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Siebtes Kapitel

Der »Wall« war seit einigen Jahren zu einer engen Gasse zusammengeschrumpft, die sich ganz schüchtern unter dem Chausseedamm hinzog, nur noch ein trauriges Überbleibsel seiner glorreichen Zeit.

An seine Stelle war der ›Grund‹ getreten, wie der Bezirk seit alter Zeit hieß, und im stillen froh, wieder einen festen Beobachtungspunkt zu haben, pflegte man ihn mit derselben Milde, wie einst diesen.

Die Kramergasse war die Pulsader des »Grundes«. Im »Wall« war man der Sklave der Not und des Verbrechens, jetzt war man heller geworden und machte es umgekehrt, jetzt machte man die Not und das Verbrechen zu Sklaven und zog seinen Gewinn daraus.

Trödelei, Versatz, Schnaps und Dirnen vereinigten sich hier zu einer trefflichen Genossenschaft, deren Arbeitseinteilung bewundernswert war.

Nur einige Meter breit, glich die Kramergasse mit ihrem zu Bergen getürmten Allerlei einem Pandämonium des Elends, das hier kaufend und verkaufend sich um seine eigenen Trümmer stritt, nach neuer leidensvoller Wanderung immer wieder dahin zurückkehrte.

Mitten in der Gasse sprang ein einstöckiges Haus noch einen Meter vor, so daß der Durchweg sich noch mehr verengte. Dieses Haus konnte als der Typus der Kramergasse gelten, so vereinigte es in sich alle ihre Eigenarten, und die buntbemalten aufdringlichen Schilder, mit denen sein verfallener, schlechtgepflegter Körper bis unter das Dach bedeckt war, bildeten die richtigen Herrscherinsignien für die Kramergasse.

Die Destillation mit höchst verführerischer Anlage nahm den Vorbau ein, der jedem Passanten förmlich den Weg vertrat. Trödelei und Versatz füllten in einträchtiger Ergänzung den übrigen Teil bis unter das Dach.

Christian Ferrol stand in leuchtend roten Buchstaben quer über der ganzen Front, und darunter, als Nachweis der Herkunft vom ›Wall‹ – der Krebswirt.

Ferrols Entlassung aus seiner letzten Haft war mit dem Beginn der Wallzerstörung zusammengefallen, so wurde er der Leiter der Auswanderung in den Grund, für alle, die sich im Wall wenigstens das Nötigste zum Anfang erworben, und das waren ja die Stammgäste des Krebs.

Sein Ansehen war unter diesen eher gestiegen als gesunken, und als ein Jahr darauf auch Frau Sanne wieder erschien, da blühte das Haus Ferrol in einer Schnelligkeit wieder auf, für die das alte Bettzeug, die alten Schrauben und das Eisengerümpel der Trödlerei ebensowenig Erklärung boten, als der Ausschank in der Destillation.

Da kam es auf einmal anders über Nacht. Höchst bedenkliche Verhaftungen häuften sich, Hausuntersuchungen, lästige Kontrollen, Konzessionsentziehungen, der ganze Friede der Kramergasse war gestört, das Geschäft geradezu gefährdet.

Da war Ferrol der einzig Unbelästigte, trotz seines schlechten Leumundes, trotz verschiedener Aussagen zu seinen Ungunsten, und ein böser Verdacht regte sich.

Der Kramergasse war in einem neuen Polizeirat ein gefährlicher Feind erwachsen. Er gehörte zu der Art, die sich nicht im geringsten scheut, das Verbrechen selbst zu benutzen, wenn es ihr auf der Jagd nach dem Verbrechen dienlich sein kann, die einem durch die Finger schaut, um ein Dutzend seiner Kollegen zu erwischen, welche die Schutzwand der allgemeinen Moral rücksichtslos einreißt, hinter der das Verbrechertum so kühn auf seine Beute lauert.

Diesem dickköpfigen Möller, in der Kramergasse mit Anspielung auf den Hieb, der ihm die Stirne spaltete, allgemein der »Hahnenkamm« geheißen, war es wohl zuzutrauen, daß er den Ferrol als Verräter benützte. Ja, es gab Augenzeugen, die diesen wiederholt aus der Privatwohnung des Gefürchteten schleichen sahen.

Von diesem Augenblicke an war es mit dem Geschäft und der Herrschaft Ferrols in der Kramergasse zu Ende. Man ging nur mehr aus Angst zu ihm, und ballte die Faust, ehe man eintrat.

Und Ferrol wußte von dem allem, und war doch so unschuldig in diesem Falle, wie noch nie in seinem Leben. Er verfluchte selbst dieses offenkundige Verhalten der Polizei ihm gegenüber, das ihn binnen kurzem durch den Verdacht ruinieren mußte, der sich auf ihn wälzte, ja, er provozierte sie geradezu mit kleinen Hehlereien, – alles vergeblich, keine Hand erhob sich gegen ihn, während man ringsum auf das strengste vorging. Das war alles dieser verhaßte ›Hahnenkamm‹, der mit ihm wohl ein Geschäft machen wollte.

Wiederholt hatte er ihn schon zu sich kommen lassen, um die geringfügigsten Fragen zu stellen und ihn mit förmlichen Lobsprüchen zu entlassen.

In seinem ganzen bewegten Leben hatte er noch nichts so gehaßt, wie dieses heimtückische Nichtsehen und Nichtwissenwollen dieses Menschen, diese Güte und Nachsicht, hinter der wohl die größte Gefahr lauerte.

Auf der einen Seite ihn sicher machen, zu einer entscheidenden Tat nutzen, bei der man ihn für immer packen kann, auf der andern Seite ihn loslösen von jeder Gemeinschaft und wirtschaftlich ruinieren, – das war die Absicht.

Ferrol war weiß geworden im Verbrechen und gestählt gegen alle Widernisse dieses Lebens, aber der Taktik war er nicht gewachsen, das fühlte er, – die machte ihn toll.

Dazu kamen noch die Vorwürfe Sannes, in die zu allem Überfluß nach einer schweren Krankheit eine Art schwermütige Reue gefahren war, die ihm nicht weniger zu schaffen machte, als die Verschlagenheit des Hahnenkamm.

So war sein fester Entschluß gefaßt, bei der nächsten Gelegenheit erst diesem durch die Netze zu brechen, möglichst seine Reputation in der Kramergasse zu retten, mit der Sanne wird er dann schon fertig werden, – das sind so Übergänge, die er auch schon durchgemacht.

Die Gelegenheit ließ nicht lange auf sich warten. Ferrol war zum drittenmal vorgeladen, vor dem Polizeirat Möller zu erscheinen. Jetzt soll man ihn kennen lernen! Wenn er ihm allenfalls Anträge machte, den Locker zu spielen – öffentlich brandmarken wird er ihn dann.

*

Polizeirat Möller war seinen einst im Cassanschen Hause geäußerten Anschauungen getreu geblieben und hatte damit rasch Karriere gemacht. Er war sichtlich entrüstet über alle Versuche, die Strafrechtspflege im Sinne moderner Anschauungen zu reformieren. Für ihn handelte es sich nur um den Fehler in abstracto, keineswegs um die Person des Schuldigen.

Jede physische Analyse des Verbrechens war für ihn juristisch wertlos. Die Strafe war ein einfacher Vergeltungsakt, eine Entschädigung an der beleidigten Gesellschaft, der im genauen und zwar im unverrückbaren Verhältnis zur Schwere der Tat stehen mußte, die durch den seelischen Zustand des Täters keinerlei Veränderung erfahren sollte. Die Starrheit war für ihn die vornehmste Eigenschaft der Gerechtigkeit; in seinen Reden war sogar die ›Rache an der Gesellschaft‹, eine stehende Redensart, und in seinem Innern hätte er wohl für die Folter gestimmt.

Bei dieser Auffassung blieb es nicht aus, daß er dem Verbrechen gegenüber den Staat jeder moralischen Verpflichtung entband, jedes Mittel erlaubt erklärte, dem Verbrecher zu begegnen, unbekümmert auf die Rückwirkung auf die Verbrecherwelt und die Entsittlichung der Gesellschaft selbst, wenn solche Grundsätze die herrschenden würden.

