– Verheiratet?

– Ja, Pomino! Ich habe die Anzeige bekommen. Es ist jetzt über ein Jahr her.

– Pomino? Pomino, verheiratet mit ... stammelte ich. Aber plötzlich stieg mir ein bitteres Lachen wie ein Überströmen der Galle in der Kehle auf und ich lachte, lachte schallend.

Robert sah mich entsetzt an, vielleicht fürchtete er, ich hätte den Verstand verloren.

– Du lachst?

– Aber ja, natürlich! rief ich, ihn am Arm schüttelnd. Umso besser! Das ist ja der Höhepunkt meines Glückes!

– Was sagst du? platzte Robert heraus, beinahe wütend. Glück? Aber wenn du jetzt hingehst ...

– Ich eile sofort hin, das ist klar!

– Du weißt also nicht, daß du sie jetzt wiedernehmen mußt?

– Ich? Wieso?

– Aber natürlich! versicherte Robert, während ich ihn jetzt meinerseits ganz verblüfft ansah. Die zweite Heirat ist ungültig, und du bist gezwungen, sie wieder zu nehmen.

Ich fühlte, wie sich alles in mir umdrehte.

– Was! Was ist das für ein Gesetz? schrie ich. Meine Frau hat sich wiederverheiratet, und ich ... Aber nein! Sei ruhig! Das ist ja gar nicht möglich!

– Aber ich sage dir, daß es so ist! versicherte Robert. Warte, mein Schwager ist hier. Er wird es dir besser erklären als ich, er ist Doktor der Rechte. Komm ... oder besser, nein. Warte hier ein wenig: meine Frau ist in anderen Umständen. Ich möchte nicht, da sie dich so wenig kennt, daß eine allzu starke Erregung ihren Zustand ungünstig beeinflußt. Ich werde sie vorbereiten ... Du wartest, nicht?

Er hielt mich bei der Hand bis zur Türschwelle, als ob er fürchtete, ich könnte, wenn er mich für einen Augenblick losließe, von neuem verschwinden.

Ich ging wartend auf und ab, wie ein Löwe im Käfig. Wiederverheiratet! Mit Pomino! Er, nun ja, er hatte sie zuerst geliebt. Und sie ... wenn ich mir das vorstellte! Reich! Frau des Pomino. Während sie sich hier wieder verheiratete, war ich in Rom ... Und jetzt sollte ich sie mir wiederholen? War das möglich?

Robert kam bald zurück und rief mich, jauchzend vor Freude. Ich war so verwirrt von der unerwarteten Aufklärung, daß ich auf die Einladung zu dem Fest, das meine Schwägerin, die Mutter und ihr Bruder mir geben wollten, gar nicht reagierte. Robert merkte es und fragte sofort den Schwager nach dem, was mir vor allem zu wissen am Herzen lag.

Was für ein Gesetz ist denn das? rief ich nochmals. Das ist ja wie aus der Türkei!

Der junge Advokat lächelte und setzte sich mit dem Ausdruck der Überlegenheit den Kneifer wieder auf die Nase.

Es ist doch so, antwortete er. Robert hat recht. Ich erinnere mich nicht mehr genau des Artikels, aber der Fall ist im Gesetzbuch vorgesehen: die zweite Ehe wird ungültig beim Wiedererscheinen des ersten Gatten.

– Und ich muß mir, rief ich ironisch, eine Frau wiedernehmen, die mit Wissen aller, ein ganzes Jahr lang bei einem anderen Mann in der Funktion einer Ehefrau gelebt hat ...

– Aber durch Ihre Schuld, Verzeihung, lieber Herr Pascal! unterbrach mich der kleine Advokat, noch immer lächelnd.

– Durch meine Schuld? Wieso? Erst irrt sich die brave Frau, indem sie mich in dem Leichnam eines Unglücklichen erkennt, der sich ertränkt hat, dann beeilt sie sich, einen zweiten Gatten zu nehmen. Und die Schuld soll ich haben? Und ich soll sie als Gattin wieder nehmen?

