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11. Abends, den Fluß betrachtend.

Allmählich wie die Vertraulichkeit wuchs infolge der Beachtung und des Wohlwollens, welche mir der Hausherr entgegenbrachte, wuchs auch für mich die Schwierigkeit in Behandlung der geheimen Verlegenheit, die ich schon empfunden hatte und die jetzt akut wurde wie ein Gewissensbiß. Ich war in eine Familie eingedrungen, unter falschem Namen, mit veränderten Gesichtszügen, mit einer fingierten und gleichsam haltlosen Existenz. Und ich nahm mir vor, mich abseits zu halten, soweit es mir möglich sein würde, da ich mir immer vergegenwärtigte, daß ich mich nicht zu sehr dem Leben der anderen nähern durfte, daß ich jede Intimität fliehen mußte.

– Frei! – sagte ich noch; aber schon begann ich die Grenzen meiner Freiheit zu erkennen.

Diese wollte zum Beispiel, daß ich eines Abends an ein Fenster gelehnt stand und den Fluß beobachtete, der schwarz und schweigend zwischen den neuen Dämmen und unter den Brücken dahinfloß, die dort die Lichter ihrer Laternen, zitternd wie Feuerschlangen, widerspiegelten; wollte, daß ich mit der Phantasie dem Lauf jener Wasser folgte von der fernen Quelle in den Apenninen, durch viele Felder hindurch, jetzt quer durch die Stadt, dann von neuem durch die Campagna bis hinab zur Mündung; und in Gedanken stellte ich mir das finstere und wogende Meer vor, in das jene Wasser nach dem langen Lauf sich verloren; und von Zeit zu Zeit öffnete ich den Mund zu einem Gähnen.

Manchen Abend sah ich auf der kleinen Terrasse in der Nähe die kleine Mama in ihrem Schlafrock, damit beschäftigt die Blumentöpfe zu gießen. – Das ist das Leben! – dachte ich. Und mit den Augen folgte ich dem zarten Kinde in seiner liebenswürdigen Sorge, indem ich von Augenblick zu Augenblick darauf wartete, daß es den Blick zu meinem Fenster erhöbe. Aber vergebens. Sie wußte, daß ich dort stand; aber wenn sie allein war, tat sie so, als ob sie es nicht merke.

Jetzt lehnte sie sich, nachdem sie die Gießkanne hingestellt, auf das Geländer der Terrasse und betrachtete den Fluß, vielleicht um mir zu zeigen, daß sie sich ganz und gar nicht um mich kümmerte.

Bei diesem Gedanken lächelte ich in mich hinein, als ich sie dann aber von der Terrasse weggehen sah, überlegte ich, daß ich mich irren konnte, aus dem instinktiven Ärger heraus, den jeder empfindet, wenn er sich nicht beachtet sieht. Und: – Warum übrigens, – fragte ich mich, – sollte sie sich um mich kümmern, ohne Grund mich anreden? Ich hier repräsentiere das Unglück ihres Lebens, den Wahnsinn ihres Vaters, vielleicht repräsentiere ich auch eine Demütigung für sie. Vielleicht beweinte sie auch die Zeit, als ihr Vater noch im Dienst war und nicht nötig hatte, Zimmer zu vermieten und Fremde im Hause zu haben. Und dann einen Fremden wie mich! Vielleicht mache ich ihr gar Furcht, dem armen Kinde, mit diesem Auge und mit dieser Brille ... –

Der Lärm eines Wagens auf der nächsten Holzbrücke riß mich aus jenen Betrachtungen; ich schnaubte ärgerlich und zog mich vom Fenster zurück; betrachtete das Bett, betrachtete die Bücher und wurde etwas unschlüssig zwischen diesen und jenem, dann zuckte ich schließlich mit den Achseln, ergriff den Hut und ging hinaus, in der Hoffnung, mich draußen von jener rasenden Langweile zu befreien.

Ich ging je nach der Eingebung des Moments entweder in die bevölkertsten Straßen oder an einsame Plätze. Ich erinnere mich eines Nachts auf der Piazza San Pietro des Eindrucks eines Traums, eines gleichsam fernen Traums, den ich von jener jahrhundertalten Welt hatte, die dort eingeschlossen lag zwischen den Armen des majestätischen Bogengangs in dem Schweigen, das noch vermehrt schien durch das unaufhörliche Getöse der beiden Springbrunnen. Ich lehnte mich an einen von ihnen, und da schien es mir, als sei nur jenes Wasser lebendig, während all das übrige gleichsam gespensterhaft war und abgrundtief melancholisch in der schweigenden, unbeweglichen Feierlichkeit.

Als ich durch die Via Borgo Nuovo zurückkehrte, traf ich auf einen Betrunkenen, der, als er neben mir vorüberging und mich in Grübeln versunken sah, sich verneigte, den Kopf etwas vorstreckte, um mir von unten herauf ins Gesicht zu sehen, und zu mir sagte, indem er meinen Arm leicht schüttelte:

– Lustig! –

Ich blieb auf der Stelle stehen, überrascht, und musterte ihn vom Kopf bis zu den Füßen.

– Lustig! – wiederholte er, indem er die Aufforderung mit einer Handbewegung begleitete, die bedeutete: »Was machst du? Was denkst du? Kümmere dich um nichts!«

Und er entfernte sich strauchelnd, indem er sich mit einer Hand an der Mauer festhielt.

Zu solcher Stunde und auf jener verlassenen Straße, hier in der Nähe des großen Tempels, von Gedanken erfüllt, die jener in mir hervorgerufen hatte, wurde ich doch durch die Erscheinung jenes Betrunkenen und durch seinen seltsamen liebevollen und philosophisch mitleidigen Rat betroffen: ich blieb eine Weile stehen, ich weiß nicht wie lange, um dem Manne mit den Augen zu folgen; dann brach meine Überraschung in einem törichten Gelächter hervor.