So war ihm auch Gundlach ein Dorn im Auge, vor allem aber der Leiter der Anstalt, dieser Ohnesorg, der in seinen Augen selbst nichts anderes war, als ein Entronnener, von den schlimmsten Gefühlen aller Geächteten erfüllt, der die Frechheit besaß, das schwer reiche, von ihm selbst schon ins Auge gefaßte Klärchen sich zur Frau zu holen und nun mit seinen haltlosen Problemen, seiner heuchlerischen Humanität in den Vordergrund des Tages zu treten und allerorten seine Wege zu kreuzen.

Er war es vor allen, der die Anregung zur förmlichen Schleifung des Walles gab, dieser vortrefflichen Fallgrube für alles Gesindel, die der Polizei schon zu manchem Erfolge verhelfen.

Was war die Folge? Der ›Grund‹ – sein Schmerzenskind, dem viel schwerer beizukommen war!

Der Kampf mit ihm war augenblicklich sein höchster Ehrgeiz.

Alle derartigen Kolonien kristallisieren sich um feste Kerne, um deren Erkenntnis und Auslösung es sich handelt, um das Ganze in Verfall zu bringen.

Im ›Grund‹ fand er einen solchen Kern, der ins Gewicht fiel, – und der war – – die Ferrols!

Er hätte sie nach ihrer Vorgeschichte einfach ausweisen können, aber das wäre nach Möllerscher Theorie die größte Torheit gewesen, eine Verhinderung der höchst wichtigen Kristallisation um den Kern, die man im Gegenteil begünstigen mußte.

So wurde Ferrol erst sein geheimer Günstling, dem er alles durch die Finger sah, um ihn sicher zu machen. War ihm das gelungen, kam der zweite Teil des Programmes. Ferrol sollte den Lockvogel abgeben, in seinen speziellen Dienst treten. Das scheiterte an diesem seltsamen Ehrbegriff des Gauners, der ihm schon oft ein lästiges Hindernis war.

Jetzt war Ferrol eine Gefahr! Dieser hatte ihn durchschaut und schloß wohl seine verbrecherische Organisation strammer. Jetzt mußte er mißkreditiert werden, von allen Seiten angefeindet, dann kam er schon selbst. – Möller hatte schon oft ähnlich manövriert.

Vor allem war es nötig, die Geschichte Ferrols genau zu studieren. Das tat Möller denn auch.

Da stieß er auf den Prozeß Cassan, ließ sich die Originalakten kommen. Sein Interesse wuchs mit dem Stoffe.

Ferrols Aussagen als Mitangeklagter brachten ihn auf seltsame Gedanken. – –

Wo war das Kind hingekommen, das mit der sogenannten Frau des Mörders den Tag vor dem Morde bei Cassan war, dem Gelehrten als Versuchsobjekt zu dienen, laut Äußerung des Mitangeklagten Ferrol. In der Verhandlung war noch die Rede davon, lag sogar die Tabelle vor, von Cassans Hand geschrieben.

Das Kind war der Sohn der Frau und des Mörders Stubensand, – wieder laut Äußerung Ferrols. Der Verdacht bestand sogar, daß die Frau die intellektuelle Urheberin des an dem Tage vollbrachten Mordes gewesen sei, – dann verschwand das Kind von der Bildfläche. Nichts fand sich mehr davon. – Auch die Frau oder Geliebte – von einer offiziellen Ehe Stubensands war nichts bekannt, – nichts Auffallendes in diesen Kreisen, – war nicht mehr zu verfolgen, – wohl aber Ferrol. – Er kaufte die Wirtschaft zum Krebs, ein höchst anrüchiges Lokal und heiratete – – wen? Sanne Wlazak, die Geliebte oder die Frau eben dieses Stubensand.

Wo war aber das Kind geblieben? Der blonde Knabe, wie es in der Verhandlung hieß. Darüber war nirgends etwas zu finden, so unglaublich es war.

Da steckte etwas dahinter. Und nur zweierlei war möglich. Ein neues Verbrechen, sehr unwahrscheinlich, ein Kind kann nicht verschwinden, ohne daß man darnach fragt, eine Untersuchung eingeleitet wird, oder eine von diesen Innere Missionsgeschichten, welche die unheilvollsten Verwirrungen machten.

Möller ließ nie von einer auch nur geahnten Spur ab. Cassan selbst gehörte zu den Schwärmern. Er war tot. Wirkte aber noch über seinen Tod hinaus in diesem Sinne, durch die Stiftung Gundlachs, bestimmte sogar kurz vor seinem Tode in seinem Testamente, den ersten Anwärter, wie Frau Marianne oft erzählte, Johannes Ohnesorg.

Da hielt er stille, wie ein Hund, vor dem sich die Fährten kreuzen.

Einen Unbekannten doch nicht? Also einen Bekannten, kurz vor seinem Tode. Vielleicht am Tage zuvor. An dem Tage, wo das Weib mit dem Kinde, das Weib des Stubensand, des Mörders. Da zuckte es auf in ihm, wenn dieser Ohnesorg – das Kind!

Alle die furchtbaren Folgerungen, die sich daran knüpften, traten jetzt förmlich in Reih und Glied. Es war ein wohliges Gruseln, das ihn überlief, sein ganzer Spürsinn war lose.

Dann war dieser Ohnesorg ein Schurke, wenn er darum wußte und doch um eine Cassantochter freite.

Ferrol mußte her. Er allein kann Aufklärung geben, muß sie geben.

Polizeirat Möller schloß hastig die Akten, mit denen er eifrig beschäftigt war, als der Diener Herrn Ferrol meldete.

Einen Augenblick, dann führen Sie ihn herein. Sein Angriffsplan war längst gefaßt. Er warf einen Blick in den Spiegel, strich den buschigen Schnurrbart hinaus, setzte seine Brille auf, fuhr sich, nach seiner Gewohnheit, mit zwei Fingern über die Stirnnarbe, nur daß heute diese Bewegung sich wiederholte, als schmerze diese ihn, und nahm, die Beine übereinanderschlagend, eine leichte Stellung ein.

Ferrol trat ein mit demütigem Gruß. Er war stark gealtert, die einst scharfen Züge des glattrasierten Gesichtes waren erschlafft, aber aus dem Blick des grauen Auges sprach für den Kenner, der sich durch die greisenhafte Milde, die darüber lag, nicht täuschen ließ, die alte Verschlagenheit.

Womit kann ich dienen, Herr Polizeirat? begann er.

Ich meine es mit Ihnen gut, Ferrol, erwiderte dieser, seine schnarrende Stimme möglichst mäßigend. Seien Sie doch etwas vorsichtiger in Ihren Äußerungen. Sie wissen doch, daß Sie Feinde haben. Sie sind doch gewitzigt, haben so viel durchgemacht.

Ferrol horchte hoch auf. Wo wollte der hinaus. Ich wüßte nicht, Herr Polizeirat, was ich für eine Äußerung –

Nun ja, es ist ja eine alte Geschichte, nicht so gefährlich, aber doch, Sie wissen ja selbst, es kann immer wieder zurückgegriffen werden. Tun Sie doch nicht so, ich will Ihnen den Tag sagen, vorgestern war es, am Abend, der Wilkens und der Prantner Franz waren bei Ihnen und noch ein paar. Sie sehen, ich bin gut unterrichtet. Oder nicht?

Ja, ganz richtig, die waren bei mir, aber – Ferrol verlor sichtlich seine Ruhe, wurde unsicher. Er hatte mit den beiden allerhand besprochen, was für den Polizeirat gerade nicht bestimmt war.

Möller hatte seinen Zweck bereits erreicht. Na, sehen Sie! Wie können Sie denn wieder eine so alte Geschichte aufziehen?

Alte Geschichte? Aber, Herr Polizeirat!

