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16. Das Bild der Minerva.

Schon bevor mir die Tür geöffnet wurde, ahnte ich, daß irgend etwas Bedeutungsvolles im Hause vorgefallen sein mußte: ich hörte Papiano und Paleari schreien. Fassungslos kam mir die Caporale entgegen:

– Es ist also wahr? Zwölftausend Lire?

Ich blieb stehen, keuchend, verwirrt. Scipio Papiano, der Epileptiker, ging in diesem Augenblick quer durch das Eingangszimmer, barfuß, die Schuhe in den Händen, ganz bleich, ohne Jacke, während der Bruder von drüben schrie:

– Und jetzt zeige an! Zeige an!

Plötzlich überfiel mich eine wilde Wut gegen Adriana, die ungeachtet des Verbotes, ungeachtet des Schwures gesprochen hatte.

– Wer hat das gesagt? schrie ich die Caporale an. Nichts ist wahr davon: Ich habe das Geld wiedergefunden!

Die Caporale sah mich dumm an:

– Das Geld? Wiedergefunden? Wirklich? O Gott sei Dank! rief sie aus, die Hände emporhebend und lief davon, während ich ihr folgte, um im Speisezimmer, wo Papiano und Paleari schrien und Adriana weinte, frohlockend zu verkünden: Wiedergefunden! Wiedergefunden! Da ist Herr Meis! Er hat das Geld wiedergefunden!

– Was?

– Wiedergefunden?

– Wirklich?

Alle drei waren im höchsten Grade verblüfft; Adriana und der Vater aber mit flammendem Gesicht, Papiano dagegen erdfahl, entstellt.

Ich fixierte ihn einen Augenblick. Ich mußte noch bleicher sein als er, ich zitterte am ganzen Körper. Er senkte erschreckt die Augen und ließ die Jacke seines Bruders aus den Händen fallen. Ich trat ihm gerade gegenüber und reichte ihm die Hand.

– Entschuldigen Sie vielmals; Sie und alle ... entschuldigen Sie, bitte! sagte ich.

– Nein! schrie Adriana entrüstet; aber sofort preßte sie das Taschentuch vor ihren Mund.

Papiano sah sie an und wagte nicht, mir seine Hand zu reichen. Da wiederholte ich:

– Entschuldigen Sie ... und ich streckte die Hand noch weiter vor, um zu fühlen, wie die seine zitterte. Es schien die Hand eines Toten; auch die Augen, trübe und erloschen, waren die eines Toten.

– Ich bin ganz traurig, fügte ich hinzu, über die Verwirrung, über das tiefe Leid, das ich, ohne es zu wollen, verursacht habe.

– O nein ... das heißt, ja ... wahrhaftig, stammelte Paleari, ja, es war etwas, was ... ja, bei Gott, gar nicht sein konnte! Ich bin sehr glücklich, Herr Meis, ich bin unendlich glücklich, wenn Sie das Geld wiedergefunden haben, weil ...

Papiano atmete schwer, fuhr sich mit beiden Händen über die schweißtriefende Stirn, den Kopf und blickte uns den Rücken drehend hinaus auf die Terrasse.

– Ich habe es gemacht wie jener gewisse ..., begann ich wieder und zwang mich zum Lachen, ich suchte den Esel und saß auf ihm. Ich hatte die zwölftausend Lire hier in meiner Brieftasche bei mir.

In diesem Augenblick aber konnte Adriana sich nicht beherrschen:

– Aber wenn Sie, sagte sie, in meiner Gegenwart überall nachgesucht haben, auch in der Brieftasche, und wenn Sie dort in dem Wandschrank ...

– Ja, Signorina, unterbrach ich sie mit kalter und strenger Festigkeit, aber ich hatte augenscheinlich schlecht gesucht, ich habe das Geld doch wiedergefunden ... Ich bitte vor allem Sie um Entschuldigung, die Sie infolge meiner Verwirrtheit mehr als die Anderen haben leiden müssen ...

– Nein! nein! rief Adriana und brach in Schluchzen aus. Dann stürzte sie Hals über Kopf aus dem Zimmer, von der Caporale gefolgt.

– Ich verstehe nicht ... sagte Paleari wie betäubt.

Papiano drehte sich um und rief jähzornig:

– Ich gehe ebenfalls fort, noch heute ... Es scheint, daß es nunmehr nicht nötig ist, zu ... zu ...

Er unterbrach sich, gleich als fühlte er, wie ihm der Atem ausging. Er wollte sich an mich wenden, aber sein Mut reichte nicht aus, mir ins Gesicht zu sehen:

– Ich ... glauben Sie mir, ich habe auch nicht nein sagen können ... als man es mir gesagt hatte ... hier, unter uns ... Ich habe mich auf meinen Bruder gestürzt, der ... in seiner Bewußtlosigkeit ... krank wie er ist ... das heißt, also unverantwortlich, glaube ich ... wer weiß, er konnte sich einbilden, daß ... Ich habe ihn hierher geschleppt ... Eine wilde Szene! Ich habe mich gezwungen gesehen, ihn auszuziehen ... ihm die Taschen durchzuwühlen ... überall ... in den Kleidern, bis zu den Schuhen ... Aber er ... oh!

Die Augen füllten sich ihm mit Tränen; wie von Angst erwürgt fügte er hinzu:

– So hat man gesehen, daß ... Nun ja, doch wenn Sie ... Ich aber gehe nach solchem Vorfall fort!

– Aber nein! Es ist nichts geschehen! sagte ich darauf. Wollen Sie etwa meinetwegen gehen? Sie müssen hierbleiben! Lieber werde ich weggehen!

– Was sagten Sie da, Herr Meis? rief Paleari schmerzlich aus.

Auch Papiano, noch von dem Weinen gehindert, das ihn schier ersticken wollte, verneinte mit der Hand. Dann sagte er:

– Ich muß gehen, ich; all dieses ist vorgefallen, weil ich ... so, ganz unschuldig ... ich hatte schon gesagt, daß ich weggehen wollte, wegen meines Bruders, den man nicht mehr im Hause halten kann ... Der Marchese hat mir überdies einen Brief gegeben, hier hab ich ihn, für den Direktor einer Heilanstalt in Neapel, wohin ich mich auch wegen anderer Dokumente begeben muß, die nötig sind ... Und dann ist es meiner Schwägerin, die auf Sie verdientermaßen so viel Rücksicht nimmt, eingefallen zu sagen, daß niemand sich aus dem Hause rühren dürfe ... daß alle hier bleiben müßten ... weil sie ... ich weiß nicht was ... entdeckt hatte ... Mir hat sie es ins Gesicht gesagt, mir, ihrem eigenen Schwager! ... Warum gerade mir? Vielleicht weil ich, armselig aber doch ehrenhaft, hier noch meinem Schwager Geld rückerstatten muß ...