– Lustig! Ja, mein Lieber. Aber ich kann nicht wie du in eine Kneipe gehen, um die Fröhlichkeit, die du mir rätst, auf dem Grunde des Bieres zu suchen. Ich würde sie dort nicht finden können, leider! Noch weiß ich sie woanders zu finden! Ich gehe ins Café, mein Lieber, unter ordentliche Leute, die rauchen und von Politik schwatzen. Wir werden alle fröhlich, ja sogar glücklich sein können unter einer einzigen Bedingung, gemäß einem imperialistischen Advokaten, der mein Café häufig aufsucht: nämlich unter der Bedingung, daß wir von einem guten, absoluten Herrscher regiert werden. Diese Dinge kennst du nicht, armer betrunkener Philosoph; die kommen dir auch nicht in den Sinn. Aber weißt du auch, welches der wahre Grund aller unserer Leiden, all unserer Traurigkeit ist? Die Demokratie, mein Lieber, die Demokratie, das heißt die Regierung der Mehrheit. Denn, wenn die Macht in der Hand eines Einzigen ist, so weiß dieser eine, daß er ein einziger ist und daß er viele zufriedenstellen muß; wenn aber viele regieren, so denken sie nur daran, sich selbst zufriedenzustellen, und so hat man die dümmste und verhaßteste Tyrannei: die als Freiheit maskierte Tyrannei. Aber sicher! O warum, glaubst du wohl, leide ich so? Ich leide gerade an dieser als Freiheit maskierten Tyrannei ... kehren wir nach Hause zurück! –

Aber es war die Nacht der Begegnungen.

Als ich bald danach durch die Via Tordinona fast im Dunklen ging, hörte ich in einer der Gassen, die in diese Straße münden, einen lauten Schrei, der von anderen erstickt wurde. Ganz unerwartet sah ich einen wirren Haufen von Raufbolden hervorstürzen. Es waren vier elende Kerle, mit Knotenstöcken bewaffnet, die über ein gemeines Weib herfielen.

Ich berühre dieses Abenteuer nur im Vorübergehen, nicht um mich einer Heldentat zu rühmen, sondern vielmehr nur um von der Furcht zu erzählen, die ich vor den Folgen derselben empfand. Es ist wahr, zwei von ihnen hatten sich sogar mit Messern auf mich gestürzt. Ich verteidigte mich so gut ich konnte, indem ich mit dem Stock wirbelnd im Kreise herumschlug und immer rechtzeitig bald hierhin, bald dahin sprang, um nicht in die Mitte genommen zu werden. Schließlich gelang es mir, dem Erbittertsten unter ihnen einen gutgezielten Hieb mit dem eisernen Knauf auf den Kopf zu versetzen: ich sah ihn wanken und dann die Flucht ergreifen; die drei anderen folgten ihm, vielleicht befürchtend, daß auf das Geschrei der Frauensperson jemand zu Hilfe eilen würde. Ich weiß nicht, wie es kam, aber ich war an der Stirn verwundet. Ich rief dem Weib, das nicht aufhörte um Hilfe zu schreien, zu, daß sie still sein sollte. Aber als sie mich mit dem blutüberlaufenen Gesicht sah, konnte sie sich nicht mehr beherrschen; weinend und gänzlich zerzaust eilte sie mir zu Hilfe, wollte mir das seidene Taschentuch umwickeln, das sie am Busen trug, und das in der Schlägerei zerrissen worden war.

– Nein, nein, danke, – sagte ich zu ihr, indem ich mit Schauder abwehrte. – Schon gut ... Es ist weiter nichts! Geh nur rasch weiter ... laß dich nicht sehen. –

Und ich begab mich an den kleinen Springbrunnen, der in der Nähe unter der Brückenrampe war, um mir die Stirn abzuwaschen. Aber während ich da stand, kamen auch schon zwei Polizisten atemlos herbei, die wissen wollten, was passiert sei. Sofort fing das Weib, das aus Neapel war, an, von dem Unglück, das mir geschehen war, zu erzählen, indem sie die liebevollsten und bewunderndsten Phrasen ihres mundartlichen Repertoirs über mich ausschüttete. Es kostete viel Mühe, um mich von jenen beiden eifrigen Schutzleuten zu befreien, die mich absolut mit sich nehmen wollten, damit ich den Fall anzeigte. Bravo! Weiter hätte mir nichts gefehlt! Mit der Polizei zu tun haben, jetzt! Am Tage darauf in der Tageschronik quasi als ein Held erscheinen, ich, der ich mich ganz ruhig verhalten mußte, im Schatten, von allen ungekannt ...

Held, richtig, ein Held konnte ich nicht mehr sein. Außer unter der Bedingung, dabei zu sterben ... Aber wo ich doch schon tot war!

 

– Entschuldigen Sie, sind Sie Witwer, Herr Meis? –

Diese Frage richtete eines Abends ganz unerwartet das Fräulein Caporale auf der Terrasse an mich, wo sie sich zusammen mit Adriana befand und wohin sie mich eingeladen hatten, um in ihrer Gesellschaft eine Weile zu verbringen.

Ich war im Moment betroffen und antwortete:

– Ich nein; warum?

– Weil Sie sich mit dem Daumen immer den Ringfinger streichen, wie wenn man einen Ring um den Finger drehen will. So ... Nicht wahr, Adriana? –

Da kann man sehen, wie weit die Augen der Frauen dringen, oder besser, gewisser Frauen, da Adriana erklärte, sie habe es nie bemerkt.

– Du solltest darauf nicht geachtet haben! – rief die Caporale aus.

Ich mußte zugeben, obwohl auch ich nie darauf geachtet hatte, daß es doch möglich war, daß ich jene Angewohnheit hatte.

