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9. Ein wenig Nebel.

Den ersten Winter, obwohl er streng, regnerisch und neblig war, hatte ich fast nicht gemerkt bei den Zerstreuungen der Reise und in der Trunkenheit der neuen Freiheit. Dieser zweite jetzt überraschte mich nun schon etwas müde, wie ich sagte, des Herumstreifens und entschlossen, mir einen Zügel anzulegen. Und ich bemerkte, daß ... ja, es war etwas Nebel; und es war kalt; ich bemerkte, daß, so sehr mein Geist sich auch widersetzte, seine Beschaffenheit von der Farbe der Zeit zu nehmen, ich dennoch darunter litt.

– Aber sieh zu, – hielt ich mir vor, – daß es nicht wolkiger wird, damit du deine Freiheit heiter genießen kannst! –

Ich hatte mich genügend unterhalten, war hierhin und dahin geeilt: Adriano Meis hatte in jenem Jahre seine leichtsinnige Jugend gehabt; jetzt mußte er ein Mann werden, sich sammeln, sich eine ruhige und bescheidene Lebensgewohnheit bilden. Oh, es würde ihm leicht sein, frei wie er war und ohne Verpflichtungen irgendwelcher Art!

So schien es mir; und ich begann darüber nachzudenken, in welcher Stadt es mir passen würde, meinen Wohnsitz zu nehmen, denn wie ein Vogel ohne Nest konnte ich nicht länger bleiben, wenn ich mir wirklich eine reguläre Existenz verschaffen wollte. Aber wo? In einer großen Stadt oder in einer kleinen? Ich konnte mich nicht entschließen.

Ich schloß die Augen und floh in Gedanken zu jenen Städten, die ich schon besucht hatte; von der einen zu der anderen, indem ich in jeder so lange blieb, bis ich die und die Straße, den und den Platz oder Ort genau wiedersah, kurz, an die ich die lebhafteste Erinnerung bewahrt hatte. Und ich sagte:

– Gut, dort bin ich gewesen! Jetzt, wieviel Leben mir auch entflieht, möge es weiter sich tummeln hier und da in der verschiedensten Form! Und doch, in wieviel Orten habe ich gesagt: »Hier möchte ich ein Haus haben! Wie gern möchte ich hier wohnen!« Und ich habe die Bewohner beneidet, die ruhig, mit ihren Gewohnheiten und den ihnen vertrauten Beschäftigungen dort verweilen konnten, ohne jenen peinlichen Gedanken der Unsicherheit zu haben, der das Gemüt dessen, der reist, in der Schwebe hält. –

Dieser peinliche Gedanke der Unsicherheit hielt mich noch immer und ließ mich nicht einmal das Bett gern haben, auf das ich mich zum Schlafen niederlegte, und die verschiedenen Gegenstände, die um mich herum standen.

Jeder Gegenstand pflegt sich in uns umzugestalten gemäß den Bildern, die er hervorruft und sozusagen um sich gruppiert. Gewiß, ein Gegenstand kann auch durch sich selbst gefallen, durch die Verschiedenheit der angenehmen Empfindungen, die er in einer harmonischen Wahrnehmung hervorruft; aber viel häufiger findet sich das Vergnügen, das ein Gegenstand uns verschafft, nicht in dem Gegenstand an sich. Die Phantasie verschönert ihn, indem sie ihn mit lieben Bildern umgibt und gleichsam bestrahlt. Wir aber sehen ihn nicht mehr so, wie er ist, sondern so, wie er gleichsam belebt ist von den Bildern, die er in uns wachruft oder die unsere Gewohnheiten ihm hinzufügen. Kurz, in dem Gegenstand lieben wir das, was wir von uns hineinlegen, den Akkord, die Harmonie, die wir zwischen ihm und uns bestimmen, die Seele, die jener von uns allein erwirbt und die von unseren Erinnerungen gebildet wird.

Wie konnte mir all das nun in einem Gastzimmer geschehen?

Aber ein Haus, mein Haus, ganz mein, würde ich es haben können? Mein Geld war knapp ... Aber ein kleines bescheidenes Häuschen von ein paar Zimmern? Langsam: man mußte sehen, so vielerlei vorher gut überlegen. Sicher, frei, ganz frei, konnte ich nur so sein, mit dem Koffer in der Hand: heute hier, morgen da. Aber fest an einem Ort, Hauseigentümer, und dann: plötzlich Registrierungen und Steuern! Und würde man mich nicht ins Einwohnermeldeamt eintragen? Aber sicher! Und wie? Mit einem falschen Namen? Und dann, wer weiß? Vielleicht geheime Nachforschungen nach mir von seiten der Polizei? ... Kurzum, Scherereien, Verwirrungen! ... Nein, weiter: ich sehe voraus, daß ich nicht mehr mein eigenes Haus, meine eigenen Gegenstände haben kann. Aber ich würde mich in irgendeiner Familie, in einem möblierten Zimmer mit Pension einmieten können.