Machen Sie mich nicht ärgerlich! Möller ging in eine schärfere Tonart über. – Die Cassan-Affäre –

Ich? Ferrol stockte. Gerade der Umstand, daß er sicher wußte, davon nicht gesprochen zu haben, machte ihn völlig irre.

Ja, – Sie! Sie waren doch selbst Angeklagter, natürlich freigesprochen, weiß ich alles, haben sich sogar im Cassanschen Hause zehn Jahre lang sehr gut geführt. Sehen Sie! Da sprechen Sie auf einmal von dem Kinde, – tun Sie doch nicht so unschuldig, – von dem Knaben, der am Tage vor dem Morde bei dem Gelehrten war, dann plötzlich spurlos verschwunden ist. Möller faßte jetzt Ferrol fest in das Auge, ließ ihn nicht zur Antwort kommen. Es war der Sohn des Mörders, dieses Stubensand, das wissen Sie doch, oder wissen Sie das nicht? Sie wissen es gut, Sie haben es ja selbst damals ausgesagt, und nun sprechen Sie auf einmal von dem Kinde, nach so langer Zeit. – –Wie kommt das? Wie steht das?

Ferrol war überrumpelt. Herr Polizeirat, ich kann beschwören, daß ich kein Wort von dem Kinde –

Natürlich, das habe ich erwartet, – nein, von Ihnen habe ich das nicht erwartet, ich hielt Sie für zu vernünftig. Aber lassen wir das! Gut, Sie haben nichts gesagt. Aber Sie wissen von dem Kinde? – Bitte, lassen Sie mich reden! – Sie wissen zum Beispiel, daß es nach Gundlach gebracht wurde. Oder wissen Sie das nicht?

Ferrol beugte den Kopf und drehte seine Mütze. Ja, das habe ich gehört.

Der Polizeirat verbarg mit Mühe seine Freude. Wie – gehört? Selbst wissen Sie es nicht?

Da warf Ferrol mit einem Ruck den Kopf auf.

Nein, Herr Polizeirat.

Möller sah ein, daß er einen groben Fehler gemacht. Der Mann war mißtrauisch geworden. Nun ja, das will ich Ihnen ja glauben, obwohl es sehr auffallend ist, – Möller tippte mit dem Bleistift auf das Pult – nachdem die Mutter dieses Kindes Ihre Frau ist.

Ferrol ließ seine Mütze fallen und hob sie auf.

Der Polizeirat kannte diesen Kunstgriff, Verlegenheit zu verhehlen.

Wer hat Ihnen denn das gesagt? Ferrol schüttelte den Kopf.

Susanne Wlazak ist ihr Name.

Ganz richtig!

Und so hieß die Frau oder Geliebte, gleichviel, des zum Tode verurteilten Stubensand.

Aus Ferrols Gesicht schwand jede Demut. Herr Polizeirat, habe ich die Verpflichtung, mich darüber zu äußern, wer meine Frau ist? Liegt etwas vor gegen sie? Dann sagen Sie's mir mit geraden Worten, und ich antworte.

Möller hatte nicht seinen glücklichen Tag; rasch änderte er seine Taktik. Da haben Sie vollkommen recht. Sie haben nicht die geringste Verpflichtung, mir in dieser Beziehung Aufschlüsse zu geben, wenn Sie kein Vertrauen zu mir haben, indes – ich meine nur. Sie könnten sich und Ihrer Frau vielleicht viele Unannehmlichkeiten ersparen, ja – ja. – Wenn man zum Beispiel Nachforschungen nach diesem Kinde anstellen würde. Die Mutter ist doch dafür verantwortlich.

Welche Mutter? – Welches Kind, Herr Rat? Ferrol fragte sehr energisch.

Na, tun Sie doch nicht so! Oder wirklich? Sie wissen wirklich nichts, gar nichts von dem Kinde? Wissen Sie nicht, wo Sie etwas davon erfahren könnten?

Nein, Herr Rat.

In Gundlach selbst vielleicht? Bei dem Vorstand. Sie kennen ihn doch! Nicht?

Der Rat betrachtete jetzt Ferrol scharf. Den Doktor Johannes Ohnesorg –

Ferrol wechselte die Farbe. Jeder Zug in seinem Antlitz zitterte unter der Anstrengung, unverändert zu bleiben, und der Rat gab rasch die zweite Salve ab.

Den Mann der Tochter Ihres früheren Herrn, des Professors Cassan, kennen Sie nicht? Warum sind Sie denn dann so überrascht, – erschreckt?

Ich, Herr Rat, ich bin doch nicht – der Name war es nur – Ohnesorg ist doch ein sonderbarer Name, – aber – weiter kenne ich den Mann nicht.

So wenig Interesse haben Sie mehr für das Cassanhaus, in dem Sie zehn Jahre treu gedient?

Ja, das kommt so, Herr Rat. Der ›Grund‹ liegt halt auch weit weg von der Mandelgasse. Gehört habe ich schon von der Heirat, aber der Name. Das ist überhaupt meine schwache Seite, die Namen, Herr Rat. Das scheint so, Ferrol, bemerkte der Rat sichtlich zerstreut. Also, ich warne Sie nochmals, seien Sie vorsichtig und vernünftig, Ferrol – immer vernünftig! Adieu!

Ferrol war entlassen. Auf der Straße aber packte es ihn.

Ohnesorg Vorstand in Gundlach! Der Mann des Klärchen! Das war auch für einen Ferrol überwältigend! Diese Perspektive, die sich ihm da urplötzlich eröffnete! Dieser Ohnesorg wußte wohl selbst nicht, wessen Sohn er war, und wenn er es wußte, so wußte es jedenfalls seine Frau nicht. Es wußte wohl niemand davon auf der ganzen Welt, als die zwei Ferrols! Damit war dieses Geheimnis ein Vermögen wert, wenn man es schlau anfängt. Und das hatte er ja schon. Wie ihm dieser Möller die Würmer aus der Nase ziehen wollte!

Ob er Sanne Mitteilung davon machen soll? Sie wüßte vielleicht am besten Rat. Zuletzt muß doch die Mutter ausgespielt werden dem Herrn Direktor gegenüber. Und lang macht sie es nimmer, die arme Sanne. Dann stünde die Sache entschieden schlechter für ihn.

Der Sohn des Stubensand der Nachfolger Cassans! Ferrol empfand ganz ähnlich wie der Polizeirat. Eine gestörte Ordnung der Dinge. Er war nur in seinem guten Recht, wenn er den Mann tüchtig schröpfte!

Frau Sanne saß im Hintergrund des ewig dunklen, von Gerümpel aller Art erfüllten Gewölbes in ihrem Lehnstuhl, von dem aus sie seit Monaten ihre Anordnungen traf.

Sie war eine hinfällige Greisin geworden. Das Leben in der Strafanstalt, die ständigen Kümmernisse und Sorgen, mit denen das Verbrechertum seine traurige Existenz erkauft, damit zugleich den Beweis seiner Verwandtschaft mit dem Wahnsinn liefernd, hatte ihren kräftigen Körper aufgezehrt.

Das Haar hing in grauen Strähnen wirr über das jetzt abgemagerte, gelbe Antlitz, nur der Blick war noch lebendig, wenn es auch unstetes, gequältes Leben war, das daraus sprach.

Um sie herum, auf Tisch und Stellagen lag und hing all der Wirrwarr von gebrauchten Gegenständen, die einen Trödelladen für den Sehenden zum Mikrokosmos des menschlichen Lebens macht. Kleider und Schuhe, Waffen und Geräte, Musikinstrumente, Werkzeuge, wurmzerfressene Bücher, altes Eisen, Federn, Betten, Möbel, Bilder und Schmuckgegenstände, es fehlte nichts, und allem fehlte alles, was ihm je Reiz und Wert verliehen. Die Gitarre hatte einen Sprung, der Stiefel war verschimmelt, die Kleider von den Motten zerfressen, die Bilder verblichen, der Vogelkäfig hatte kein Türchen mehr, das Gewehr kein Schloß, dem elfenbeinernen Christus fehlte der Kopf. – – Eine verbrauchte, abgestorbene Welt, von der ein Geruch der Fäulnis und des Moders ausging, der unter dem niederen Gewölbe brütete.