– Aber wozu jetzt diese Gedanken? rief Paleari, ihn unterbrechend, aus.

– Nein! bekräftigte stolz Papiano. Ich denke wohl daran, zweifelt nicht! Und wenn ich weggehe ... Armer, armer Scipio!

Er konnte sich nicht mehr beherrschen und brach in ein heftiges Weinen aus.

– Nun gut, sagte Paleari, verwirrt und erregt. Aber was geht uns das jetzt noch an?

– Mein armer Bruder! fuhr Papiano fort, mit so aufrichtigem Schmerz, daß auch ich mein Innerstes von Mitleid ergriffen fühlte.

An diesem Schmerz erkannte ich die Gewissensbisse, die er in jenem Augenblick gegenüber dem Bruder empfinden mußte, dessen er sich bedient hatte, dem er die Schuld an dem Diebstahl zugeschoben haben würde, wenn ich ihn angezeigt hätte, und den er soeben noch die Schande der Leibesvisitation hatte erdulden lassen.

Niemand wußte besser als er, daß ich das gestohlene Geld nicht hatte wiederfinden können. Meine unerwartete Erklärung, die ihn gerade in dem Augenblick errettete, in dem er, sich verloren sehend, den Bruder anklagte oder wenigstens, gemäß dem Plan, den er sich vorher zurechtgelegt haben mußte, zu verstehen gab, daß dieser allein der Urheber des Diebstahls sein konnte, hatte ihn geradezu niedergeschmettert. Nun weinte er aus dem unwiderstehlichen Drange heraus, die furchtbar erschütterte Seele zu erleichtern, vielleicht auch, weil er fühlte, daß er nicht anders denn weinend vor mir stehen könne. Mit strömenden Tränen warf er sich vor mir nieder, kniete zu meinen Füßen, natürlich in dem Vertrauen, daß ich meine Behauptung, das Geld wiedergefunden zu haben, aufrecht erhielt. Wenn ich den Anblick seiner Erniedrigung ausgenützt und mich alsbald zurückgezogen hätte, so würde er sich voll Wut gegen mich erhoben haben. Er durfte nichts von dem Diebstahl wissen, und ich rettete mit meiner Behauptung auch seinen Bruder, der schließlich, auch wenn ich ihn angezeigt, wegen seiner Krankheit keine Strafe zu erleiden gehabt hätte; er seinerseits verpflichtete sich, dem Paleari die Mitgift zurückzuerstatten.

All das glaubte ich aus seinem Weinen folgern zu können. Schließlich beruhigte er sich, von Herrn Anselmo und auch von mir ermuntert. Er sagte, daß er sofort von Neapel zurückkehren werde, sobald sein Bruder in der Heilanstalt untergebracht, sobald auch seine Bezüge in einem gewissen Geschäft, das er letzthin dort mit einem seiner Freunde in Gang gebracht, liquidiert und die Nachforschungen nach Dokumenten, die der Marchese brauchte, beendet seien.

Der Herr Marchese, schloß er, hat mir gesagt, daß, wenn es Ihnen recht ist, wir heute ... zusammen mit meinem Schwiegervater und mit Adriana ...

– Bravo! rief Herr Anselmo aus, ohne ihn zu Ende reden zu lassen. Wir werden alle gehen ... sehr gut! Ich glaube, daß wir jetzt Grund haben, lustig zu sein. Was sagen Sie dazu, Herr Adriano?

– Für mich, gewiß ...

– Gut, denn, gegen vier Uhr ... Paßt es? schlug Papiano vor, sich endgültig die Augen trocknend.

Ich zog mich in mein Zimmer zurück. Meine Gedanken eilten sogleich zu Adriana, die nach jener meiner Ableugnung schluchzend weggelaufen war. Wenn sie jetzt kam, nach einer Erklärung zu fragen? Sicher war, daß sie nicht glauben konnte, ich hätte tatsächlich das Geld wiedergefunden. Was mußte sie also vermuten? Daß ich sie durch das Bestreiten des Diebstahls für den gebrochenen Eid bestrafen wollte! Aber warum? Offenbar, weil ich von dem Advokaten, an den ich mich nach meiner Angabe vor der Anzeige des Diebstahls wenden wollte, erfahren hatte, daß auch sie und all die anderen in dem Hause dafür verantwortlich gemacht werden würden. Aber hatte sie mir nicht auch gesagt, daß sie gerne dem Skandal die Stirn bieten würde? Dennoch hatte ich es nicht gewollt. Ich hatte vorgezogen, zwölftausend Lire zu opfern. Mußte sie also nicht glauben, daß ich aus Großzügigkeit handelte, der Liebe zu ihr ein Opfer brachte? Das war jene andere Lüge, zu der mich meine Lage zwang: eine widerliche Lüge, da sie mich scheinbar einen überaus zarten Beweis der Liebe erbringen ließ, um so feinfühliger, da er von ihr weder erbeten noch gewünscht war.

Aber nein, nein! Wohin verschlugen mich meine Phantasien? Zu ganz anderen Schlüssen mußte ich gemäß der Logik meiner unvermeidlichen Lüge kommen. Was hieß Großzügigkeit, Opfer, Beweis der Liebe! Durfte ich dem armen Kind noch mehr Hoffnungen machen? Ich mußte meine Leidenschaft ersticken; ich durfte mich weder mit Blicken noch mit einem Liebeswort an Adriana wenden. Und dann? Wie sollte sie meine scheinbare Großzügigkeit mit dem Verhalten in Einklang bringen, das ich mir von nun an ihr gegenüber auferlegen mußte? Jener Diebstahl, den sie gegen meinen Willen enthüllt und den ich in Abrede gestellt hatte, führte mich also gewaltsam dahin, jede Verbindung mit ihr abzubrechen! Was war das für eine Logik! Entweder ich hatte den Diebstahl erlitten, aus welchem Grund zeigte ich dann den Dieb, den ich kannte, nicht an und entzog statt dessen Adriana meine Liebe, gleich als wenn sie mitschuldig war? Oder ich hatte wirklich das Geld wiedergefunden – warum liebte ich sie dann nicht weiter?