– Ich habe in der Tat, – sah ich mich gezwungen hinzuzufügen, – eine ganze Zeit hier einen kleinen Ring getragen, den ich dann von einem Goldschmied mußte durchschneiden lassen, weil er mir den Finger zu sehr drückte und mir weh tat.

– Armer kleiner Ring! – seufzte da die Vierzigjährige affektiert, sie war an jenem Abend in der Stimmung kindlicher Ziererei. – War er Ihnen so eng? Wollte er Ihnen nicht mehr vom Finger gehen? Vielleicht war er die Erinnerung an eine ...

– Silvia! – unterbrach sie da die kleine Adriana in vorwurfsvollem Ton.

– Was ist da Schlechtes bei? – fuhr jene fort. – Ich wollte sagen an eine erste Liebe ... Ach, erzählen Sie uns etwas, Herr Meis. Oder wäre es möglich, daß Sie nie davon sprechen dürfen?

– Nun, – sagte ich, – ich dachte an die Schlußfolgerung, die Sie aus meiner Angewohnheit, mir den Finger zu streichen, gezogen haben. Denn die Witwer, wie ich weiß, pflegen den Trauring nicht abzunehmen. Wie es den Veteranen gefällt, sich mit ihren Medaillen zu schmücken, so, glaube ich, dem Witwer, den Ring zu tragen.

– Sieh einer an! – rief die Caporale aus. – Sie verstehen geschickt das Gespräch abzulenken.

– Wieso? Ich wollte vielmehr der Sache auf den Grund gehen!

– Weshalb auf den Grund gehen! Ich gehe niemals einer Sache auf den Grund. Ich habe diesen Eindruck gehabt, und das genügt.

– Daß ich Witwer sei?

– Ja, mein Herr. Scheint es dir nicht auch, Adriana, als sähe Herr Meis so aus? –

Adriana versuchte die Augen zu mir zu erheben, senkte sie aber sogleich wieder, da sie – schüchtern wie sie war – den Blick anderer nicht aushalten konnte. Sie lächelte leise ihr gewohntes mildes und trauriges Lächeln und sagte:

– Was soll ich von dem Aussehen der Witwer verstehn? Du bist merkwürdig! –

Ein Gedanke, ein Bild mußte ihr in diesem Augenblick durch den Sinn gehen; sie geriet in Erregung und betrachtete den Fluß dort unten. Sicher, die andere verstand, warum sie seufzte, und auch sie wandte sich um, und sah auf den Fluß.

Ein Viertes, Unsichtbares hatte sich offensichtlich zwischen uns gedrängt. Schließlich begriff auch ich es, als ich das Kleid der Adriana in Halbtrauer sah, und ich schloß, daß Terenzio Papiano, der Schwager, der sich jetzt in Neapel befand, nicht das Aussehen eines zerknirschten Witwers haben mußte.

Ich gestehe, ich hatte Freude daran, daß jene Unterhaltung so schlecht endete. Der Schmerz, den sie der Adriana mit der Erinnerung an die tote Schwester und an den Witwer Papiano verursachte, war in der Tat für die Caporale die Strafe für ihre Indiskretion.

Doch, um gerecht zu sein, war nicht das, was mir Indiskretion schien, im Grunde eine natürliche und sehr entschuldbare Neugierde, um so mehr, als sie doch notwendig entstehen mußte aus jener Art des seltsamen Schweigens, das um meine Person lag? Und da die Einsamkeit mir nunmehr unerträglich wurde und ich nicht mehr wußte, wie ich der Versuchung mich anderen zu nähern widerstehen sollte, mußte ich alle Fragen jener Anderen, die doch ein gutes Recht darauf hatten, zu wissen, mit wem sie es zu tun hatten, befriedigen. Und ich tats, resigniert, in der bestmöglichen Art, das heißt, indem ich log, indem ich erfand: es gab keinen Mittelweg! Die Schuld hatten nicht die andern, sondern ich; jetzt würde ich sie allerdings durch die Lüge vergrößern. Wenn ich das aber nicht wollte, weil ich darunter litt, mußte ich fortgehen, mußte ich mein verschwiegenes und einsames Vagabundentum wieder aufnehmen.

Ich bemerkte, daß Adriana selber, die niemals eine andere als diskrete Frage an mich richtete, dastand, ganz Ohr, und zuhörte, was ich auf jene Fragen der Caporale antwortete, die, um die Wahrheit zu sagen, oft ein wenig über die Grenzen der natürlichen und entschuldbaren Neugierde hinausgingen.

Dort auf der Terrasse, wo wir uns nun gewöhnlich trafen, wenn ich vom Abendessen zurückkam, richtete sie eines Abends, lachend und sich wehrend gegen die Adriana, die ihr ganz erregt zurief: »Nein, Silvia, ich verbiete es dir! wage es nicht!« die Frage an mich:

– Entschuldigen Sie, Herr Meis, Adriana will wissen, warum Sie sich nicht wenigstens einen Schnurrbart wachsen lassen ...

– Es ist nicht wahr! – rief Adriana. – Glauben Sie es nicht, Herr Meis! Sie ist es im Gegenteil gewesen ... Ich ... –

Und die kleine Mama brach unerwartet in Tränen aus. Sogleich versuchte die Caporale sie zu trösten, indem sie zu ihr sagte:

– Aber was tut das weiter? Was ist da Schlechtes bei? –

Adriana aber stieß sie mit dem Ellbogen zurück:

– Das Schlechteste ist, daß du gelogen hast und mich ärgerst. Wir sprachen von den Schauspielern des Theaters, die alle ... so sind, und da hast du gesagt: » Wie Herr Meis! Wer weiß, warum er sich nicht wenigstens den Schnurrbart wachsen läßt? ... Und ich habe nur wiederholt: » Ja, wer weiß, warum ...«

– Gut, – fuhr die Caporale fort, – wer eben sagt: » Wer weiß warum ...« will damit sagen, daß er es wissen will!