– Natürlich! erwiderte jener, von dem Augenblick, wo Sie, Herr Pascal, nicht bei Zeiten den Irrtum ihrer Gattin richtigstellten, das heißt vor Ablauf der Frist, die vom Gesetz zur Schließung einer neuen Ehe vorgeschrieben ist. Ich leugne nicht, der Irrtum kann auch in böser Absicht begangen worden sein. Sie haben aber jener falschen Wiedererkennung nicht widersprochen und sie ausgenutzt ... O, ich lobe Sie deswegen: für mich haben Sie das sehr gut gemacht. Mich befremdet nur, daß Sie jetzt zurückkehren, um sich in den Schlingen unserer dummen sozialen Gesetze zu verwickeln. Ich, an Ihrer Stelle, hätte mich nicht wieder lebendig gemacht.

Die Ruhe und die herausfordernde Superklugheit dieses jungen, frisch promovierten Doktors reizten mich.

– Ja, weil Sie nicht wissen, was das heißen will! antwortete ich achselzuckend.

– Wie! erwiderte er, kann es ein größeres Glück geben?

– Ja, probieren Sie es einmal, probieren Sie! rief ich, wandte mich an Robert und ließ jenen mit seiner Anmaßung stehen.

Aber auch auf dieser Seite fand ich Widerspruch.

– Übrigens, fragte mich mein Bruder, wie hast du es in all der Zeit fertig gebracht, um ...?

Er rieb Daumen und Zeigefinger aneinander, um das Geldverdienen anzudeuten.

– Wie ich das gemacht habe? antwortete ich. Das ist eine lange Geschichte! Ich bin jetzt nicht in der Lage sie dir zu erzählen. Aber ich habe Geld gehabt und habe auch noch welches: glaube nicht, daß ich jetzt nach Miragno zurückkehre, weil ich knapp bei Kasse bin!

– Also, du versteifst dich darauf, dorthin zurückzukehren? Auch jetzt nach diesen Mitteilungen?

– Und ob ich zurückkehre! rief ich. Glaubst du wirklich, daß ich nach all dem, was ich durchgemacht und erlitten habe, noch den Toten spielen will? Nein, mein Lieber: ich will meine Papiere in Ordnung haben, ich will mich lebendig fühlen, ganz lebendig, selbst auf die Gefahr hin, meine Gattin zurücknehmen zu müssen. Sag, lebt die Mutter noch ... die Witwe Pescatore?

– Ich weiß nicht, antwortete Robert. Du wirst begreifen, daß nach der zweiten Heirat ... Aber ich glaube ja, sie lebt noch ...

– Um so besser! rief ich. Ich werde mich rächen! Ich bin nicht mehr der, der ich war! Nur eins mißfällt mir, daß es ein Glück für den Dummkopf Pomino sein wird!

Alle lachten. Der Diener kam und meldete, daß das Essen aufgetragen sei. Ich mußte bleiben und zu Mittag speisen, aber ich zitterte vor Ungeduld, sodaß ich kaum wußte, daß ich überhaupt aß; schließlich jedoch merkte ich, daß ich alles verschlungen hatte. Das wilde Tier in mir hatte sich für den bevorstehenden Überfall gestärkt.

Robert schlug mir vor, wenigstens noch den Abend in seiner Villa zu bleiben: am folgenden Morgen könnten wir zusammen nach Miragno gehen. Er wollte die Scene meiner unvorhergesehenen Rückkehr zum Leben genießen, wenn ich wie ein Geier in das Nest des Pomino fiele. Aber ich konnte mich nicht mehr halten: ich bat ihn, mich allein und noch am selben Abend gehen zu lassen.

Ich fuhr mit dem Zug um acht Uhr; in einer halben Stunde war ich in Miragno.


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