Ich fühlte, wie ich vor Übelkeit, vor Zorn und Haß gegen mich selber zu ersticken drohte. Ich konnte ihr doch wenigstens sagen, daß ich nicht aus Großzügigkeit handelte; daß ich den Diebstahl nicht anzeigen konnte. Aber dann mußte ich doch einen Grund angeben. Sollte ich sagen, daß ich ein Verfolgter sei, ein vervehmter Flüchtling, der im Schatten leben muß und nicht das Schicksal einer Frau an das seine knüpfen dürfe? Neue Lügen für das arme Kind ... Konnte ich aber die Wahrheit sagen, die mir jetzt selber unglaublich, als eine abgeschmackte Fabel, ein unsinniger Traum erschien? Um nicht auch jetzt zu lügen, mußte ich gestehen, daß ich immer gelogen hatte! Dazu würde mich die Enthüllung meiner Lage bringen. Zu welchem Zweck? Weder würde es für mich eine Entschuldigung, noch für sie eine Hilfe sein.

Und doch hätte ich, so erbittert wie ich in jenem Augenblick war, Adriana alles gebeichtet, wenn sie, statt die Caporale zu schicken, in eigener Person ins Zimmer getreten wäre, um mir zu erklären, warum sie ihren Schwur nicht gehalten hatte.

Der Grund war mir schon bekannt: Papiano selber hatte ihn mir gesagt. Die Caporale fügte hinzu, daß Adriana untröstlich war.

– Warum? fragte ich mit erzwungener Gleichgültigkeit.

– Weil sie nicht glaubt, daß Sie das Geld wirklich wiedergefunden haben.

Da kam mir der Gedanke der zu meiner Gemütsverfassung, zu dem Widerwillen, den ich vor mir selber empfand, sehr gut paßte, Adriana jede Achtung vor mir verlieren zu lassen. Wenn ich mich ihr als falsch, hart, flatterhaft und gewinnsüchtig hinstellte, mußte ihre Liebe zu mir schwinden. So würde ich mich für das Leid bestrafen, das ich ihr angetan. Für den Augenblick würde ich ihr damit ein neues Weh zufügen; aber mit dem Erfolge, sie endgültig zu heilen.

– Sie glaubt es nicht? Wieso nicht? sagte ich mit einem traurigen Lachen zu der Caporale. Zwölftausend Lire, Signorina ... das ist doch keine Kleinigkeit! Glauben Sie, daß ich so ruhig sein würde, wenn man sie mir tatsächlich gestohlen hätte?

– Aber Adriana hat mir gesagt ...

– Dummheiten! Dummheiten! schnitt ich ab. Es ist wahr, einen Augenblick hatte ich den Verdacht ... Aber ich sagte Fräulein Adriana sofort, daß ich den Diebstahl nicht für möglich halte ... Und so war es tatsächlich! Welche Ursache sollte ich haben, zu behaupten, daß ich das Geld wiedergefunden, wenn es in Wahrheit nicht der Fall wäre? Das Fräulein Caporale zuckte mit den Achseln.

– Vielleicht glaubt Adriana, daß Sie irgendeinen Grund haben ...

– Nein, nein! unterbrach ich schnell. Es handelt sich, ich wiederhole es, um zwölftausend Lire, Signorina! Wären es dreißig, vierzig Lire gewesen ... du lieber Gott! Ich habe keine so edelmütigen Gedanken, glauben Sie es nur ... Zum Teufel! Dazu gehörte ein Held ...

Fräulein Caporale ging, um Adriana meine Worte zu berichten. Ich rang die Hände, ich packte sie mit den Zähnen. Mußte ich mich denn gerade so benehmen? mich dieses Diebstahls bedienen, als wollte ich sie mit dem gestohlenen Geld bezahlen, sie entschädigen für getäuschte Hoffnungen? Wie schändlich war diese meine Handlungsweise! Sie würde vor Zorn schreien, würde mich verachten, ohne zu begreifen, daß ihr Schmerz auch der meine war. Gut, so mußte es sein! Sie mußte mich hassen, verachten, wie ich mich haßte, mich verachtete. Und um ihre Verachtung noch zu verstärken, würde ich mich gegen Papiano, ihren Feind, sehr zartfühlend benehmen, um ihn für den ihm zur Last gelegten Verdacht zu entschädigen! Ja, ja, auch meinen Dieb würde ich auf diese Weise verblüffen, bis schließlich alle glauben würden, ich sei verrückt ... Noch mehr: sollten wir nicht jetzt in das Haus des Marchese Giglio gehen? Gut, ich würde anfangen, der Signorina Pantogada von diesem Tage an den Hof zu machen.

– So wirst du mich noch mehr verachten, Adriana! seufzte ich, mich aufs Bett werfend. Aber was kann ich sonst für dich tun?

Bald nach vier Uhr kam Herr Anselmo und klopfte an meine Zimmertür.

– Ja, sagte ich und warf mir den Mantel über, ich bin fertig.

– Wollen Sie so mitkommen? fragte Paleari und sah mich verwundert an.

– Warum?

Aber schon bemerkte ich, daß ich noch die Reisemütze auf dem Kopf hatte, die ich im Hause zu tragen pflegte. Ich steckte sie in die Tasche und nahm den Hut vom Kleiderständer, während Herr Anselmo lachte.

– Wohin gehen Sie, Herr Anselmo?

– Sehen Sie doch, wie auch ich im Begriff bin auszugehen! antwortete er lachend, während er auf die Pantoffeln an seinen Füßen zeigte. Gehen Sie nur, da ist Adriana ...

– Kommt sie auch mit? fragte ich.

– Sie wollte nicht mitkommen, sagte Paleari, sich in sein Zimmer begebend. Aber ich habe sie überredet. Gehen Sie nur: sie ist im Eßzimmer, sie ist schon fertig ...

Mit welchem harten, vorwurfsvollen Blick empfing mich das Fräulein Caporale. Sie, die soviel durch die Liebe gelitten hatte und sich so oft von dem lieben unwissenden Kind hatte trösten lassen, jetzt, da Adriana sich verwundet fühlte, wollte sie sie trösten, aus Dankbarkeit und Teilnahme. Sie entrüstete sich gegen mich, weil es ihr unrecht schien, daß ich ein so gutes und liebes Geschöpf so leiden ließ. Sie, ja, sie war nicht schön und auch nicht gut, und also konnten die Menschen, wenn sie sich ihr gegenüber schlecht zeigten, wenigstens den Schatten einer Entschuldigung haben. Warum aber der Adriana Schmerzen bereiten?

Das sagte mir ihr Blick, und sie veranlaßte mich, die anzublicken, die ich so leiden machte.