Sanne ließ die besorgten Blicke kreisen und berechnete immer wieder von neuem, bis zur Ermattung, wie sich am besten der Ruin von ihrem Hause abwenden ließe.

Da sah sie Ferrol von der Gasse her eintreten. Er machte sich mit einem Pack Kleider zu schaffen und beobachtete sie unterdes. Sie stellte sich schlafend. Sanne haßte ihren zweiten Gatten ebenso, wie sie den ersten fürchtete. Der Stubensand war jähzornig wie ein Affe, fürchterlich in seinem Grimme, aber er war ein Mann, im Guten wie im Schlechten. Er hätte sich vierteilen lassen für sie, und wenn der Alkohol nicht in ihm gewütet, wenn das seltsame Fieber ihn nicht geschüttelt hätte, das ihn oft anfiel wie ein wildes Tier, weiß Gott, was aus ihm geworden wäre, ein Herr vielleicht, – statt ein Guillotinenfutter! Dieser Ferrol aber war eine gefährliche Bestie und feig dabei, hinterlistig auch gegen sie, habgierig und geizig. Er beherrschte sie nicht mit seiner wilden Kraft, wie der Stubensand, sondern mit kleinen, gefährlichen Listen, mit versteckten Drohungen, die er auch auszuführen imstande war. Er hatte ihr auch damals den Hannes geraubt, das ließ sie sich nicht nehmen, sei es, daß er ihn nach Gundlach zurückgebracht, sei es, daß er ihm absichtlich zur Flucht verholfen, aus dem einfachen Grunde, weil er den Stubensand in ihm fürchtete, der zum Beschützer seiner Mutter heranwachsen könne. Auch jeden weiteren Versuch ihrerseits, über den Knaben etwas zu erfahren, hatte er verhindert, bis sie selbst so weit gekommen, daß sie freiwillig darauf verzichtete. Das hatte sie ihm nie vergessen. Dafür hatte sie noch immer eine Rache auf dem Herzen, wenn sie auch längst an den Knaben nicht mehr dachte.

Jetzt hatte er wieder etwas hinten für sie, der Heimtücker! Täglich schaufelte er ja an ihrem Grabe, längst war sie ihm im Wege. Aber gerade extra ging sie nicht.

Sie sah deutlich seinen forschenden Blick, wie er auf ihren Atem horchte, dann lachte er in sich hinein und rieb sich die Hände.

Sanne! Sanne!

Sie hob den Kopf langsam, als ob sie aus tiefem Schlafe erwache.

Heute bringe ich einmal gute Nachricht! Jetzt sag noch einmal, ich meint' es nicht gut mit dir! Das ganze Geraffel da kannst du verschenken, wenn du mir an die Hand gehst.

Mach mir nicht Angst, – es braucht's nimmer! meinte Sanne.

Heißt das Angst machen, wenn ich dir von dein'm Bini Nachricht bringe?

Frau Ferrol horchte auf, ihre müden Züge spannten sich, ihre Hände umklammerten fest die Lehne des Stuhles.

Ja, ja, es ist so. Ein Hauptkerl ist er geworden, ein vornehmer Herr –

Ferrol, – das – das glaub' ich dir nicht! – Sanne rang nach Luft. Du willst mich nur –

Wenn ich dir's sag' – – Direktor ist er von Gundlach! Ferrol lachte höhnisch. Aber das ist ja noch gar nichts. – Jetzt halt dich ein! – Rat einmal, wen er geheiratet hat? Das ist das Höchste! Das Mädel vom alten Cassan!

Sanne stieß einen dumpfen Seufzer aus und ließ das Haupt auf die Brust sinken.

No, – ist dir's vielleicht gar nicht recht? – –

Merkst net, was das für uns bedeut't –? – Hörst die Henn' net gackern mit die goldenen Eier? – Red doch!

Was bedeutet denn das für uns? Ein ängstlich lauernder Blick traf Ferrol.

Du fragst noch? – Das ist gut! Daß er schwitzen muß, der hohe Herr, – das bedeut't's!

Daß ich ihm in sein'n Weg treten soll, – daß ich ihn würgen soll, meinen Bini, – gelt?

Wer red't denn von so was, – würgen! Daß der noble Herr für seine Mutter sorgen soll! Ist das was Unrechtes?

Sanne lächelte verschlagen. Für seine alte, kranke Mutter sorgen! Wie du es auf einmal gut meinst mit mir! Und wie denkst du dir denn das? Da bin ich neugierig!

Sehr einfach! Brauchst net einmal was geschenkt von ihm nehmen. Wenn er dir noch so viel gibt, ist's ein' Bagatell' gegen das, was wir ihm dafür zu geben haben, – – unser Stillschweigen! Oder du wirst doch nicht glauben, daß seine Frau weiß, wer sein Vater war? Kein Mensch weiß es, er selber net, – niemand als wir zwei. Drum hast ihn an der Halfter. Ja, sonst freilich – auslachen tät' er uns! Aber so ist's anders. – Leucht't dir's jetzt ein, Alte?

Sanne lauschte gespannt ihrem Gatten, während in ihrer Seele das Bild des blonden Knaben sich formte, den sie geliebt, um den sie gekämpft hatte wie die Löwin um ihr Junges, und ein Licht ging von ihm aus, das ihr ganzes Wesen durchleuchtete. Die Finsternis rang mit dem fremden Eindringling und wühlte all den wüsten Schutt auf, den das Leben in ihr abgelagert.

Nur eines war ihr klar, von diesem ungewohnten Streite durchschüttelt: der Mann vor ihr war ihr Todfeind und der seine, und sie war seine Mutter! Dieses gedachte Wort wirkte mit magischer Kraft in ihr. Er durfte ihn nicht würgen, den blonden, kleinen Bini.

Und sie war krank und schwach und konnte sich nicht aus dem Lehnstuhl heben, so konnte nur die Verschlagenheit helfen, und darin war sie Ferrol noch über.

Sie schloß die Augen, um sich nicht zu verraten, und schlug einen weinerlichen Ton an.

Mein Gott, das wär' ja ein großes Glück! Keine Not, keine Sorg' mehr, – und am End' hat er's besser um mich verdient, der Bini. – Warum ist er net blieben damals im Krebs? – Gelt, Ferrol?

No, wenn du's nur einsiehst, Sanne! Und besser wird er net worden sein, – gewiß net! Ich kenn' das hochmütige Pack! Also muß er zwungen werden. Angst muß ihm eingejagt werden! Und das will ich ihm besorgen! Ferrols lederfarbiges Gesicht färbte sich in dem Vorgenuß des Kommenden. Heute noch such' ich ihn auf in Gundlach!

In Gundlach! Sanne schüttelte den Kopf. Das tät' ich dir net raten. Vergiß net, er ist ein Stubensand! Und wenn er gereizt wird, dann nimm dich in acht! Die Rasse kennst noch net. Wie meinst denn, wenn du ihn herbrächst zu mir? Was will er denn machen mit mir alten Frau? Und zuletzt bin ich doch seine Mutter! Ich bring in 'rum. Verlaß dich drauf – – meinen Bini!

Der weiche Ausdruck des letzten Wortes machte Ferrol stutzig, dem sonst der Vorschlag nicht übel gefiel.

Mit Bitten und Weinen geht's net, das schlag dir nur aus dem Kopf. Drohen mußt, das Messer mußt ihm auf die Brust setzen.

Das soll alles geschehen, Ferrol! Bring mir ihn nur her und laß mich mit ihm reden. – Aber bald muß es sein, sonst könnt's zu spät sein.

Ferrol hörte nicht auf diese Andeutung, die Habsucht beherrschte ihn wieder vollständig. Und was verlangst nachher von ihm? sagte er gierig. Der Cassan hat mehr als eine Million hinterlassen.