– Aber du hast es zuerst gesagt! – protestierte Adriana auf dem Höhepunkt ihres Ärgers.

– Darf ich antworten? – fragte ich, um die Ruhe wiederherzustellen.

– Nein, entschuldigen Sie, Herr Meis! Guten Abend! sagte Adriana, erhob sich und ging weg.

Aber die Caporale hielt sie an einem Arm zurück:

– Ach, sei doch nicht so dumm! Das ist doch zum Lachen ... Herr Adriano ist so gut, daß er Nachsicht mit uns hat. Nicht wahr, Signor Adriano? Sagen Sie es ihr doch ... warum Sie sich nicht wenigstens den Schnurrbart wachsen lassen. –

Diesmal lachte Adriana, noch Tränen in den Augen.

– Weil es ein Geheimnis ist, – antwortete ich da, die Stimme scherzhaft verändernd. – Ich bin ein Verschworener!

– Daran glauben wir nicht! – rief die Caporale mit demselben Ton; dann aber fügte sie hinzu: – Aber hören Sie, daß Sie düster und verschlossen sind, läßt sich nicht in Zweifel ziehen. Was haben Sie zum Beispiel heute Nachmittag auf der Post zu tun gehabt?

– Ich auf der Post?

– Ja, mein Herr! Leugnen Sie es? Ich habe Sie mit meinen eigenen Augen gesehen. Gegen vier Uhr ... Ich ging gerade über die Piazza San Silvestro ...

– Sie werden sich geirrt haben, Fräulein. Das war ich nicht.

– Ja, ja, – sagte die Caporale ungläubig. – Geheime Korrespondenz ... Nicht wahr, Adriana, warum empfängt dieser Herr niemals Briefe zu Haus? Mir hat es das Dienstmädchen gesagt, wir passen auf! –

Adriana wurde aufgeregt, ärgerlich, auf ihrem Stuhl.

– Geben Sie ihr nicht recht, – sagte sie zu mir, indem sie mir einen raschen Blick zuwarf, traurig und fast liebkosend.

– Weder zu Haus, noch auf der Post! antwortete ich.

– Es ist leider wahr. Niemand schreibt mir, Fräulein, aus dem einfachen Grunde, weil ich niemand mehr habe, der mir schreiben könnte.

– Nicht einmal einen Freund? Ists möglich? Niemand?

– Niemand. Ich und mein Schatten sind nur hier auf der Erde. Ich habe ihn spazieren geführt, diesen Schatten, unaufhörlich, hierhin und dahin, und habe mich niemals bisher so lange an einem Orte aufgehalten, daß ich eine dauernde Freundschaft hätte schließen können.

– Sie Glücklicher, – rief da die Caporale aus, seufzend, – der Sie Ihr ganzes Leben haben reisen können! Erzählen Sie uns wenigstens etwas von Ihren Reisen, wenn Sie nicht von anderem sprechen wollen. –

Nachdem ich nach und nach die Klippen der ersten, in Verlegenheit setzenden Fragen überwunden hatte, indem ich einige davon mit den Rudern der Lüge vermied und mich mit beiden Händen an jene klammerte, die mich mehr aus der Nähe bedrängten, um sie ganz allmählich in kluger Weise zu umgehen, konnte der Nachen meiner Erdichtung schließlich auf offene See gehen und die Segel der Phantasie hissen.

Und jetzt empfand ich nach einem Jahr und mehr des erzwungenen Schweigens, eine große Freude daran, zu sprechen, jeden Abend dort auf der Terrasse zu sprechen von dem, was ich gesehen, von den Beobachtungen, die ich gemacht, von den Zwischenfällen, die mir da und dort begegnet waren. Ich wunderte mich selbst, soviel Eindrücke auf den Reisen gesammelt zu haben, welche das Schweigen gleichsam in mir begraben hatte, und die jetzt, wo ich sprach, wieder zum Leben erwachten, mir lebendig von den Lippen sprangen. Diese innere Verwunderung gab meiner Erzählung eine ganz besondere Farbe; aus der Freude, welche die beiden Frauen beim Zuhören mir zu erkennen gaben, erwuchs mir allmählich das Bedauern an ein verlorenes Gut, das ich damals in Wirklichkeit gar nicht genossen hatte; und auch aus diesem Bedauern zog jetzt meine Erzählung ihre Würze.

Nach einigen Abenden waren die Haltung und das Benehmen der Signorina Caporale mir gegenüber von Grund aus verändert. Die traurigen Augen wurden ihr noch schwerer von einem so intensiven Schmachten, daß sie mehr denn je in mir das Bild von dem inneren Gleichgewicht aus Blei hervorriefen, und komischer denn je erschien der Kontrast zwischen ihnen und dem Gesicht der Karnevalsmaske. Es war kein Zweifel daran: die Signorina Caporale war in mich verliebt!

Aus dem lächerlichen Erstaunen, daß ich dabei empfand, merkte ich indessen, daß ich an all diesen Abenden gar nicht für sie, sondern für jene andere gesprochen hatte, die immer nur schweigend zugehört hatte. Augenscheinlich jedoch hatte jene andere auch gemerkt, daß ich für sie allein sprach, da sich sofort zwischen uns gleichsam ein verschwiegenes Einverständnis einstellte, uns gemeinsam zu erfreuen an der komischen und unvorhergesehenen Wirkung meiner Reden auf die sensiblen sentimentalen Saiten der vierzigjährigen Klavierlehrerin.