Der Winter, der Winter gab mir diese melancholischen Reflexionen ein, das nahe Weihnachtsfest, welches die laue Luft eines trauten Winkels wünschen läßt, die Sammlung, die Intimität des Hauses.

Sicher hatte ich jene meines Hauses nicht zu beweinen. Die andere, die ältere des väterlichen Hauses, die einzige, deren ich mich mit Bedauern erinnern konnte, war schon seit geraumer Zeit zerstört und nicht erst seit meinem neuen Zustand. So konnte ich mich also zufrieden geben, mit dem Gedanken, daß ich nicht froher gewesen wäre, wenn ich zwischen meiner Frau und meiner Schwiegermutter – ich schaudere! – das Weihnachtsfest in Miragno verlebt hätte.

Um zu lachen, um mich zu zerstreuen, stellte ich mir inzwischen vor, wie ich mit einem Stollen unter dem Arm vor der Tür meines Hauses stand.

»– Verzeihung! Wohnen hier noch die Damen Romilda Pescatore, Witwe Pascal und Marianne Dondi, Witwe Pescatore?

»– Ja, mein Herr. Aber wer sind Sie?«

»– Ich wäre der selige Gatte der Signora Pascal, jener arme Ehrenmann, der voriges Jahr gestorben ist, ertrunken. Ich komme rasch von der anderen Welt, um die Festtage in der Familie zu verbringen mit Erlaubnis der Oberen. Ich gehe sogleich wieder fort!« –

Würde die Witwe Pescatore, wenn sie mich so unversehens wiedersähe, vor Schreck sterben? Was! Sie? Man stelle sich vor! Sie würde mich nach zwei Tagen wieder haben sterben lassen.

Mein Glück – ich mußte mich davon überzeugen – mein Glück bestand gerade darin: daß ich mich von meiner Frau, von meiner Schwiegermutter, von den Schulden, dem demütigenden Kummer meines ersten Lebens befreit hatte. Jetzt war ich frei von all dem. Genügte mir das nicht? Und weiter, ich hatte noch ein ganzes Leben vor mir. Für den Augenblick – wer weiß, wie viele ebenso einsam waren wie ich!

– Ja, aber diese, – verleitete mich das schlechte Wetter, dieser vermaledeite Nebel zu folgern, – sind entweder Fremde und haben anderswo ein Heim, zu dem sie an einem oder dem anderen Tage zurückkehren können, oder wenn sie kein Heim haben wie du, so können sie morgen eins haben, und inzwischen haben sie irgendein Obdach bei einem Freund. Du dagegen wirst, um es zu sagen, immer und überall ein Fremdling sein: das ist der Unterschied. Fremdling des Lebens, Adriano Meis. –

Ich schüttelte mich gelangweilt und rief aus:

– Nun schön! Weniger Verwicklungen. Habe ich keine Freunde? Ich werde welche haben können ... –

Schon in dem Gasthaus, wo ich in diesen Tagen verkehrte, hatte sich ein Herr, mein Tischnachbar, geneigt gezeigt, mit mir Freundschaft zu schließen. Er mochte etwa vierzig Jahre alt sein: kahlköpfig ja und nein, braun, mit goldner Brille, die ihm nicht gut auf der Nase saß, vielleicht wegen des Gewichts des Goldkettchens. Ach, und doch ein so lieber kleiner Mann! Man stelle sich vor, daß, wenn er sich erhob und den Hut auf den Kopf setzte, er plötzlich ein anderer schien: er sah aus wie ein kleiner Junge. Der Fehler lag an den Beinen, die so klein waren, daß sie nicht einmal bis auf den Boden reichten, wenn er saß: eigentlich erhob er sich gar nicht vom Sitzen, sondern stieg vielmehr vom Stuhl herab. Diesem Fehler versuchte er abzuhelfen, indem er hohe Absätze trug. Was ist Schlimmes dabei? Ja, sie machten zuviel Lärm, diese Absätze; aber sie machten dafür die kleinen Rebhühnertritte so anmutig befehlerisch.