Wie bleich sie war! Man sah es ihren Augen an, daß sie geweint hatte. Wer weiß, welche Überwindung es sie in ihrem Kummer gekostet hatte, sich zu schmücken, um mit mir auszugehen ...

Trotz des Gefühls, mit dem ich mich zu jenem Besuch anschickte, erweckten die Person und das Haus des Marchese Giglio d'Auletta eine gewisse Neugierde in mir.

Ich wußte, daß er sich in Rom aufhielt, weil er für die Wiederherstellung des Königreichs Beider Sizilien kein anderes Mittel sah, als den Kampf für den Triumph der weltlichen Macht. War Rom dem Papst zurückgegeben, so war damit die Einheit Italiens zusammengebrochen, und dann ... Er wollte keine Prophezeiungen wagen, der Marchese. Für den Augenblick war seine Aufgabe entschieden: Kampf ohne Gnade auf dem klerikalen Schlachtfeld. Und sein Haus war häufig besucht von den unversöhnlichsten Prälaten der Kurie, von den glühendsten Paladinen der schwarzen Partei.

An jenem Tage fanden wir niemanden in dem geräumigen, glänzend eingerichteten Saale. Nur in der Mitte stand eine Staffelei, die ein zur Hälfte entworfenes Gemälde trug. Es sollte das Bild der Minerva sein, der kleinen Hündin der Pepita, ganz schwarz, ausgestreckt auf einem weißen Lehnstuhl, den Kopf auf die beiden Vorderpfötchen gelegt.

– Das Werk des Malers Bernaldez, verkündete uns feierlich Papiano, als erfolgte eine Vorstellung, die unsererseits die tiefste Verneigung erforderte.

Zuerst traten Pepita Pantogada und die Gouvernante, Signora Candida, ein.

Beide hatte ich in dem Halbdunkel meines Zimmers gesehen: jetzt, bei Licht, erschien mir das Fräulein Pantogada eine andere, nicht in allem, nur ihre Nase ... War es möglich? Ich hatte sie mir vorgestellt mit einem kleinen nach oben gehenden Näschen, statt dessen hatte sie eine kräftige Adlernase. Aber schön war sie: braun mit funkelnden Augen, blankem Haar, ganz schwarz und wellig; die Lippen fein, scharf, sprechend. Das dunkle, weiß punktierte Kleid saß ihr wie angegossen auf dem schlanken und schönen Körper. Die sanfte blonde Schönheit der Adriana verblaßte neben ihr.

Endlich konnte ich mir erklären, was die Signora Candida auf dem Kopfe trug! Eine prächtige Perücke, rotblond, lockig; über der Perücke ein großes Tuch aus himmelblauer Seide, eigentlich ein Schal, der künstlerisch unter dem Kinn geknüpft war. So lebhaft die Umhüllung war, so düster war das magere und schlaffe Gesicht, obschon weiß gepudert und geschminkt.

Minerva, die alte Hündin, ließ mit ihrem heiseren Gebell gar nicht zu, daß die Honneurs gemacht wurden. Sie bellte nicht uns an; sondern die Staffelei, den weißen Lehnstuhl, die für sie Marterwerkzeuge sein mußten. Bald zog sie sich bellend zurück, sprang zähnefletschend wieder vor und kroch wütend zurück.

Klein, untersetzt, dick auf den vier allzu zierlichen Beinen, war Minerva wirklich ungraziös. Die Augen waren schon vom Alter trübe geworden, die Kopfhaare weiß; auf dem Rücken, an der Wurzel des Schwanzes war sie ganz ohne Haare infolge der Gewohnheit, sich unter Regalen, Querleisten der Stühle und sonstwo wütend zu kratzen. Ich wußte ja etwas davon. Pepita packte sie plötzlich am Hals, und warf sie der Frau Candida in die Arme: Ruhig!

In dem Augenblick trat Don Ignazio Giglio d'Auletta eilig ein. Gebeugt, gleichsam entzwei gebrochen, eilte er zu seinem Lehnstuhl am Fenster. Sobald er sich gesetzt, stellte er den Stock zwischen die Beine, tat einen tiefen Seufzer und lächelte über seine Todesmüdigkeit. Das Gesicht, entkräftet, ganz durchfurcht von wagerechten Runzeln und glattrasiert, war von einer leichenhaften Blässe; die Augen dagegen waren lebendig, glühend, gleichsam jugendlich. Seltsam hingen ihm über Schläfen und Wangen dicke Haarbüschel herab, die wie Strähnen aus feuchter Asche aussahen.

Er empfing uns mit viel Herzlichkeit in seiner scharfen neapolitanischen Betonung. Dann bat er seinen Sekretär mir die Erinnerungen zu zeigen, mit denen der Salon angefüllt war und die seine Treue zur Dynastie der Bourbonen bewiesen. Als wir vor einem kleinen Bild standen, das mit einem grünen Seidentuch verhängt war, worauf in Gold die Inschrift gestickt war: »Ich verberge nicht; ich schütze nur; heb mich hoch und lies«, bat er Papiano, es von der Wand zu nehmen und ihm zu geben. Darunter war, vom Glas geschützt und eingerahmt, ein Brief des Pietro Ulloa, der im September des Jahres 1860, also in den letzten Atemzügen des Königreichs, den Marchese Giglio d'Auletta einlud, in das Ministerium einzutreten, das sich dann nicht bilden konnte. Daneben war der Entwurf des Schreibens von der Annahme des Marchese: ein stolzer Brief, der alle die brandmarkte, welche sich geweigert hatten, in jenem Augenblick der höchsten Gefahr und besorgniserregender Verwirrung angesichts des schon vor den Toren Neapels stehenden Feindes, des Freibeuters Garibaldi, die Verantwortlichkeit für die Macht zu übernehmen.