Sanne wurde totenbleich bei Nennung dieses Namens. Bring ihn nur her, du sollst zufrieden sein mit mir!

Meinst? Ferrol lachte verschlagen. Aber ich trau' euch net recht, euch Stubensand! Zuletzt halt'ts doch zusamm' alle zwei gegen mich! Hab' ich dich erraten? Er beugte sich dicht vor Sanne und sah ihr grinsend in das Gesicht.

Wenn du das glaubst, – was machst du den Handel net allein? Wirst ja sehen, wie weit du kommst! Ein haßerfüllter Blick traf ihn, der das Schlimmste befürchten ließ, wenn er nicht gute Saiten aufzog. Wenn Sanne ihren Sohn abschwor, dann war er ein Erpresser, dann war alles verloren, – und das war sie imstande, – das las er in dem Blick.

So lenkte er ein, versprach den Mann zu bringen, wenn es irgend durchführbar sei, – und zwar so bald als möglich, – morgen vielleicht schon. – Sie sei ja doch keine Närrin, so einen Fang aus den Händen wischen zu lassen. Zur rechten Zeit werde er sich schon selber einstellen.

Sanne hatte keinen Einwand mehr. Etwas nie Empfundenes war über sie gekommen, etwas wie Freude, – ein seltsames Licht erhellte dieses durchfurchte, finstere Antlitz.

Wer weiß, wie er sich verhält? Das kann kein Mensch sagen. – Vielleicht braucht's gar nichts Gewaltsames. – Mein Gott, wenn er mich anschaut in mein'm Elend! – Wer weiß, – seine Mutter bin ich doch – und getan hab' ich ihm nix im Leben, alles Gutes und Liebes, wenn's auch kurz dauert hat, mein Bini!

Sie stützte den Kopf auf die Hand und weinte, – zum erstenmal seit langer, langer Zeit.

Ferrol haßte Weibertränen. Er drückte sich in die Kneipe nebenan und stürzte eine Flasche ›Hahnenkamm‹ hinunter zur Stärkung, die beliebteste Marke der Kramergasse.

*

In ›Gundlach‹ war Festtag. Frau Klärchen hatte ihrem Gatten einen Sohn geschenkt, den Graf Soran aus der Taufe hob. Heute war das Fest für die Kolonie.

Frau Klärchen durfte dabei nicht fehlen, – nicht die Mutter, nicht die Schwester, nicht die Leiterin, nicht die Nachfolgerin, nicht die Cassantochter, sondern einfach der Engel von Gundlach, wie sie ringsum genannt wurde.

Johannes hatte sich mit einem Feuereifer an die Reorganisation der Kolonie nach seiner Anschauung gemacht.

Er ging auch hier, wie bereits in seinen Studien und Schriften, von dem Grundsatze aus, den er einst an dem Preisabend in seiner Rede ausgesprochen: daß nicht im starren Beharren die Treue gegen den Gründer liege, sondern in der lebendig erhaltenen Kraft des von ihm entzündeten Gedankens. – Lebendige Kraft aber ist ewiger Wechsel, ewige Vervollkommnung.

Der wissenschaftliche Erfolg der Anstalt, den Cassan so betonte, konnte, Johannes' Ansicht nach, nie ein bedeutender sein, dazu wirkten zu viele unwägbare und zufällige Faktoren, – der rein menschliche, ethische stand ihm deshalb höher. Und der war besser zu erzielen, wenn man von der engen Rekrutierung aus dem Kreis des Verbrechens absah und das Ganze auf das Bereich der Not und des Elends ausdehnte. Abgesehen davon, daß sich beide Kreise berühren, oft förmlich ineinander verschlingen, würde dadurch etwas aufgehoben, was Johannes schon in der Idee verfehlt und verderblich hielt: diese festumrissene Abgrenzung der Gefallenen, Belasteten gegenüber der übrigen Menschheit, die ihm in der Praxis ebenso ungerecht, als in der Theorie unhaltbar schien.

So war für eine Aufnahme in der Kolonie Gundlach das Verbrechertum nicht mehr die notwendige Bedingung, ebensowenig als es ein Hindernis war.

Der Fluch der ständigen Geheimnistuerei mit Namen und Zweck hörte damit auf. Gundlach sollte keine Maske mehr brauchen und wirklich sein, was es war: eine Erziehungsanstalt für verlassene Kinder, – für Kinder der Menschheit, pflegte er selbst zu sagen.

Gundlach sollte sich möglichst aus eigener Arbeit ernähren. Die Lohnfrage wurde den in irgend einem Betriebe arbeitenden Kindern gegenüber streng geregelt. Eine gewisse Summe für die Kosten der Verpflegung in Abzug gebracht, der kleine Rest als Eigentum des Betreffenden aufbewahrt, während die für geistigen Beruf Bestimmten, ohne augenblickliche Verdienstkraft, die Verpflichtung übernehmen mußten, später gewisse, wenn auch unbedeutende Nachzahlungen zu leisten.

Der Plan war so exakt entworfen, alles griff so trefflich ein, daß die Organisation im ersten Jahre völlig beendigt war.

Jetzt war Klärchens Zeit gekommen. Und sie übertraf seine kühnsten Erwartungen. Cassans Geist lebte in ihr und nahm Besitz von Gundlach.

Alles, was Frau Marianne fehlte zu dem großen Amte: die große Liebe, der wahrhaft freie Geist, das eigene Glückbewußtsein, – das besaß sie in vollem Maße. Ihr war Gundlach keine Last, keine Arbeit, sondern ein Leben.

Johannes fühlte sich überflüssig. Er hatte sich als Dozent an der Universität niedergelassen, andere große Aufgaben winkten, Aufgaben, die ihn weit über Gundlach hinausführten.

Ein unermeßliches Feld lag vor ihm, fruchtbares Ackerland, mitten darin Wüsteneien und Urwälder und Sümpfe. Höhen, auf denen die Luft zu dünn war zum Atmen, – Tiefen, in denen der giftige Brodem den Atem erstickte. – –

Die Fülle des bereits überlieferten Stoffes, dessen Bewältigung zum eigenen Schaffen unerläßlich war, hielt ihn bis jetzt vom praktischen Leben ferne, das ihn nur in Klärchen und seinem Liebesglück berührte.

Diese eigenartige Vereinigung weltentrückten Forschens in dem Hinterhause der Mandelgasse mit junger, schwärmerischer Liebe machte ihn zu dem, was er nie gewesen, zum wunschlosen Kinde, dem alle grauen Schleier des Lebens sich rosig färbten.

Jetzt hatte er den Zenit seines Glückes erreicht. Klärchen hatte ihm einen Prachtbuben geschenkt. –

Als er zum ersten Male in seinen Armen lag, da kamen ihm wohl wieder schwere Gedanken, und er sah tief in die dunklen Augen des Kindes. Er konnte darin aber nichts erblicken, als das Abbild Klärchens, die sich über den Kleinen gebeugt, und wo dieses wohnte, da war keine Gefahr.

Der Kleine wurde nach Freund Soran aus den Namen ›Franz‹ getauft.

Heute nachmittag war Kinderfest zu Ehren des Erstgeborenen! Klärchen wollte es so. Ihr Sohn sollte gleich von Anfang in innige Beziehung zu der Anstalt treten, ja sie hatte fest im Sinne, ihn dort seine erste Erziehung genießen zu lassen, im strengen Gegensatz zu dem Verfahren der Mutter, das ihr stets unbegreiflich war.

Gundlach glich einem kleinen Jahrmarkt. Die Kinder boten in Buden ihre eigenen vielgestaltigen Waren feil: Schnitzereien, Schuhwerk, Buchbinder-, Drechsler- und Schreinerarbeiten, Zeichnungen, weibliche Handarbeiten, Gebrauchsgeräte aller Art, während eine kleine Ausstellung in festlich geschmückter Halle einen Gesamtblick über die Leistungen der Anstalt bot. Dazwischen drehten sich die Karusselle, schwangen sich die Schaukeln, knallten die Stutzen in den Schießständen der Knaben.