Aber mit dieser Entdeckung entstand kein anderer, denn reiner Gedanke in mir für Adriana: ihre reine Güte mit Traurigkeit gemischt konnte keine anderen inspirieren; ich empfand aber große Freude an jenem ersten Vertrauen, welches die zarte Schüchternheit ihr zugestand. Bald war es ein flüchtiger Blick wie der Blitz süßester Anmut, bald ein Lächeln des Mitleids für die lächerliche Hoffnung jener armen Frau; bald war es irgendein wohlwollender Verweis, den sie mir mit den Augen und mit einer leichten Kopfbewegung gab, wenn ich zu unserem heimlichen Vergnügen jener zu viel Hoffnung gab, die bald in den Himmeln der Glückseligkeit schwebte, bald durch einen unerwarteten und heftigen Stoß meinerseits gänzlich umgewandelt war.

– Sie müssen nicht viel Herz haben, – sagte mir einmal die Caporale, – wenn das wahr ist, was Sie sagen und was ich nicht glaube, daß Sie bis jetzt unversehrt durch das Leben gegangen sind.

– Unversehrt? Wie?

– Ja, ich meine, ohne Leidenschaften zu erliegen ...

– Oh nie, Signorina, niemals!

– Sie haben uns jedoch nicht sagen wollen, woher Ihnen jener Ring gekommen war, den Sie sich von einem Goldschmied hatten durchschneiden lassen, weil er Ihnen den Finger zu sehr drückte ...

– Er tat mir weh! Habe ich es Ihnen nicht gesagt? Aber gewiß! Er war eine Erinnerung an meinen Großvater, Signorina!

– Lüge!

– Wie Sie wollen! Aber hören Sie, ich kann Ihnen sogar sagen, daß der Großvater mir jenen Ring in Florenz geschenkt hatte, als wir aus der Galerie der Uffizien kamen, und wissen Sie, warum? Weil ich, der ich damals zwölf Jahre alt war, einen Perugino mit einem Raffaello verwechselt hatte. So geschah es. Als Belohnung für diesen Irrtum gab er mir den Ring, den er in einem der Schaukästen auf dem Ponte Vecchio gekauft hatte. Der Großvater glaubte nämlich in der Tat, ich weiß nicht aus welchen Gründen, fest daran, daß jenes Bild des Perugino dem Raffael zugeschrieben werden mußte. So erklärt sich das Geheimnis! Sie werden verstehen, daß zwischen der Hand eines Knaben von zwölf Jahren und dieser meiner Hand ein Unterschied besteht. Sehen Sie? Jetzt bin ich ganz so, wie diese Hand, die keine zierlichen Ringe trägt. Das Herz dazu hätte ich vielleicht; aber ich bin auch gerecht, Signorina; ich betrachte mich im Spiegel mit diesem schönen Brillenpaar, das doch teilweise so jämmerlich ist, und ich fühle mir die Arme sinken: – »Wie kannst du beanspruchen, mein lieber Adriano, – sage ich zu mir selbst, – daß irgendein Weib sich in dich verliebt?«

– Ach was für Gedanken! – rief die Caporale aus. – Aber glauben Sie gerecht zu sein, wenn Sie so reden? Es ist im Gegenteil sehr ungerecht gegen uns Frauen. Weil die Frau, lieber Herr Meis, großmütiger ist als der Mann und nicht wie dieser nur auf die äußere Schönheit achtet.

– Sagen wir auch, daß die Frau noch mutiger ist als der Mann, Signorina. Weil ich zugebe, daß außer der Großmütigkeit auch noch eine gute Dosis Mut dazu gehören würde, um einen Menschen wie mich, wahrhaft zu lieben.

– Aber gehen Sie! Sie finden direkt Geschmack daran, sich häßlicher zu machen als Sie sind.

– Das ist wahr. Und wissen Sie warum? Um bei niemand Mitleid zu erwecken. Sehen Sie, wenn ich versuchen wollte, mich irgendwie zu putzen, würde ich damit ausdrücken: »Sieh dir einmal jenen armen Mann an: er gibt sich der trügerischen Hoffnung hin, mit jenem Bart weniger häßlich zu erscheinen!«

Das Fräulein Caporale tat einen tiefen Seufzer.

– Ich sage, daß Sie unrecht haben, – erwiderte sie dann. – Wenn Sie dagegen versuchen würden, sich zum Beispiel ein wenig den Bart wachsen zu lassen, so würden Sie sofort bemerken, daß Sie nicht ein solches Monstrum sind, wie Sie sagen.

– Und dieses Auge hier? – fragte ich.

– Oh mein Gott, da Sie mit solcher Unbefangenheit davon reden, – meinte die Caporale, – ich hatte es Ihnen schon vor einigen Tagen sagen wollen: warum unterziehen Sie sich nicht, entschuldigen Sie, einer heute sehr leichten Operation? Wenn Sie wollten, könnten Sie sich in kurzer Zeit auch von diesem kleinen Fehler befreien.

– Sehen Sie, Signorina? – schloß ich. – Es ist so, daß die Frau großmütiger als der Mann ist; aber ich mache Sie darauf aufmerksam, daß Sie mich nach und nach dazu beredet haben, mir ein anderes Gesicht zusammenzustellen.

Warum hatte ich so sehr auf diesem Gespräch bestanden? Wollte ich eigentlich, daß mir die Caporale hier in Gegenwart der Adriana geradeheraus sagte, daß sie mich lieben würde, mich vielmehr auch schon so liebte, ganz glatt rasiert und mit jenem aus der Richtung geratenen Auge? Nein. Ich hatte soviel gesprochen und alle jene detaillierten Fragen an die Caporale gerichtet, weil ich das vielleicht unbewußte Vergnügen bemerkt hatte, das Adriana bei den treffenden Antworten empfand, die ich ihr gab.