Als der Alte dieses Dokument mit lauter Stimme vorlas, geriet er so in Begeisterung und Erregung, daß er, obwohl das, was er mir vorlas, meinem Gefühl völlig entgegengesetzt war, mir dennoch Bewunderung erweckte. Auch er war ein Held gewesen. Einen weiteren Beweis dafür erhielt ich, als er selbst mir die Geschichte einer gewissen Lilie aus vergoldetem Holz erzählte, die ebenfalls im Saale vorhanden war. Am Morgen des 5. September 1860 verließ der König den Palast von Neapel in einem kleinen offenen Wagen zusammen mit der Königin und zwei Edelleuten des Hofes. In der Via di Chiaia mußte das Gefährt wegen eines Verkehrshindernisses vor einer Apotheke halten, die auf ihrem Wappen goldene Lilien hatte. Eine Leiter war an das Wappen gelehnt und hinderte den Durchweg. Einige Arbeiter waren hinauf gestiegen und nahmen die Lilien aus dem Wappen. Der König bemerkte es und machte die Königin durch einen Fingerzeig auf diesen Akt feiger Klugheit von seiten des Apothekers aufmerksam, der einst in besseren Zeiten um die Ehre nachgesucht hatte, seinen Laden mit dem königlichen Symbol schmücken zu dürfen. Der Marchese d'Auletta ging in jenem Augenblick zufällig dort vorüber: empört, wütend, stürzte er in die Apotheke, packte den Feigling am Rockkragen, zeigte ihm den König draußen, spie dem Apotheker ins Gesicht und schrie, während er eine der abgenommenen Lilien in der Hand schwang, in das Menschengedränge: »Es lebe der König!«

Diese Lilie aus Holz erinnerte ihn jetzt an jenen traurigen Septembermorgen und an eine der letzten Spazierfahrten seines Herrschers durch die Straßen von Neapel. Er rühmte sich dieser Lilie fast so wie des Goldenen Schlüssels der Kammerherrn, des Wappens als Cavaliere di San Gennaro und sovieler anderer Auszeichnungen, die unter den beiden großen Ölgemälden des Ferdinand und Franz II. seine Person aufs wirkungsvollste vorführten.

Um meinen traurigen Plan auszuführen, ließ ich den Marchese mit Paleari und Papiano bald allein und näherte mich der Pepita.

Ich bemerkte, daß sie sehr nervös und ungeduldig war. Als erstes wollte sie von mir wissen, wie spät es sei.

– Halb fünf? Gut! gut!

Daß es schon halb fünf war, hatte ihr sicher nicht gefallen: das schloß ich aus jenem mit zusammengebissenen Zähnen gesprochenen »Gut! Gut!« und aus ihrer flackernden streitbaren Unterhaltung. Sie wandte sich plötzlich gegen Italien und Rom, das auf Grund seiner Vergangenheit so eingenommen von sich selbst sei. Sie sagte unter anderem, daß sie auch in Spanien ein Colosseum hätten wie wir, von demselben Alter; nur man kümmere sich nicht darum.

– Piedra muerta! Toter Stein!

Für sie sei es nur eine Plaza des toros. Und mehr als alle Meisterwerke der Antike gelte ihr persönlich jenes Bild der Minerva von dem Maler Bernaldez, der noch immer nicht kam. Die Ungeduld der Pepita war auf dem Gipfelpunkt und rührte nur von dem Ausbleiben des Malers her. Sie zitterte beim Sprechen; wie rasend fuhr sie sich ab und zu mit einem Finger über die Nase, biß sich die Lippe, öffnete und schloß die Hände, und die Augen gingen ständig zur Tür.

Endlich wurde Bernaldez vom Kammerdiener gemeldet, er stellte sich vor, erhitzt, in Schweiß gebadet, als wenn er gelaufen wäre. Plötzlich drehte Pepita ihm den Rücken und zwang sich, ein kaltes und gleichgültiges Benehmen zur Schau zu tragen. Als er den Marchese begrüßt hatte und sich wiederum uns, oder besser ihr näherte und sie auf spanisch um Entschuldigung für die Verspätung bat, da konnte sie sich nicht mehr beherrschen und antwortete ihm mit schwindelerregender Schnelligkeit:

– Vor allem sprechen Sie Italienisch, denn hier sind wir in Rom, die Herren hier verstehen kein Spanisch, und es scheint mir nicht höflich, daß Sie mit mir in dieser Sprache reden. Sodann kann ich Ihnen nur sagen, daß mir Ihre Verspätung ganz gleichgültig ist, und daß Sie sich Ihre Entschuldigung sparen können.

Jener, ganz beschämt, lächelte nervös und verbeugte sich; dann fragte er sie, ob er das Malen wieder aufnehmen könne, da noch genügend Licht sei.

– Aber bitte! antwortete sie ihm mit derselben Miene und in demselben Tonfall. Sie können ohne mich malen, auch das Gemalte wieder ausstreichen, wie es Ihnen beliebt.

Manuel Bernaldez verneigte sich und wandte sich an Frau Candida, die noch immer das Hündchen im Arm hielt.

Und nun begann für Minerva die Marter von neuem. Aber einer noch grausameren Marter wurde sein Peiniger unterworfen: Pepita fing an, um ihn für sein Zuspätkommen zu bestrafen, vor mir soviel Koketterie zu entfalten, daß es mir selbst für meinen Zweck zu viel schien. Wenn ich flüchtig einen Blick auf Adriana warf, bemerkte ich, wie sehr sie litt. Die Pein bestand also nicht nur für Bernaldez und Minerva, sondern auch für sie und für mich. Ich fühlte mein Gesicht in Flammen stehen, als ob mich allmählich der Ärger berauschte, den ich wissentlich dem armen jungen Mann verursachte. Ich empfand jedoch kein Mitleid mit ihm: Mitleid erregte mir nur Adriana, und da ich sie leiden lassen mußte, war mir seine Qual gleichgültig. Nach und nach aber wuchs der Zwang, den jeder von uns sich auferlegte, und erreichte eine Höhe, daß er sich irgendwie entladen mußte.

Minerva gab den Vorwand dazu. Da sie heute nicht dem Blick des gnädigen Fräuleins unterworfen war, so hatte sie sich, sobald der Maler die Augen von ihr fort zur Leinwand wandte, ganz leise aus ihrer Zwangsstellung erhoben, steckte die Pfoten und die Schnauze in die Ausbuchtung zwischen Rückenlehne und Sitz des Lehnstuhls, als wenn sie sich dort verbergen wollte, drehte dem Maler ihr Hinterteil zu, schön enthüllt wie ein O, und wedelte wie zum Hohn mit dem graden Schwanze. Mehrere Male hatte Frau Candida sie schon auf ihren Platz zurückgebracht. Bernaldez schnaubte vor Wut; er fing eines meiner Worte im Fluge auf, die ich an Pepita richtete und murmelte Bemerkungen dazu. Mehr als einmal war ich im Begriff, ihn aufzufordern: Sprich laut! Er aber konnte sich schließlich nicht mehr beherrschen und schrie Pepita an:

– Machen Sie doch wenigstens, daß das Vieh ruhig ist!

– Vieh, Vieh, Vieh! ... fuhr Pepita auf, erregt die Hände, in der Luft bewegend. Ein Vieh ist sie wohl, aber man sagt es ihr nicht!