Er war sehr tüchtig, geistreich – vielleicht ein wenig wunderlich und unbeständig – aber mit eigenen, originellen Ansichten; und auch Cavaliere war er.

Er hatte mir seine Visitenkarte gegeben: – Cavaliere Tito Lenzi.

Diese Visitenkarte machte mich nicht wenig unglücklich wegen der schlechten Figur, die ich glaubte gemacht zu haben, als ich ihm nicht die meine dafür geben konnte. Ich hatte noch keine Visitenkarten: ich hatte eine gewisse Scheu davor empfunden, mir Karten mit meinem neuen Namen drucken zu lassen. Kleinigkeiten! Kann man vielleicht nicht darauf verzichten, sich Visitenkarten machen zu lassen? Man gibt seinen Namen mündlich, und damit gut.

So machte ich es; aber, um die Wahrheit zu sagen, mein wirklicher Name ... genug!

Was für hübsche Unterhaltungen der Cavaliere Tito Lenzi zu führen verstand! Auch Latein konnte er; Cicero zitierte er wie nichts.

– Das Bewußtsein? Aber das Bewußtsein dient zu nichts, lieber Herr! Das Bewußtsein als Führer kann nicht genügen. Vielleicht würde es genügen, aber nur wenn es eine Burg wäre und nicht ein Platz, sozusagen; das heißt, wenn es uns gelingen würde, uns ganz isoliert zu erfassen und wenn es nicht seiner Natur nach für die anderen offen stünde. Kurz, in dem Bewußtsein ist nach meiner Meinung eine wesentliche Beziehung vorhanden ... ganz sicher eine wesentliche, zwischen mir, der ich denke, und den anderen Wesen, die ich denke. Und also ist es nicht ein Absolutes, das sich selbst genügt, so erkläre ich es mir. Wenn die Gefühle, die Neigungen, die Geschmacksrichtungen dieser anderen, die ich denke oder die Sie denken, sich nicht in mir oder in Ihnen spiegeln, so können wir weder zufrieden, noch ruhig, noch froh sein. Es ist nur zu wahr, daß wir alle kämpfen, weil unsere Gefühle, unsere Gedanken, unsere Neigungen, unsere Geschmacksrichtungen sich in dem Bewußtsein der anderen widerspiegeln. Und wenn das nicht geschieht, weil ... sagen wir so ... die Luft des Augenblicks sich nicht eignet, die Keime zu übertragen und treiben zu machen, mein Herr, die Keime ... die Keime Ihres Gedanken in dem Geiste der anderen, so können Sie nicht sagen, daß Ihr Bewußtsein Ihnen genügt. Wozu genügt es Ihnen? Genügt es Ihnen, allein um zu leben? Um im Schatten unfruchtbar zu werden? Weiter, weiter! Hören Sie, ich hasse die Rhetorik, die alte prahlerische Lügnerin, die Eule mit der Brille. Die Rhetorik sicherlich hat diese schöne Phrase gebildet: » Ich habe mein Bewußtsein und das genügt mir.« Jawohl! Cicero hatte zuerst gesagt: Mea mihi conscientia pluris est quam hominum sermo. Cicero jedoch, sagen wir die Wahrheit, Rhetorik, Rhetorik ... Gott behüte mich davor, lieber Herr! Langweilig, lästig, mehr noch als ein Anfänger auf der Geige! –

Ich hätte ihn küssen können. Wenn dieser liebe kleine Herr nur nicht bei den scharfsinnigen und gedankenreichen Diskursen hätte beharren wollen, wovon ich eine Probe habe geben wollen. Er fing an vertraulich zu werden, und da empfand ich, der ich unsere Freundschaft schon für leicht und gut eingeleitet hielt, plötzlich eine gewisse Verlegenheit, fühlte in mir gleichsam eine Gewalt, die mich zwang, mich zu entfernen, mich zurückzuziehen. Solange er sprach und die Unterhaltung sich um unbestimmte Argumente drehte, ging alles gut; dann aber wollte der Cavaliere Tito Lenzi, daß ich auch spräche.

– Sie sind nicht aus Mailand, nicht wahr?

– Nein ...

– Auf der Durchreise?

– Ja ...

– Schöne Stadt Mailand, he?