So verstand ich, daß sie mich trotz meines absonderlichen Gesichts würde lieben können. Ich sagte es nicht einmal mir selbst; aber von jenem Abend an schien mir das Bett, das ich in jenem Hause hatte, weicher; alle Gegenstände, die mich umgaben, liebenswürdiger; die Luft, die ich atmete, leichter; der Himmel blauer, die Sonne glänzender. Ich glaubte, daß die Veränderung darum eingetreten sei, weil Mattia Pascal dort in der Mühle von Stia geendet war, und weil ich, Adriano Meis, nachdem ich eine Zeitlang in jener neuen unbegrenzten Freiheit herumgeirrt war, schließlich das Gleichgewicht erlangt und das Ideal erreicht hatte, das ich mir gesteckt: einen anderen Menschen aus mir zu machen, ein anderes Leben zu leben, das ich jetzt voll in mir fühlte.

Und mein Geist wurde wieder heiter wie in der ersten Jugend und verlor das Gift der Erfahrung. Selbst der Herr Anselmo Paleari schien mir nicht mehr so lästig: der Schatten, der Nebel, der Dunst seiner Philosophie waren dahingeschwunden vor der Sonne meiner neuen Freude.

Und ich nahm mir vor, gegen das arme Fräulein Caporale nicht mehr grausam zu sein. Ich nahm es mir vor; aber ohne es zu wollen, war ich es um so mehr, je weniger ich es wollte. Meine Leutseligkeit wurde neuer Zunder für ihr leichtes Feuer. Und es ergab sich: daß das arme Weib bei meinen Worten erbleichte, während Adriana errötete.

Die Seelen haben eine ihnen eigentümliche Art sich gegenseitig zu verstehen, in Intimität zu treten, bis sie einander das Du geben, während unsere Personen behindert sind im Verkehr mit den gebräuchlichen Worten, in der Sklaverei der sozialen Forderungen. Sie haben ihre eigenen Bedürfnisse, die Seelen, und ihre eigenen Ziele, um die sich der Körper nicht kümmert, wenn er die Unmöglichkeit sieht, jene zu befriedigen und diese in eine Handlung umzusetzen. Und jedesmal, wenn zwei, die so nur seelisch miteinander in Verbindung stehen, sich irgendwo allein befinden, fühlen sie eine ängstliche Verwirrung und gleichsam einen heftigen Widerwillen gegen jeden auch den geringsten körperlichen Kontakt, ein Ungemach, das sie voneinander entfernt, und das sofort aufhört, sobald ein Dritter dazukommt. Ist dann die Angst vorüber, so suchen sich die beiden Seelen erleichtert und lächeln einander von neuem aus der Ferne zu.

Wieviel Mal erfuhr ich das nicht mit Adriana! Aber die Verlegenheit, die sie empfand, war dann für mich die Wirkung einer natürlichen Hemmung und der Schüchternheit ihrer Gemütsart, die meine aber glaubte ich aus den Gewissensbissen herleiten zu müssen, welche die ständige Heuchelei meines Wesens mir verursachte, zu der ich aber angesichts der Unschuld und Naivität jenes lieben und sanften Geschöpfes gezwungen war.

Von nun an sah ich sie mit anderen Augen. Aber hatte sie sich nicht in der Tat seit einem Monat verändert? Brannten nicht jetzt ihre flüchtigen Blicke von einem lebhaften inneren Licht?

Ja, vielleicht gehorchte auch sie instinktiv demselben Bedürfnis wie ich, sich nämlich die Illusion eines neuen Lebens zu geben, ohne wissen zu wollen, in welcher Art und Weise. Ein vager Wunsch, wie ein Hauch der Seele, hatte für sie wie für mich langsam ein Fenster der Zukunft geöffnet, von wo ein Strahl der berauschenden warmen Luft zu uns drang, ein Fenster, dem wir uns indessen nicht zu nähern wagten, weder um es wieder zu schließen, noch um zu sehen, was jenseits davon lag.

Aber die arme Signorina Caporale fühlte die Wirkungen dieser unserer reinen und süßen Trunkenheit.

– O wissen Sie, Signorina, – sagte ich eines Abends zu ihr, – daß ich halb und halb schon entschlossen bin, Ihrem Rat zu folgen? –

– Welchem? – fragte sie mich.

– Mich von einem Augenarzt operieren zu lassen. –

Die Caporale schlug die Hände zusammen, ganz glücklich.

– O sehr gut! Der Doktor Ambrosini! Nehmen Sie den Ambrosini: er ist der tüchtigste. Er hat meine arme Mama am grauen Star operiert. Siehst du, siehst du, Adriana, daß der Spiegel gesprochen hat? Was sagte ich dir? –

Adriana lächelte, und ich lächelte auch.

– Nicht der Spiegel, Signorina, – sagte ich jedoch. – Das Bedürfnis hat sich fühlbar gemacht. Seit einer Weile tut mir das Auge auf dieser Seite weh: es hat mir nie gut gedient, jedoch ich möchte es nicht verlieren. –

Es war nicht wahr: recht hatte sie, die Signorina Caporale. Der Spiegel, der Spiegel hatte gesprochen und mir gesagt, daß wenn eine verhältnismäßig leichte Operation jenes schändliche und so besondere Kennzeichen des Mattia Pascal aus dem Gesicht verschwinden machen könnte, Adriano Meis auch auf die blaue Brille würde verzichten und sich einen Bart zulegen können, kurz sich überhaupt körperlich den veränderten Bedingungen des Geistes aufs beste anpassen.

 

Einige Tage danach sollte mich eine nächtliche Szene, der ich hinter der Jalousie einer meiner Fenster verborgen beiwohnte, ganz unerwartet stören.

