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1. Voraussetzung.

Eine der wenigen Sachen, vielmehr vielleicht die einzige, die ich sicher wußte, war, daß ich Mattia Pascal hieß. Und das nutzte ich aus. Jedesmal, wenn einer meiner Freunde oder Bekannten den gesunden Menschenverstand bis zu dem Grade verloren zu haben schien, daß er wegen irgendeines Rats oder Winks zu mir kam, zuckte ich die Achseln, schloß die Augen halb und antwortete ihm:

– Ich heiße Mattia Pascal.

– Danke, mein Lieber. Das weiß ich.

– Und das scheint dir wenig? –

Um die Wahrheit zu sagen, es schien nicht viel, auch mir nicht. Aber ich wußte damals nicht, was es heißen wollte, wenn ich auch das nicht wüßte, wenn ich auch das nicht mehr antworten könnte wie früher, falls es nötig sein sollte:

– Ich heiße Mattia Pascal. –

Irgendwer wird mich beklagen wollen (das kostet ja so wenig), indem er den herben Schmerz eines Unglücklichen dazu erfindet, dem es passiert, daß er auf einmal entdeckt ... ja, nichts, schließlich weder Vater, noch Mutter, weder wie er war, noch wie er nicht war. Und irgend jemand wird sich wohl entrüsten (das kostet ja noch weniger) über die Sittenverderbnis, über die Laster, die Traurigkeit der Zeiten, die für einen armen Unschuldigen Ursache solchen Leides sein können.

Gut denn. Aber es ist meine Pflicht, ihn davon in Kenntnis zu setzen, daß es sich eigentlich gar nicht um so etwas handelt. Ich könnte wirklich durch einen genealogischen Stammbaum den Ursprung und die Deszendenz meiner Familie darlegen und beweisen, wie ich nicht nur meinen Vater und meine Mutter gekannt habe, sondern auch meine Vorfahren und während eines langen Zeitraums ihre Handlungen, die wahrhaftig nicht alle lobenswert waren.

Und dann?

Ja, mein Fall ist sehr viel seltsamer und ganz andersartig, so anders und seltsam, daß ich mich daran machen werde, ihn zu erzählen.

Ich war für etwa zwei Jahre, ich weiß nicht ob mehr als Mäusejäger denn als Hüter der Bücher, in der Bibliothek tätig, die ein Monsignor Boccamazza im Jahre 1803 unsrer Gemeinde sterbend überlassen hatte. Es ist klar, daß dieser Monsignore die Natur und die Gewohnheiten seiner Mitbürger wenig gekannt haben muß; oder ich hoffe, daß seine Hinterlassenschaft mit der Zeit und der Bequemlichkeit in ihren Gemütern die Liebe zum Studium hätte entzünden müssen. Bis jetzt kann ich nur das Zeugnis ablegen, sie ist nicht entflammt worden: und das sage ich zum Lobe meiner Mitbürger. Vielmehr zeigte sich die Gemeinde dem Boccamazza so wenig dankbar für sein Geschenk, daß sie ihm nicht einmal irgendeine Büste errichten wollte; und die Bücher ließ man viele viele Jahre lang in einem geräumigen und feuchten Magazin aufgestapelt, aus dem man sie, – man denke sich in welchem Zustand, – hervorzog, um sie in der kleinen abgelegenen Kirche Santa Maria Liberale unterzubringen, die aus irgendeinem Grunde entweiht worden war. Dort vertraute man sie, ohne irgendwelche Unterscheidung, als Benefiz oder als Sinekure irgendeinem gutprotegierten Faulpelz an, der sie für zwei Lire täglich behütete oder eigentlich, ohne sie überhaupt zu behüten, nur für einige Stunden den Geruch von Moder und alten Sachen zu ertragen hatte.

Ein solches Los fiel auch mir zu. Und vom ersten Tage an faßte ich eine so niedrige Meinung von Büchern, ganz gleich ob sie nun gedruckt waren oder nur Manuskripte (wie einige sehr alte unsrer Bibliothek), daß ich jetzt nie und nimmer angefangen hätte zu schreiben, wenn ich nicht wie schon gesagt, meinen Fall wirklich für seltsam gehalten hätte. Und so seltsam, daß er irgendeinem neugierigen Leser als Lehre dienen könnte, der durch Zufall, indem er somit schließlich die alte Hoffnung jener guten Seele, des Herrn Boccamazzo, verwirklichte, in diese Bibliothek käme, der ich dieses mein Manuskript überlasse mit der Bedingung jedoch, daß niemand es öffnen dürfe, bevor nicht fünfzig Jahre nach meinem dritten, letzten und definitiven Tode vergangen sind.

Da ich nun in diesem Augenblick (und Gott weiß, wie leid es mir tut) tot bin, ja schon zweimal tot bin, aber das erste Mal infolge eines Irrtums und das zweite Mal ... doch ihr sollt es hören.


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