– Wer weiß, wieviel sie davon versteht ..., bemerkte ich als eine Art Entschuldigung, zu Bernaldez gewandt.

Der Satz ließ sich wohl in einem doppelten Sinn deuten; ich merkte es erst, nachdem ich ihn ausgesprochen. Ich wollte sagen: – »Wer weiß, was sie denkt, daß man mit ihr da macht«. Aber Bernaldez nahm meine Worte in einem anderen Sinn und, indem er seine Augen in die meinen bohrte, antwortete er mit äußerster Heftigkeit:

– Was beweist, daß Sie nichts verstehen!

Unter seinem festen und herausfordernden Blick und in der Erregung, in der auch ich mich befand, begann ich:

– Ich weiß, mein Herr, daß Sie ein großer Maler sind ...

– Daß er was ist? fragte der Marchese, der unseren Streit wahrnahm.

Bernaldez hatte jede Herrschaft über sich verloren; er stand auf und stellte sich direkt vor mich:

– Ein großer Maler ... Hören Sie auf!

– Ein großer Maler, ja ... aber von wenig Höflichkeit, scheint mir; Sie machen sogar den Hündchen Furcht, sagte ich entschlossen und verächtlich.

– Gut! Wir werden sehen, ob nur den Hündchen!

Und er zog sich zurück.

Pepita brach unerwartet in ein konvulsives Weinen aus und fiel ohnmächtig in die Arme der Signora Candida und des Papiano.

In der Verwirrung, die entstand, fühlte ich, während ich die Pantogada, auf dem Divan ausgestreckt liegend, betrachtete, mich von einem Arm gepackt und sah mich von neuem dem Bernaldez gegenüber, der zurückgekommen war. Rechtzeitig ergriff ich seine Hand, die er über mich gehoben, und stieß ihn mit aller Gewalt zurück, aber er erhob sie noch einmal gegen mich und streifte fast mein Gesicht. Ich stürzte wütend vor; aber Papiano und Paleari eilten herbei, um mich zu halten, während Bernaldez sich zurückzog.

– Wenn Sie wollen, ich stehe Ihnen zu Diensten! ... Hier kennt man meine Adresse!

Der Marchese hatte sich halb von seinem Lehnstuhl erhoben, er zitterte am ganzen Leibe und wetterte gegen den Angreifer; ich wand mich zwischen Paleari und Papiano, die mich daran hinderten, jenen einzuholen. Auch der Marchese versuchte, mich zu beruhigen; er sagte, als Gentleman müsse ich zwei Freunde schicken, um jenem Flegel, der gewagt hatte, so wenig Achtung vor seinem Hause zu zeigen, eine derbe Lektion zu erteilen.

Am ganzen Körper bebend und atemlos, bat ich ihn kaum um Entschuldigung für den unangenehmen Vorfall, sondern machte, daß ich davon kam, von Paleari und Papiano gefolgt. Adriana blieb bei der Ohnmächtigen, die man hinausgebracht hatte.

Jetzt mußte ich meinen Dieb bitten, daß er mir als Zeuge diene: er und Paleari. An wen hätte ich mich sonst wenden können?

– Ich? rief schneeweiß und verblüfft, Herr Anselmo aus. Aber nein, mein Herr, meinen Sie es im Ernst? Ich verstehe mich nicht auf solche Geschäfte, Herr Meis ... Nein, nein, Kindereien, Dummheiten, entschuldigen Sie ...

– Sie werden es für mich tun, rief ich ihm energisch zu, da ich in diesem Augenblick in keine Erörterungen mit ihm eintreten konnte. Sie werden mit Ihrem Schwiegersohn jenen Herrn aufsuchen und ...

– Ich gehe nicht! Was verlangen Sie! unterbrach er mich. Fordern Sie irgendeinen anderen Dienst von mir: ich bin bereit, ihn zu leisten, aber das, nein. Das ist überhaupt nichts für mich. Ich sagte Ihnen schon: das sind Kindereien! Die braucht man nicht ernst zu nehmen ... was ist dabei ...

– O nein! O nein! rief Papiano dazwischen, als er mich so erregt sah. Es ist klar, Herr Meis ist vollkommen im Recht, eine Genugtuung zu fordern. Ich möchte sogar sagen, daß Sie dazu verpflichtet sind. Sie müssen ... Sie müssen ...

– Sie können doch mit einem Ihrer Freunde gehen, sagte ich, da ich nicht auch von ihm eine Absage beziehen wollte.

Aber Papiano rang betrübt die Hände.

– Sie können sich denken, wie von Herzen gern ich es tun würde!

– Sie tun es auch nicht? rief ich laut mitten auf der Straße.

– Leise, Herr Meis! bat er mich demütig. Sehen Sie ... Hören Sie: denken Sie an meine unglückselige Lage als Subalterner ... als elender Sekretär des Marchese ... Diener, Diener ...

– Was ist da zu denken? Der Marchese selbst – haben Sie es nicht gehört?

– Ja, mein Herr! Aber morgen? Er der Klerikale ... und sein Sekretär, der sich in diese ritterlichen Dinge mischt ... O, heiliger Gott, Sie wissen nicht, was für ein Elend das ist! Und dann, das kokette Mädchen, haben Sie nicht gesehen? Sie ist wie eine Katze in den Maler verliebt, in diesen Betrüger ... Morgen schließen sie wieder Frieden, und dann, wie stehe ich dann da? Ich bin der Hineingefallene. Nehmen Sie Rücksicht, Herr Meis, denken Sie an mich ... Es ist nur deswegen.

– Man will mich also in dieser Not allein lassen? kam es noch einmal in Erbitterung aus mir hervor. Ich kenne niemand hier in Rom!

– ... Aber es gibt ein Mittel! Es gibt ein Mittel! beeilte sich Papiano mir zu helfen. Ich will es Ihnen sofort sagen ... Ich, wie mein Schwiegervater, wir würden uns sehr verlegen dabei fühlen, glauben Sie mir; wir sind unfähig dazu ... Blut ist kein Wasser. Aber wenden Sie sich sofort an zwei Offiziere des königlichen Heeres: die können sich nicht weigern, einen Gentleman wie Sie in einem Ehrenhandel zu vertreten. Sie stellen sich vor, setzen ihnen Ihren Fall auseinander ... Es wird nicht das erste Mal sein, daß sie einen solchen Dienst einem Fremden erweisen müssen.