Die Szene spielte sich auf der Terrasse ab, wo ich mich bis gegen zehn Uhr in Gesellschaft der beiden Damen aufgehalten hatte. Ins Zimmer zurückgekehrt hatte ich etwas zerstreut angefangen, eines der Lieblingsbücher des Herrn Anselmo über die Reinkarnation zu lesen. Mit einem Mal schien mir, als hörte ich auf der Terrasse sprechen: ich lauschte, um mich zu vergewissern, ob es Adriana wäre. Nein. Zwei sprachen dort mit leiser Stimme, aufgeregt: ich hörte eine männliche Stimme, die aber nicht die des Paleari war. Aber im Hause waren keine anderen Männer als er und ich. Neugierig gemacht, näherte ich mich dem Fenster, um durch die Gucklöcher der Jalousie zu blicken. Im Dunkel glaubte ich die Signorina Caporale erkennen zu können. Aber wer war jener Mann, mit dem sie sprach? War etwa Terenzio Papiano unerwartet von Neapel gekommen?

Aus einem Wort, das die Caporale etwas lauter sprach, entnahm ich, daß sie von mir redeten. Der andere zeigte sich durch die Auskunft gereizt, welche die Klavierlehrerin ihm über mich gab; sie aber versuchte, den Eindruck abzuschwächen, den diese Auskünfte in der Seele des Anderen hervorgerufen hatten.

– Reich? – fragte jener mit einem Mal.

Darauf die Caporale:

– Ich weiß nicht ... Scheinbar! Sicher ist, daß er von seinem Geld lebt, ohne etwas zu tun ...

– Immer zu Haus?

– O nein! Aber morgen wirst du ihn sehen ... –

Sie sagte genau so: wirst du ihn sehen. Also duzte sie ihn; also war der Papiano (es war kein Zweifel mehr) der Liebhaber der Signorina Caporale ... Aber wie hatte sie sich dann in all diesen Tagen mir gegenüber so willfährig gezeigt?

Meine Neugierde wurde lebhafter denn je; aber gleichsam absichtlich fingen die beiden an, sehr leise zu sprechen. Da ich mir nicht mehr mit den Ohren helfen konnte, versuchte ich es mit den Augen. Da sah ich, wie die Caporale eine Hand auf die Schulter des Papiano legte. Dieser aber stieß sie bald darauf unhöflich fort.

– Aber wie konnte ich es verhindern? – sagte jene, indem sie in heftiger Erbitterung die Stimme ein wenig erhob. – Wer bin ich? Was stelle ich in diesem Hause vor?

– Ruf mir Adriana! – befahl jener.

Als ich den Namen Adriana mit solchem Ton ausgesprochen hörte, ballte ich die Fäuste und fühlte mir das Blut durch die Adern brennen.

– Sie schläft, – sagte die Caporale.

Und jener drohend:

– Geh, wecke sie! Sofort!

Ich weiß nicht, wie ich mich soweit beherrschen konnte, die Jalousie nicht aus Wut aufzureißen.

Ich spähte von neuem.

Die Caporale war nicht mehr auf der Terrasse. Der Andere, allein geblieben, betrachtete den Fluß, mit beiden Ellbogen auf die Brustwehr gestützt und den Kopf in den Händen.

Gepackt von einer rasenden Angst, gebeugt, die Knie mit den Händen pressend, erwartete ich, daß Adriana auf der Terrasse erschiene. Das lange Warten ermüdete mich gar nicht, regte mich vielmehr allmählich auf und verschaffte mir eine lebhafte und wachsende Genugtuung: ich nahm an, daß Adriana nicht der Gewalttätigkeit jenes Flegels nachgeben wollte. Und inzwischen verzehrte sich jener dort auf der Terrasse vor Bosheit. Ich hoffte mit einem Mal, daß die Lehrerin kommen möchte und sagen, Adriana habe nicht aufstehen wollen. Aber nein, da war sie!

Papiano ging ihr sofort entgegen.

– Gehen Sie zu Bett! – gebot er der Signorina Caporale. – Lassen Sie mich hier mit meiner Schwägerin sprechen. –

Jene gehorchte, und dann wollte Papiano die Läden zwischen dem Speisezimmer und der Terrasse schließen.

– Durchaus nicht! – sagte Adriana, einen Arm gegen den Fensterladen streckend.

– Aber ich habe mit dir zu reden! – fuhr der Schwager los in seiner düsteren Art, indem er sich zwang leise zu sprechen.

– Sprich doch! Was willst du mir sagen? – antwortete Adriana. – Du hättest auch bis morgen warten können.

– Nein! Jetzt! – entgegnete er, indem er sie an einem Arm ergriff und sie an sich zog.

– Fort! – schrie Adriana, sich stolz losmachend.

Ich konnte mich nicht mehr beherrschen: ich öffnete die Jalousie.

– O, Herr Meis! – rief sie da plötzlich. – Wollen Sie ein wenig herkommen, wenn es Ihnen nicht unangenehm ist?

– Gern, Signorina! – beeilte ich mich zu antworten.

Das Herz sprang mir in der Brust hoch vor Freude, vor Dankbarkeit; mit einem Satz war ich auf dem Korridor: da aber neben der Tür meines Zimmers fand ich wie eine Schlange zusammengerollt auf einem Koffer einen schmächtigen jungen Mann, sehr blond, mit langem Antlitz, in dem sich ein Paar blauer, schmachtender, erstaunter Augen öffnete. Ich hielt einen Moment überrascht inne und betrachtete ihn; dann eilte ich zur Terrasse.

– Darf ich Ihnen vorstellen, Herr Meis, – sagte Adriana, – mein Schwager Terenzio Papiano, der eben aus Neapel gekommen ist.

– Sehr erfreut! Sehr erfreut! – rief jener aus, den Hut voll Ehrerbietung ziehend und mir warm die Hand drückend. – Es tut mir leid, daß ich die ganze Zeit von Rom abwesend war; aber ich bin sicher, daß meine kleine Schwägerin verstanden haben wird, für alles zu sorgen, nicht wahr? Wenn Ihnen etwas fehlen sollte, sagen Sie es nur, sagen Sie alles, wissen Sie! Wenn Sie zum Beispiel einen geräumigen Schreibtisch brauchen sollten ... oder irgendeinen anderen Gegenstand, sagen Sie es ohne Umstände ... Uns liegt daran, die Gäste, die uns beehren, zufrieden zu stellen.