– Schön, ja ... –

Ich glich einem abgerichteten Papagei. Und je mehr seine Fragen mich bedrängten, desto mehr entfernte ich mich mit meinen Antworten. Und gar bald war ich in Amerika. Aber wie der kleine Mann erfuhr, daß ich in Argentinien geboren war, da sprang er vom Stuhl herab und drückte mir heiß die Hand:

– Ach, ich beglückwünsche Sie, lieber Herr! Ich beneide Sie! Ach, Amerika ... Ich bin da gewesen. –

War er da gewesen? Entfliehe!

– In diesem Fall, – beeilte ich mich ihm zu sagen, – muß ich vielmehr Sie beglückwünschen, der Sie dagewesen sind, weil ich eigentlich fast sagen könnte, daß ich nicht da gewesen bin, obschon ich von da gebürtig bin. Ich bin nämlich mit wenig Monaten fortgekommen, so daß also meine Füße eigentlich gar nicht den amerikanischen Boden berührt haben!

– O wie schade! – rief der Cavaliere Tito Lenzi traurig aus. – Aber Sie werden da drüben Verwandte haben, nehme ich an!

– Nein, niemand ...

– Ah, dann sind Sie also mit der ganzen Familie nach Italien gekommen und haben sich hier niedergelassen? Wo haben Sie Wohnung genommen? –

Ich zuckte mit den Achseln:

– Ach! – seufzte ich, wie auf Kohlen sitzend, – hier etwas, da etwas ... Ich habe keine Familie, ich ... ich reise herum!

– Was für ein Vergnügen! Sie Glücklicher! Reisen ... Sie haben wirklich niemand?

– Niemand ...

– Was für ein Vergnügen! Sie Glücklicher! Ich beneide Sie!

– Sie haben also Familie? – fragte ich ihn nun meinerseits, um das Gespräch von mir abzulenken.

– O nein, leider! – seufzte er da, die Stirn runzelnd. – Ich bin allein und bin immer allein gewesen!

Also wie ich! ...

– Aber ich langweile mich, lieber Herr! ich langweile mich! – platzte der kleine Herr heraus. – Für mich ist die Einsamkeit ... nun ja, schließlich, ich bin sie satt. Ich habe viele Freunde; aber glauben Sie mir nur, es ist gerade nichts Schönes, in einem gewissen Alter später, nach Hause zu gehen und niemand zu finden. Es gibt Leute, die es verstehen, und solche, die es nicht verstehen, lieber Herr. Viel schlechter steht der da, der es versteht, weil er sich am Ende ohne Energie und Willen findet. Wer es versteht, sagt in der Tat: – »Ich darf dieses nicht tun, ich darf jenes nicht tun, um nicht diese oder jene Dummheit zu begehen.« – Sehr gut! Aber mit einem Male bemerkt er, daß das ganze Leben eine Dummheit ist, und nun sagen Sie mir, was es bedeutet, keine einzige begangen zu haben: es bedeutet zum wenigsten nicht gelebt zu haben, lieber Herr.

– Aber Sie, – versuchte ich ihn zu trösten, – Sie sind ja noch in dem Alter, glücklicherweise ...

– Die Dummheit zu begehen? Aber ich habe schon so viele begangen, glauben Sie mir nur! – antwortete er mit eitler Geste und einem Lächeln. – Ich bin gereist, herumgefahren wie Sie ... Abenteuer, Abenteuer ... auch viele seltsame und pikante ... ja, ja, sind mir begegnet. Warten Sie, zum Beispiel in Wien, eines Abends ...

Ich fiel aus den Wolken. Wie! Liebesabenteuer, er? Drei, vier, fünf in Österreich, in Frankreich, in Italien ... auch in Rußland? Und was für Abenteuer! Eins immer kühner als das andere ... Hier, um eine andere Probe zu geben, ein Stück Dialog zwischen ihm und einer verheirateten Frau:

Er: – He, daran zu denken, ich weiß es, liebe Frau ... den Gatten zu verraten. Mein Gott! Die Treue, die Ehrbarkeit, die Würde ... drei große heilige Worte mit soviel Inhalt. Und dann: die Ehre! ein anderes gewaltiges Wort ... Aber, in der Praxis, glauben Sie mir, liebe Frau, ist es etwas anderes: eine Sache des kleinsten Augenblicks! Fragen Sie Ihre Freundinnen danach, die es gewagt haben.

Die verheiratete Frau: – Ja; und sie alle haben dann eine große Enttäuschung erfahren!