Wir waren an der Haustür angelangt; ich sagte zu Papiano: Es ist gut! – Dann verließ ich ihn wie seinen Schwiegervater und ging allein weiter, finster, ohne Ziel.

Wieder war der vernichtende Gedanke meiner völligen Ohnmacht vor mich getreten. Konnte ich in meiner Lage ein Duell haben? Wollte ich denn noch immer nicht einsehen, daß ich nichts mehr tun konnte? Zwei Offiziere? Sie würden doch zuerst wissen wollen, und mit Recht, wer ich war. Ins Gesicht speien konnten sie mir, mich ohrfeigen, mich prügeln: ich durfte nur bitten, drauf los zu hauen aber ohne zu schreien, ohne zuviel Lärm zu machen ... Zwei Offiziere! Wenn ich ihnen wirklich meine wahre Lage entdecken wollte, sie würden sie mir gar nicht glauben; wer weiß, was sie vermuten würden. Und glaubten sie mir dennoch, so würden sie mir raten, mich erst wieder lebendig zu machen, denn ein Toter befand sich dem ritterlichen Codex gegenüber nicht in der geziemenden Verfassung ...

Also mußte ich diese Schande ruhig auf mich nehmen, genau wie den Diebstahl? Beschimpft, fast geohrfeigt, herausgefordert, und dann Weggehen wie ein Feigling, im Dunkel des unerträglichen Schicksals verschwinden, das mich voll Haß und Verachtung verfolgte?

Nein! Wie hätte ich noch leben können? Wie mein Leben ertragen? Es war genug, übergenug! Ich blieb stehen. Ich sah, wie alles um mich herum schwankte; ich fühlte, wie mir die Beine den Dienst versagten und dunkle Schauer mich vom Kopf bis zu den Füßen durchrieselten. – Zuerst, phantasierte ich, zuerst wenigstens einmal versuchen ...Warum nicht? Um wenigstens nicht vor mir selber als Feigling dazustehen ... Wenn ich es täte, ... ich würde weniger Ekel vor mir empfinden ... Zu verlieren habe ich nichts mehr ... Warum nicht?

Ich war nur zwei Schritt von dem Café Aragno entfernt. »Da, da, auf zum letzten Einsatz!« Und in der blinden Erregung, die mich spornte, trat ich ein.

In dem ersten Saal saßen an einem Tisch fünf, sechs Artillerie-Offiziere, und, als einer von ihnen, der mich neben ihm verwirrt und zögernd stehen bleiben sah, sich umdrehte und mich anschaute, winkte ich ihm einen Gruß zu und sagte abgebrochen, atemlos:

– Ich bitte, ... entschuldigen Sie ... könnte ich ein Wort mit Ihnen reden?

Es war ein junger bartloser Mensch, der gerade die Akademie verlassen haben mußte, ein Leutnant. Er erhob sich sofort und trat mit großer Höflichkeit auf mich zu.

– Sprechen Sie nur, mein Herr ...

– Gestatten Sie, daß ich mich Ihnen vorstelle: Adriano Meis. Ich bin fremd hier und kenne niemand ... Ich habe einen Streit gehabt ... Ich brauche zwei Kartellträger und weiß nicht, an wen ich mich wenden soll ... Wenn Sie mit einem Ihrer Kameraden ...

Überrascht, unschlüssig stand jener eine Weile da und musterte mich. Dann wandte er sich an seine Kameraden und rief:

– Grigioletti!

Dieser, ein älterer Oberleutnant mit großem Schnurrbart, das Monokel gewaltsam ins Auge geklemmt, geputzt, pomadisiert, erhob sich, noch weiter mit seinen Kameraden plaudernd (er sprach das r nach der französischen Art), und näherte sich uns, eine leichte, abgemessene Verbeugung machend. Als ich ihn aufstehen sah, war ich im Begriff dem Leutnant zu sagen: »Jener, bitte, nein!« Aber sicher war kein anderer aus der Gruppe, wie ich später erkannte, besser für die Angelegenheit geeignet als dieser. Er hatte alle Artikel des ritterlichen Ehrenkodex bei der Hand.

Ich kann hier nicht lang und breit berichten, was er alles über meinen Fall zu sagen beliebte, was er von mir verlangte ... ich sollte telegraphieren, ich weiß nicht, was, noch an wen, sollte den Fall auseinandersetzen, genau erklären, zum Oberst gehen ... ça va sans dire ... so wie er es getan hatte, als er noch nicht unter den Waffen stand und ihm in Pavia dasselbe begegnete ... Weil in dieser Ehrensache ... ja, ja, die Artikel, Präzedenzfälle, Streitfragen und was weiß ich alles ...

Vom ersten Augenblick an, in dem ich ihn gesehen, hatte ich mich auf Dornen sitzen gefühlt: und man stelle sich vor, wie jetzt erst, als ich ihn von diesen Redensarten überfließen sah! Plötzlich konnte ich nicht mehr: alles Blut war mir in den Kopf gestiegen; ich brach los:

– Aber ja, mein Herr! Das weiß ich alles. Es ist ja recht schön, was Sie da sagen. Aber was soll ich denn telegraphieren? Ich bin allein. Ich will mich schlagen. Sofort schlagen, morgen schon, wenn es möglich ist ... ohne große Geschichten! Ich habe mich an Sie gewandt in der Hoffnung, daß nicht soviele Formalitäten, Lappalien und Albernheiten nötig seien. Entschuldigen Sie!

Nach diesem Wutausbruch wurde die Unterhaltung gleichsam ein Wortwechsel und endete unerwartet in einem tollen Gelächter seitens all jener Offiziere. Ich machte, daß ich davon kam, außer mir, mit brennendem Gesicht, als hätte man mir einen Hieb mit der Reitpeitsche versetzt. Ich packte den Kopf mit den Händen, wie um die fliehende Vernunft festzuhalten. Und verfolgt vom Gelächter entfernte ich mich, um mich irgendwo zu verbergen ... Aber wo? Zu Hause? Davor empfand ich einen Schauder. Ich ging wie wahnsinnig weiter. Allmählich verlangsamte ich den Schritt; abgemattet blieb ich stehen, gleich als könnte ich vom Hohn gepeitscht, voll einer bleischwarzen kummervollen Düsternis, die Seele nicht weiter schleppen. Ich blieb eine Weile unbeweglich stehen. Dann ging ich weiter, ohne zu denken, plötzlich seltsam erleichtert von jedem Kummer, gleichsam verdummt. Ich streifte umher, ich weiß nicht wie lange, blieb hier und da stehen, um in die Schaukästen der Läden zu sehen, die man allmählich verschloß. Es kam mir vor, als verschlössen sie sich für mich auf immer; die Straßen entvölkerten sich nach und nach, und ich irrte allein in der Nacht umher, zwischen schweigenden dunklen Häusern, mit verschlossenen Toren und Fenstern, für mich auf ewig verschlossen. Das ganze Leben versank mir wieder, erlosch, verstummte in dieser Nacht; ich sah es wie aus weiter Ferne, als hätte es weder Sinn noch Ziel für mich. Schließlich befand ich mich, ohne es zu wollen, von einem dunklen Gefühl geführt, auf dem Ponte Margherita, wo ich in Gedanken versunken am Brückengeländer lehnte und mit weit aufgerissenen Augen in den nächtlich schwarzen Fluß starrte.