Bis zum Abend hatte sich ein buntes Leben entwickelt, dem die gewisse Schwermut völlig fehlte, die früher trotz allem über der ganzen Kolonie lag.

Frau Klärchen aber schwebte wie eine gute Fee durch das Ganze, ohne sich aufzudrängen, ohne die Herrin spielen zu wollen, und doch überall, wo sie erschien, die Freude, das Wohlbehagen entzündend.

In ihrem Gefolge befanden sich die Freunde des Cassanhauses, Kollegen des Gatten und zwei Männer, die schon durch ihren äußeren Kontrast auffallen mußten. Graf Soran, der Taufpate des kleinen Ohnesorg, und ein kleiner, untersetzter Mann mit einem Bulldoggengesicht, das noch dazu ein feuerroter Schmiß zur Hälfte spaltete, – Polizeirat Möller!

Es kam den Leuten vor, als ob er auch hier das Schnüffeln nicht lassen könne, so verdächtig guckte er überall umher, so unheimlich tauchte überall sein breites Gesicht mit den stechenden Augen auf.

Wie kommt denn nur der zu der lieben, jungen Frau und dem schönen Grafen, dem man die Güte aus dem Gesicht herauslas? Das war sehr einfach. – Johannes hatte sich längst mit Doktor Möller über den peinlichen Fall auf der Universität ausgesprochen, sein ehrliches Bedauern zugegeben, und wenn auch die Entgegennahme von der Seite des Doktors keine herzliche, sondern eine konventionelle war, wie sie einmal die Lebensstellung beider verlangte, so war doch ein Verkehr wenigstens so weit möglich, als er im Interesse Gundlachs lag. – So kam der Polizeirat zu diesem Feste.

Die Gesellschaft hatte sich nach ihrem Rundgang in der kleinen Bierhalle niedergelassen, welche die Knaben der Anstalt selbst in Betrieb hatten. Man war wirklich müde geworden und sehnte sich nach einem kühlen Trunk. Selbst der Polizeirat Möller vergaß seine Amtswürde und machte den Versuch, gemütlich zu werden.

Wirklich ein prächtiger Abend! Ich kann Ihnen dazu nur gratulieren, Herr Doktor, wandte er sich an Ohnesorg, der die Honneurs machte. Man soll es nicht glauben, was aus dem Material zu machen ist!

Sehr schmeichelhaft, Herr Rat, bemerkte Johannes. Man lachte verlegen über den faux pas, oder trank einen kräftigen Schluck.

Den Polizeirat ärgerte es, daß Johannes sein Versehen gerügt. Spielen Sie doch nicht immer den Gundlacher, Herr Doktor, bemerkte er verdrossen.

Ich spiele ihn nicht, Herr Rat, – ich bin es. – fügte er spöttisch hinzu.

Nun ja, das mag sein, – aber damit ist ja doch gar nichts gesagt. Der Rat war sichtlich verlegen.

Da irren Sie sich, Herr Rat. Johannes faßte ihn fest in das Auge. Damit ist alles gesagt. – Die Bestimmungen der Gründer waren äußerst strenge. – Ich bin über alles genau unterrichtet.

Jetzt regte sich die wahre Natur Möllers, die sich nicht so leicht einschüchtern ließ. – Das log er, daß er alles so genau wisse. Wirklich genau? – Ganz genau? sagte er in spitzigem Tone mit einer Inquisitorenmiene.

Johannes wurde unruhig unter diesem Blick. Jedenfalls genauer als Sie, erwiderte er, aber es klang mehr erregt, als sicher.

Der Rat zuckte die Achseln und trank.

Die ganze Gesellschaft, peinlich berührt, die Feindschaft der beiden kennend, warf sich mit Scherzen dazwischen.

Frau Klärchen, von Graf Soran geführt, ging vorüber. Soran rief ihn.

Er war ihm in diesem Augenblicke unendlich dankbar und folgte seinem Ruf. Er liebte diese lauten Festlichkeiten nicht, dieses Betonen des Glückes. Der Fatalismus regte sich in ihm, in dem er aufgewachsen, – und setzt kam ihm noch dieser Möller in die Quer mit seinem Detektivgesicht.

Ich danke dir, Soran. Er drückte dem Freunde herzlich die Hand. Du hast mich wieder einmal von diesem Möller erlöst. – Der Mensch geht mir auf die Nerven. – Kommt, Kinder, nur auf zehn Minuten Einsamkeit!

Er nahm Klärchen und den Freund am Arme und bog ab in den Park. – Dort atmete er hoch auf. Ist dir nicht auch ein bißchen so, ich weiß nicht, – gepreßt um die Brust – Klärchen? fragte er.

Über Klärchen lag die Verklärung erster Mutterschaft. Sie war ganz Liebe, Schönheit, Glück. – Aber im Gegenteil, so weit, als ob ich fliegen könnte, Johannes! – Ich verstehe dich gar nicht –

Dann ist's also doch dieser ›Hahnenkamm‹, wie ihn die Spitzbuben nennen –

Wen nennen sie denn so? fragte Soran.

Na, den Rat Möller! Und ich habe ihm den Kamm aufgesetzt! Das freut mich doch heute noch. Wenigstens ist er gezeichnet, der Schleicher!

Du tust ja gerade so, als ob du es selber mit den Spitzbuben hieltest, – du großer Spitzbube! Klärchen lachte und tippte ihn auf die Wangen.

Tue ich ja auch, von jeher, – weißt du ja. Wir beide, – nicht wahr, Soran, wir lieben sie, – man liebt doch immer, für was man kämpft.

Womit hat er dich denn wieder einmal erregt, dieser Möller? fragte Soran.

Oh, es war nur ein Wort, – nicht einmal, ein Blick, – das kann man nicht so sagen. Wir sind einmal Antipoden in allem und jedem. Wie das so oft geht. Ich wittere einen unversöhnlichen Feind in ihm, – nicht nur meiner Theorie.

Und läßt dir von ihm diesen Abend verderben, der mich so freut, sagte Klärchen.

Sie waren vor dem Denkmal Cassans angelangt. Der Duft der frischen Kränze, welche die Kinder morgens daran niedergelegt, erfüllte die Luft. Der Mond warf sein Silberlicht darüber und spielte in den Schriftzügen am Sockel. In der Ferne verklang der Festlärm, der Jubel der Kinder. –

Ob er wohl zufrieden ist mit uns zwei? fragte Johannes den Freund, Klärchen umschlingend und zu dem Bildnis emporblickend.

Wäret ihr so glücklich, wenn er es nicht wäre? Das ist ein gewagtes Wort, Freund, das hieße den Toten eine Macht zutrauen, die ihre Bedenklichkeiten haben könnte. Ich habe auch einen Vater gehabt, aber keinen Cassan, einen Unbekannten, dunklen, sehr dunklen wohl, – ich möchte wahrlich nicht unter seinem Einfluß stehen –

Wie schwer du heute wieder alles nimmst, Johannes, meinte Soran.

Bitte, Vater ist Vater! Auch das Überirdische muß doch seine festen Gesetze haben.

Und wenn es wäre – mischte sich Klärchen hinein. Wer kann dir sagen, daß es ein feindlicher Einfluß sei, der von ihm ausging, wer auch dein Vater war im Menschenkleide. Wissen wir doch nicht, wieviel am Kleide haftet, wieviel an dem, was es bekleidet. – Das wissen wir alle nicht.

Sie sah zu dem Bilde des Vaters auf, als ob ihr von dort die tiefe Weisheit käme.

Johannes aber küßte ihr glänzendes Haar, ihre Wangen. Seltsam, wie es ihn immer wieder herzog, wenn ihm das Herz schwer war, wie er hier immer Trost fand. – Er sprach diese Empfindung auch Klärchen gegenüber aus.

Dann wißt ihr ja, wo ihr euch zu treffen habt, in der Stunde der Not, meinte Soran. Wenig Menschen haben eine so geweihte Stätte.