Er: – Das möchte ich sehen! Aber versteht sich! Weil sie, gehindert, zurückgehalten durch jene häßlichen Worte, ein Jahr, sechs Monate, viel zuviel Zeit gebraucht haben, um sich zu entschließen. Und die Enttäuschung kommt gerade infolge des Mißverhältnisses zwischen der Bedeutung der Tat und dem zu vielen Nachdenken, das man sich darüber gemacht. Man muß sich sofort entschließen, liebe Frau! Ich denke es und tue es! Das ist so einfach!

Es genügte ihn zu beobachten, nur ein wenig seine kleine, winzige, lächerliche Person zu betrachten, um zu bemerken, daß er log, ohne andere Beweise zu brauchen.

Dem Erstaunen in mir folgte eine tiefe demütigende Scham für ihn, der sich keine Rechenschaft gab von der jämmerlichen Wirkung, die natürlich seine Aufschneidereien hervorbringen mußten, und auch Scham für mich, der ich ihn mit solcher Unbefangenheit und solchem Geschmack lügen sah, wo er es doch wirklich nicht nötig gehabt hätte; während ich, der ich nicht darauf verzichten konnte, mich abmühte und darunter litt, soweit, daß ich jedesmal fühlte, wie meine Seele sich innerlich wand.

Demütigung und Arger. Es überkam mich, seinen Arm zu packen und ihm zuzuschreien:

– Aber, Cavaliere, entschuldigen Sie, warum? warum? –

Aber die Demütigung und der Ärger waren so vernünftig und natürlich gewesen, daß ich, wohl überlegend, bemerkte, wie dumm zumindest jene Frage gewesen wäre. In der Tat, wenn jener liebe Herr so in Aufregung geriet, um mich an seine Abenteuer glauben zu machen, so lag der Grund nur darin, daß er überhaupt nicht zu lügen nötig hatte, während ich ... ich aus Notwendigkeit dazu gezwungen war. Kurz, was für ihn also ein Vergnügen und gleichsam die Ausübung eines Rechtes bedeutete, war für mich im Gegenteil lästige Pflicht, ein Fluch.

Und was folgte aus dieser Überlegung? Ach, daß ich, unvermeidlich verurteilt aus meiner Lage heraus zu lügen, nie mehr einen Freund, einen wahren Freund würde haben können. Und also weder Heim noch Freunde ... Freundschaft bedeutet Vertraulichkeit, und wie konnte ich irgend jemand das Geheimnis meines Lebens ohne Namen und ohne Vergangenheit anvertrauen, das wie ein Pilz aus dem Selbstmord des Mattia Pascal emporgeschossen war? Ich konnte nur oberflächliche Beziehungen haben, konnte mir nur mit meinesgleichen einen kurzen Austausch fremder Worte erlauben.

Nun gut, das waren eben die Übelstände meines Glückes. Geduld! Sollte ich deswegen den Mut verlieren?

– Ich werde mit mir und von mir leben, wie ich bis jetzt gelebt habe! –

Ja, aber, um die Wahrheit zu sagen, ich befürchtete, daß ich mit meiner Gesellschaft nicht zufrieden sein würde. Und dann, wenn ich mein Gesicht berührte und mich bartlos entdeckte, wenn ich mit einer Hand über meine langen Haare strich oder die Brille auf der Nase zurechtrückte, dann empfand ich einen seltsamen Eindruck: es schien mir, als sei ich nicht mehr ich, ich berührte mich nicht mehr selber.

Seien wir gerecht, ich hatte mich so nur für die anderen hergerichtet, nicht für mich. Mußte ich so maskiert auch mir gegenüberstehen? Und wenn all das, was ich von Adriano Meis erdichtet und ersonnen hatte, nicht für die anderen dienen sollte, für wen sollte es dann dienen? Für mich? Ich aber konnte, wenn überhaupt je, nur unter der Bedingung daran glauben, daß die anderen daran glaubten.

Wenn jetzt dieser Adriano Meis nicht den Mut hatte zu lügen, sich mitten ins Leben hineinzuwagen, sich abschloß und in seinen Gasthof zurückging, müde sich in jenen traurigen Wintertagen allein auf den Straßen von Mailand zu sehen, und wenn er sich in die Gesellschaft des toten Mattia Pascal einschloß, so sah ich voraus, daß meine Sachen bald schlecht gehen würden; kurz, daß kein Vergnügen auf mich wartete, und daß mein schönes Glück dann ...

Aber die Wahrheit war vielleicht die: daß es mir in meiner unbegrenzten Freiheit schwer glückte, in irgendeiner Weise mit dem Leben zu beginnen. Im Begriff einen Entschluß zu fassen, fühlte ich mich wie zurückgehalten, glaubte überall Schatten und Hindernisse zu sehen.