– Hier?

Ein Schauder packte mich, ein Schrecken, der plötzlich wie rasend alle meine Lebensenergien sich empören ließ, mit einem Gefühl wilden Hasses gegen die, welche mich aus der Ferne nach ihrem Willen gezwungen hatten, in dem Mühlengraben von Stia zu enden. Sie, Romilda und die Mutter, hatten mich in diese Not gebracht: o, ich hätte nie daran gedacht, einen Selbstmord zu heucheln, um mich von ihnen zu befreien. Jetzt, nachdem ich zwei Jahre lang wie ein Schatten in dieser Illusion eines jenseitigen Lebens herumgeirrt war, sah ich mich gezwungen, ja an den Haaren herbeigezogen, das Urteil an ihnen zu vollstrecken. Sie hatten mich tatsächlich getötet! Und sie, sie allein hatten sich von mir befreit ...

Ein Zittern der Empörung schüttelte mich. Konnte ich mich denn nicht an ihnen rächen, statt mich zu töten? Wer war es denn, den ich töten würde? Ein Toter ... Niemand ...

Wie von einem seltsamen, unerwarteten Licht geblendet, blieb ich stehen. Mich rächen! Also zurückkehren nach Miragno? Aus dieser Lüge heraustreten, die mich erstickte, die unerträglich geworden war? Lebend zurückkehren zu ihrer Bestrafung, mit meinem eigenen Namen, mit meinen Lebensbedingungen, mit meinem wirklichen ureigensten Unglück? Aber die Gegenwart? Konnte ich sie abschütteln wie eine widerwärtige Bürde? Nein, nein! Ich fühlte, daß ich es nicht vermochte. Und, noch unsicher über mein Schicksal, geriet ich in Raserei.

Ich hatte in der Tasche meines Mantels herumgefühlt und mit unruhigen Fingern ein Etwas zusammengeballt, von dem ich nicht wußte, was es war. Wütend zog ich es hervor. Es war meine Reisemütze, die ich, als wir zum Besuch beim Marchese Giglio gingen, in die Tasche gesteckt hatte. Ach wollte sie in den Fluß werfen, da, im letzten Augenblick blitzte ein Gedanke in mir auf. Eine Überlegung, die ich während der Fahrt von Alenga nach Turin angestellt, kam mir klar in die Erinnerung zurück.

– Hier, sagte ich fast unbewußt zu mir, hier auf diese Brustwehr ... den Hut und den Stock! Ja! So wie da, in dem Mühlengraben der Mattia Pascal; so ich hier, Adriano Meis ... Ein für alle Mal! Ich kehre lebend zurück und werde mich rächen!

Eine Freude, mehr noch, eine Art Wahnsinn durchzuckte mich, hob mich. Natürlich! Ich durfte mich, einen Toten, nicht töten. Jene wahnsinnige, blöde Erfindung mußte ich töten, die mich zwei Jahre lang gequält und gepeinigt hatte, jenen Adriano Meis, der dazu verurteilt war, ein Feigling, ein Lügner, ein elender Wicht zu sein; jenen Adriano Meis, der ein falscher Name war, ein Hirn aus Werg, ein Herz aus Papiermaché, der Adern aus Gummi hatte, in denen statt wirklichen Blutes etwas gefärbtes Wasser fließen mußte. Fort, trauriger, häßlicher Hampelmann! Ertrunken wie Mattia Pascal! Ein für alle Mal! Jenes Schattendasein, hervorgegangen aus einer schrecklichen Lüge, mußte mit einer neuen schrecklichen Lüge würdig beschlossen werden! Damit machte ich alles wieder gut! Welch andere Genugtuung konnte ich auch Adriana geben für das Leid, das ich ihr angetan? Aber durfte ich die Schande des Betruges auf mir sitzen lassen? Er hatte mich zum Verrat gebracht, der Feigling! O ich war ganz sicher, ich hatte keine Furcht vor ihm. Nicht ich, sondern Adriano Meis hatte die Beleidigung empfangen. Und jetzt tötete sich Adriano Meis.

Es gab keinen anderen Ausweg!

Ein krampfhaftes Zittern befiel mich, als ob ich wirklich jemanden töten sollte. Aber im Hirn hatte sich mir plötzlich der Nebel zerstreut, das Herz war leicht, und ich genoß eine beinahe heitere Klarheit des Geistes.

Ich schaute mich um. Ich sagte mir, dort am Lungotevere konnte irgendein Wachtposten sein, der mich vielleicht schon eine Weile auf der Brücke gesehen und mich beobachtete. Ich mußte mich dessen vergewissern. Ich blickte zuerst nach der Piazza della Libertà, dann den Lungotevere dei Mellini entlang. Niemand! Da kehrte ich um. Aber bevor ich auf der Brücke meine Rachetat verübte, blieb ich zwischen den Bäumen unter einer Laterne stehen, riß ein Blatt aus dem Notizbuch und schrieb mit Bleistift darauf: Adriano Meis, Adresse und Datum, das genügte. Das war alles von Adriano Meis, Hut und Stock. Das andere würde ich zu Hause lassen, Kleider, Bücher ... Das Geld hatte ich seit dem Diebstahl bei mir.

Ich kehrte zur Brücke zurück, still, gebeugt. Die Beine zitterten mir, das Herz schlug stürmisch in der Brust. Ich wählte den vom Laternenlicht am wenigsten erhellten Raum, nahm den Hut ab, befestigte am Bande das gefaltete Stück Papier und legte ihn auf die Brustwehr mit dem Stock daneben. Dann setzte ich mir die wie von der Vorsehung gesandte Reisemütze auf, die mich gerettet hatte und eilte, wie ein Dieb den Schatten suchend, davon, ohne mich noch einmal umzudrehen.


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