– Danke, danke, – sagte ich. – Es fehlt mir überhaupt nichts. Danke.

– Aber wenn es mal nötig ist! Bedienen Sie sich ruhig meiner in allen Angelegenheiten ... Adriana, meine Tochter hatte geschlafen: geh nur wieder ins Bett zurück, wenn du willst ...

– So! – sagte Adriana, traurig lächelnd, – jetzt, wo ich gerade aufgestanden bin ... –

Und sie näherte sich der Brustwehr, um den Fluß zu betrachten.

Ich fühlte, daß sie mich nicht mit jenem allein lassen wollte. Was fürchtete sie? Sie blieb, in Gedanken versunken, während der Andere, noch den Hut in der Hand, mir von Neapel erzählte, wo er sich länger hatte aufhalten müssen, als er vorausgesehen hatte, um eine große Zahl von Dokumenten aus dem Privatarchiv der erlauchten Herzogin Donna Teresa Ravaschieri Fieschi zu kopieren. Der Mama Herzogin, wie alle sie nennen, Mama Caritá, wie er sie hätte nennen wollen. Es waren Dokumente von außerordentlichem Wert, die neues Licht über das Ende der Herrschaft der beiden Sizilien werfen würden und vornehmlich über die Gestalt des Gaetano Filangieri, des Fürsten von Satriano, den der Marchese Giglio, Don Ignazio Giglio d'Auletta, dessen Sekretär er, Papiano, war, in einer ausführlichen und treuen Biographie berühmt zu machen beabsichtigte. In einer treuen Biographie, das heißt, wenigstens soweit die Ergebenheit und Treue zu den Bourbonen es dem Herrn Marchese erlauben würde.

Er freute sich an der eigenen Redegabe, gab beim Sprechen der Stimme als erfahrener Philodramatiker einen gewissen Tonfall, hob hier etwas durch ein Lachen hervor und da durch eine ausdrucksvolle Geste.

– Ach leider! – rief Papiano mit seiner Baritonstimme zum Schluß – er war Bourbone und Klerikaler, der Marchese Giglio d'Auletta! Und ich, ich, der ... (ich darf es nur leise sagen, sogar hier in meinem Hause), der ich jeden Morgen vor dem Weggehen mit der Hand die Statue Garibaldis auf dem Gianicolo grüße (haben Sie sie gesehen? Dort erhebt sie sich sehr schön); ich, der ich jeden Augenblick rufen möchte: »Es lebe der 20. September!«, ich muß sein Sekretär sein! Ein hochwürdiger Mann, allerdings! Aber Bourbone und Klerikaler. Ja, mein Herr ... Das Brot! Ich schwöre Ihnen, oft möchte ich darauf spucken, verzeihen Sie! Das bleibt mir in der Kehle stecken, das erstickt mich ... Aber was kann ich dazu tun? Brot! Brot! –

Zweimal zuckte er mit den Achseln, hob die Arme und schlug sich die Hüften.

– Hinauf, hinauf, kleine Adriana! – sagte er dann, eilte zu ihr und faßte sie leicht mit beiden Händen um die Taille: – Ins Bett! Es ist spät. Der Herr wird müde sein. –

Vor der Tür zu meinem Zimmer drückte mir Adriana die Hand, so fest, wie sie es nie bisher getan. Als ich allein war, hielt ich lange die Faust zusammengepreßt, wie um den Druck ihrer Hand zu bewahren. Die ganze Nacht blieb ich in Gedanken und kämpfte mit Händen und Füßen gegen die Raserei. Die zeremonielle Heuchelei, die schmeichlerische und geschwätzige Liebedienerei und die böswillige Gesinnung jenes Menschen würde mir sicherlich den weiteren Aufenthalt in diesem Hause unmöglich machen, das er – daran war kein Zweifel – tyrannisieren wollte, indem er die Gutmütigkeit des Schwiegervaters ausnutzte. Wer weiß, zu was für Künsten er greifen würde! Eine Probe davon hatte er mir schon gegeben, als er sich bei meinem Erscheinen unversehens veränderte. Warum aber betrachtete er es mit so bösen Augen, daß ich in jenem Hause logierte? Warum war ich für ihn nicht ein Mieter wie irgendein anderer? Was hatte ihm die Caporale über mich gesagt? Konnte er im Ernst eifersüchtig auf die da sein? Oder war er auf eine andere eifersüchtig? Dieses sein arrogantes und argwöhnisches Handeln, daß er die Caporale fortgeschickt hatte, um mit Adriana allein zu sein, mit der er in so heftiger Art zu reden begonnen; die Auflehnung der Adriana; daß diese ihm nicht erlaubt hatte, die Läden zu schließen; die Erregung, von der sie ergriffen worden war jedesmal wenn sie den abwesenden Schwager erwähnte; all das bekräftigte in mir den Verdacht, daß er Absichten auf sie hatte.

Und wenn schon, warum ärgerte ich mich so sehr darüber?

Wollte ich nicht zuguterletzt aus diesem Hause fortziehen, wenn jener da mich auch nur im geringsten belästigte? Was hielt mich? Nichts. Aber mit der zartesten Genugtuung erinnerte ich mich, daß sie mich von der Terrasse aus gerufen hatte, wie von mir beschützt zu sein, und daß sie mir am Ende die Hand gedrückt, so stark ...

Ich hatte die Jalousie offen gelassen. Da mit einem Mal zeigte sich der sinkende Mond im Rahmen meines Fensters, gleich als wollte er mich ausspionieren, als wollte er mich noch wach im Bett überraschen und mir sagen:

– Ich habe verstanden, mein Lieber, ich habe verstanden! Wirklich?


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