Und siehe, ich wagte mich von neuem hinaus auf die Straßen, beobachtete alles, bei jeder Kleinigkeit blieb ich stehen, betrachtete lange die geringsten Dinge. Müde trat ich in ein Café, las irgendeine Zeitung, beobachtete die Leute, die ein- und ausgingen; schließlich ging ich auch hinaus. Aber das Leben, wenn man es so betrachtete, als fremder Zuschauer, schien mir jetzt ohne Sinn und ohne Ziel. Ich fühlte mich in diesem Durcheinander der Menschen verloren. Und währenddessen betäubte mich der Lärm und das unaufhörliche Gären der Stadt.

– O warum, – fragte ich mich selbst, rasend – mühen sich die Menschen so ab, um das Triebwerk ihres Lebens immer komplizierter zu machen? Warum dieser betäubende Lärm der Maschinen? Und was wird der Mensch tun, wenn die Maschinen alles tun werden? Wird man dann einsehen, daß der sogenannte Fortschritt nichts mit dem Glück zu schaffen hat? Was haben wir an allen Erfindungen, mit denen die Wissenschaft glaubt, die Menschheit zu bereichern (aber sie macht sie nur ärmer, weil die Erfindungen so teuer sind), im Grunde für eine Freude, auch wenn wir sie bewundern? –

Am Tage zuvor war ich in der elektrischen Bahn einem armen Manne begegnet, einem von jenen, die nicht umhin können, den anderen all das mitzuteilen, was ihnen durch den Sinn geht.

– Was für eine schöne Erfindung! – hatte er mir gesagt. – Für zwei Soldi fahre ich in wenig Minuten durch halb Mailand.

Er sah nur die beiden Soldi für die Fahrt, jener arme Teufel, aber er dachte nicht daran, daß seine geringe Löhnung dabei ganz und gar drauf ging und ihm nicht zur Existenz genügte, mitten in jenem tosenden Leben mit der elektrischen Bahn, dem elektrischen Licht usw. usw.

Nur die Wissenschaft, dachte ich, hat die Illusion, das Dasein leichter und bequemer zu machen! Aber, selbst angenommen, daß sie es wirklich leichter macht mit all ihren so schwierigen und komplizierten Maschinen, so frage ich doch: Und welchen schlechteren Dienst kann man einem, der zu nutzlos eitler Mühe verurteilt ist, noch erweisen, als ihm das Leben leicht und fast mechanisch zu machen? –

Ich ging wieder in den Gasthof zurück.

Dort war auf einem Korridor, in der Höhlung eines Fensters hängend, ein Vogelbauer mit einem Kanarienvogel. Da fing ich an mit ihm, mit dem Kanarienvogel, zu sprechen, denn mit den anderen wußte ich nicht, was ich reden sollte. Ich machte ihm sein Singen mit den Lippen nach, und er glaubte wahrhaftig, daß irgendeiner ihm antwortete, und hörte zu, und vielleicht entnahm er aus meinem Gepiepse neue liebe Nachricht von Nestern, Blättern und Freiheit ... Er wurde unruhig im Käfig, flog empor, sprang, blickte quer, das kleine Köpfchen drehend, dann antwortete er mir, fragte, hörte wieder zu. Armes Vögelchen! Er, ja, er verstand mich, während ich nicht verstand, was ich mit den anderen gesprochen hatte ...

Und geschieht uns Menschen nicht auch etwas Ähnliches? Glauben wir nicht auch, daß die Natur zu uns spricht? Und scheint es uns nicht, als ob wir einen Sinn in ihren geheimnisvollen Stimmen vernehmen, eine Antwort gemäß unseren Wünschen auf die sorgenvollen Fragen, die wir an sie richten? Die Natur jedoch hat in ihrer unendlichen Größe vielleicht nicht die entfernteste Ahnung von uns und unserer eitlen Illusion.

Aber seht nur, zu welchen Schlüssen ein vom Müßiggang suggerierter Scherz einen Menschen führen kann, der verurteilt ist, mit sich allein zu leben! Ich hätte mich ohrfeigen können. War ich ernstlich im Begriff, ein Philosoph zu werden?

Nein, nein, mein Betragen war nicht logisch. So konnte ich es nicht länger aushalten. Ich mußte jede Hemmung überwinden und, koste es, was es wolle, einen Entschluß fassen.

Kurz, ich mußte leben, leben, leben.


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