Also merke dir's, Johannes, – wenn du mir einmal recht böse bist –

Ich dir? – Das wird wohl nie eintreffen! Lasse es nur auch umgekehrt gelten, Klärchen.

Gerne, Johannes, – sehr gerne!

Was ich da wohl alles geträumt, als ich auf den Stufen schlief? meinte Johannes. Und dann erschienst du mir wie ein weißer Engel der Verheißung. – Was mir da einfällt! Ich muß doch Soran meinen Eisenhammer zeigen, in dem ich unter Vater Margolds Zucht aufwuchs. Jetzt bin ich gerade in der Stimmung. Kommt!

Sie umgingen den Festplatz und begaben sich in die Kolonie. Trupps nach der Stadt oder nach dem Dorfe Heimkehrender begegneten ihnen.

Im Hammer brannte Licht, der Werkmeister bereitete die Arbeit für den morgigen Tag vor.

Johannes zeigte Soran und Klärchen seinen einstigen Platz am gemeinsamen Tisch, seine Bettstelle im Schlafsaal, dann trat er an das Fenster und wies auf eine kleine Brücke mit eisernem Geländer, die über den Fluß führte, – der frühere Holzsteg.

Seht ihr jene Weide dort? – Dort stand mein Entführer und lockte mich. – Wenn ich daran denke, an die ›Nacht‹ – ich gäbe viel darum, wenn ich ihm nicht gefolgt –

Sag das nicht, Johannes! Ich habe das sehr schön von dir gefunden, daß du die Furcht überwandest, nur um zu der Mutter zu kommen. – Das hätt' ich auch getan. Mein Gott, wenn ich daran denke, Johannes, deine Mutter –

Johannes sprach kein Wort und führte sie in das Haus.

Klärchen sprach mit der Hausmeisterin. Da nahm Soran Johannes beiseite. Warum läßt du die Vergangenheit nicht ruhen?

Ich lasse sie schon ruhen, aber sie mich nicht, gerade heute nicht. Das kommt oft ganz plötzlich, als ob sie mich am Rock streifte.

Dann fasse sie doch einmal mit einem raschen Griff. Es kommt mir immer vor, als scheutest du davor. – Das ist nicht gut, Johannes.

Der Werkmeister trat zu Johannes. – Es wünsche ihn jemand zu sprechen aus der Stadt. Ob er ihn abweisen soll oder für ein andermal bestellen.

Für ein andermal, Johannes, riet Soran. Heut ist doch kein Geschäftstag. Irgend ein Zudringlicher, der deine Feststimmung benutzen will.

Johannes zögerte einen Augenblick. Ich werde ihn rasch abfertigen. Geh nur mit meiner Frau voraus. Ich erwarte eigentlich jemand. Von der Universität! Der wird es wohl sein.

Johannes ging eilig mit dem Werkmeister. Wo wartet er denn?

Im Hammer, Herr Doktor.

Gut, gut! Johannes eilte dem Werkmeister voraus.

Die Türe des Hammers stand offen. Er trat hastig ein. – Niemand da. Ein Bittsteller wohl, den der Mut verlassen. Er galt ja als Harter in dieser Beziehung. So kehrte er um.

Da trat ihm außen aus dem Dunkel ein Mann entgegen, kaum daß er die Umrisse übersehen konnte.

Herr Doktor Ohnesorg, nicht wahr? fragte der Unbekannte.

Was wollen Sie? fragte Johannes rauh.

Nur einen Augenblick, Herr Doktor! Der Mann sah sich rasch nach allen Seiten um, – dann trat er ganz nahe zu Johannes und flüsterte ihm zu: Ferrol heiß' ich.

Johannes regte sich nicht. Es überraschte ihn gar nicht der Name, so hatte er ihn eben beschäftigt. – Der Mann mit der Schiffsmütze, jenseits des Steges. – Wie der Mensch es nur noch einmal wagen konnte!

Was wollen Sie? – Was schleichen Sie mir nach? – Sie sind mir nachgeschlichen! herrschte er Ferrol an.

Soll ich Sie vielleicht vor Ihrer Frau Gemahlin ansprechen?

Johannes krampfte die Faust zusammen, so packte ihn der Zorn. Was soll das heißen? Reden Sie klar und machen Sie dann, daß Sie fortkommen!

Aber der Name ist Ihnen doch nicht entfallen, – Ferrol!

Allerdings nicht. – Er ist ein Spitzbubenname, den man nicht so leicht vergißt.

Bitte, ich bin nicht empfindlich.

Ihr Anliegen! Rasch, wenn ich Sie hören soll!

Es ist dasselbe wie damals, wissen schon, beim Steg. – Es trifft sich halt alles so sonderbar bei Ihnen. Ferrol lachte.

Und Sie haben die Frechheit, dieselbe Lüge zu wiederholen? – Ich werde Sie verhaften lassen.

Das werden Sie nicht, weil Sie Ihre Mutter nicht allein sterben lassen werden.

Mensch, Sie wagen viel! Was schwätzen Sie von meiner Mutter?

Daß sie heute nacht noch sterben wird, daß sie ihren Sohn noch ein einziges Mal sehen will – –

Eine freche Lüge, heute wie damals! Gestehen Sie, daß Sie lügen, oder – – Johannes faßte Ferrol bei der Schulter. Oder ich rufe Leute!

So rufen Sie doch! Sie dürfen's alle hören, daß eine Mutter auf dem Sterbebett nach ihrem Sohn verlangt, – ist das so Schlimmes?

Johannes zuckte in allen Gliedern. Ein böser Drang faßte ihn, diesen Mann in die Nacht zurückzuschleudern, der er entstiegen, dann packten ihn die Worte, – er dachte Sorans Rat von eben: »Dann fasse sie doch einmal mit raschem Griff!« – und er entschloß sich dazu.

Sie sprechen von Ihrer Frau, von der ehemaligen Wirtin zum Krebs? fragte er möglichst ruhig.

Ganz richtig!

Und Sie behaupten, daß diese Frau meine Mutter ist, wie damals –?

Das behaupte ich, und ich kann's beweisen.

Mit Ihren lügenhaften Redensarten –

Mit Tatsachen! – Ich habe Sie mit Ihrer Mutter zum alten Cassan gebracht, einen Tag vor seinem Tode, – ich, Ferrol! Ich habe Sie hier in Gundlach wiedergefunden unter dem Namen Ohnesorg. Genügt Ihnen das? Ich leiste einen Eid darauf.

Johannes umzuckten feurige Punkte in der Dunkelheit, in deren Lichte er das furchtbare Gesicht des Mannes zu sehen glaubte. Jetzt mußte er den letzten Griff tun, – jetzt oder nie. – Ein wildes Verlangen ergriff ihn, den Schleier zu lüften. Wenn Sie immer von meiner Mutter sprechen, warum nicht von meinem Vater?

Er lebt längst nicht mehr!

Sie kannten ihn?

Sehr wohl!

Dann müssen sie auch seinen Namen wissen!

Weiß ich auch!

Nennen Sie ihn!

Lieber nicht, – Ihnen zuliebe nicht.

Weil Sie ihn nicht wissen, weil Sie ein Lügner sind –

Herr –

So nennen Sie ihn doch! – Ich weiß ihn –

Sie wissen ihn? – Und haben trotzdem – Teufel, da gehört Mut dazu!

Johannes stampfte mit dem Fuß auf den Boden und griff Ferrol vorne an der Brust. Nennen Sie ihn, Schurke!

Ich warne Sie, Herr, – ich will nicht! – Lassen Sie sich das von Ihrer Mutter –

Ich will aber! – – Wenn dir dein Leben lieb ist –

Ferrol röchelte unter dem eisernen Griff Johannes'. Gut! – Lassen Sie los! Stubensand!

Die Hände, die eben noch seine Kehle umschnürten, ließen ihn frei, fielen kraftlos herab.

Geben Sie mir nicht schuld, – ich wollte nicht, bei Gott, nicht! –

Georg Stubensand!? fragte Johannes mit hohler Stimme.

Georg Stubensand! wiederholte Ferrol. Und wenn Sie mir nicht glauben, – eine Frau auf dem Totenbette lügt nicht. Fragen Sie sie selbst, – Ihre Mutter!

Wo wohnt sie? fragte Johannes.

Ferrol erschrak selbst vor dieser veränderten Stimme, und der Lichtschein aus dem Hammer beleuchtete ein aschfahles Antlitz.

Nehmen Sie sich's nicht so zu Herzen! Was ist dabei? – Niemand kann davon wissen, als wir zwei, meine Frau und ich. Wir einigen uns schon – leicht.

Wo wohnt sie, frage ich Sie!

Es lag etwas in dem Ton der Stimme, der Ferrol geraten erscheinen ließ, die Unterredung möglichst rasch zu beenden.

Kramergasse 14! – Christian Ferrol! – Sie ist schwer krank, meine Frau, – auf den Tod, kann man sagen. – Sie kommen also – morgen?

Heute, – in einer Stunde!

Das ist schön von Ihnen, Herr Doktor, edel! Das wird ihr ein Trost sein!

Johannes trat zurück. Es schien Ferrol, als ob er taumle wie ein Betrunkener.

Seien Sie doch vernünftig! – Was ist denn dabei? Wir schweigen wie das Grab, wenn Sie nur ein bißl –

Johannes hörte die letzten Worte nicht mehr, er floh setzt vor dem Entsetzlichen in die Nacht hinaus.

Vom Festplatz her ertönte lauter Jubel. Rotfeuer beleuchtete die ganze Kolonie. Die Musik spielte einen Tusch. Sie ließen wohl Frau Klärchen leben, Johannes Ohnesorg, den bewährten Leiter.

Johannes hielt an. Der Mensch sagte die volle Wahrheit! – Zweifel daran war feige Torheit. Was aber für Johannes das Vernichtendste war, – er sagte nichts, was er nicht schon längst ahnte, mehr wie ahnte! Und seit wann, – seit wann? Er stellte die Frage wie ein Richter an sich. Seit dem Verlobungsabend im Zimmer Cassans! Das ist nicht wahr! Von Wissen konnte damals noch nicht die Rede sein, höchstens von fürchten, – ahnen. – Und er schwieg, schwieg immerfort.

Er konnte schweigen! – Der Tochter Cassans gegenüber, seiner Braut, Soran gegenüber! Darin lag seine Schuld, das Verbrechen, würdig seines Namens.

Und wenn er gesprochen, wäre sie vielleicht auch darüber hinweg? Klärchen? Eher wie nicht! Und er hat sich um solch einen Himmel betrogen! »Nie mehr kommt eine so glückliche Stunde!« sagte Soran. Nie mehr! Nie mehr! Aber darum handelt es sich gar nicht. Was weiter? Das Weib verlangte nach ihm, das Weib mit der roten Jacke! Das Weib eines Mörders, – des Cassanmörders!

Schauer rieselte ihm den Rücken hinab. Alles gleich! Eine sterbende Mutter ruft, – eine sterbende Mutter! Und wenn sie aus der Hölle ruft, er muß ihr folgen, wenn er nicht zum ersten Verbrechen ein zweites fügen will. Er muß und will!

Er will aus ihrem eigenen Munde hören das ›Letzte, das Äußerste‹ Frau Mariannens, aus dem Munde der Mutter.

Keine Nacht soll darüber vergehen, und dann, dann – Er drückte die Stirne, um nicht zu denken, und eilte dem Festplatze zu.

Die Gesellschaft saß noch in der Bierhalle. Er hörte die Stimme des Polizeirats, Klärchen und Soran saßen dabei.

Er konnte nicht in den Kreis treten. Am Gesicht wird man ihm das Ungeheuerliche ablesen, Soran vor allem – und dieser Möller, – – Klärchen!

Nur jetzt nicht an den Tisch! Er hatte so die Absicht, abends nach der Stadt zu fahren. Klärchen wußte davon. Im übrigen wird er sich schon herauslügen, betreffs seines plötzlichen Verschwindens.

Oh, die Lüge wird ja jetzt von nun an sein Leben sein, aber es soll eine heilige, eine große Lüge sein!

Zuletzt entschloß er sich, einen Bediensteten zu Klärchen zu senden. Er sei plötzlich in der bewußten Angelegenheit in die Stadt abberufen worden und komme erst morgen zurück. Sie möge ihn bei den Herren entschuldigen.

Er wagte nicht mehr den Wagen anspannen zu lassen, in der Furcht, Klärchen möchte kommen und ihn zurückhalten, so ging er zu Fuß der Vorstadtstation zu.

Als er hinter sich blickte, erhob sich die rote Glut zwischen den Kuppeln der Bäume, als ob ganz Gundlach in hellen Flammen stände.

Der Zug polterte in die Halle, nahm ihn auf und brauste der Stadt zu.

*

In der Kramergasse herrschte noch reges Leben, als Johannes sie betrat. Aus den Singhallen ertönte Musik und Gelächter. Die Destillationen prangten im verführerischen Licht buntfarbiger Kugeln, die in den Auslagefenstern standen. Selbst der Handel ruhte nicht. Da und dort schien er sogar mehr für die Nacht berechnet, den traurigen Gestalten nach, die ein- und ausgingen. Unförmliche Verkäuferinnen riefen ihm ihre Aufforderungen zu, geschminkte Mädchen in auffallenden Kleidern verschwendeten, unter dunklen Eingängen stehend, ihre verführerischen Blicke. Schimpfworte folgten dem Achtlosen, während aus den Schnapsbudiken der widerliche Geruch des Alkohols drang, das Grölen Trunkener, der Diskant einer Dirne.

Johannes zögerte, in die grell erleuchtete Schnapskneipe einzutreten, die von Gästen ganz gefüllt war.

Da stand plötzlich Ferrol vor ihm. Ich habe Sie schon kommen sehen. Folgen Sie mir. Man braucht Sie da drinnen nicht zu sehen.

Er führte Johannes um die Ecke in das Geschäft. Weit rückwärts brannte ein Licht, es hing wie ein gelber Stern in dem langgestreckten dunklen Gewölbe.

Dann schloß Ferrol die Tür hinter sich ab.

Ferrol! rief eine Stimme, in welcher Johannes nimmer die aus dem Krebs erkannt hätte, so bang und leidensvoll klang sie, Ferrol, bist du's?

Ich bin's schon, gab dieser mit gedämpfter Stimme zurück. Mach' nur keinen Lärm! – – Er ist da!

Es war ein undefinierbarer Laut, der jetzt das Gewölbe durchzitterte, das Stöhnen eines gequälten Tieres, ein abgrundtiefer Seufzer.

Johannes ging er durch Mark und Bein. Er ging durch das finstere Gebäude mit dem Modergeruch, den Blick auf den geheimnisvollen Stern gerichtet vor ihm. Er schien erst zu Weichen, zu verschwinden, tauchte wieder auf, und jetzt sah er ein gebeugtes Haupt, in seinem kreisrunden Schein, graues Haar, – eine Hand bewegte sich im tiefen Schatten, – ein verfallenes graues Antlitz, – – jetzt hob es sich scheu, – ein großer starrer Blick traf ihn, – die Hände stützten sich auf die Stuhllehne, der Körper versuchte sich zu heben und sank kraftlos zurück – –

Sie haben nach mir verlangt, – ich bin Johannes Ohnesorg! – Was haben Sie mir zu sagen?

Johannes trat dicht vor die Frau im Sessel, die jetzt ein konvulsivisches Zittern befiel.

Herr, – Herr, – Sie faltete krampfhaft die Hände, wie zum Gebet, ein Ausdruck höchster Angst erschien in ihren verwitterten Zügen. Ferrol hat's getan, – ich nicht, – oh, ich nicht.

Lassen Sie Ferrol und sprechen Sie ohne Scheu. Wer bin ich für Sie –?

Das Zögern der Frau, die mehr eine Beute der Furcht, als einer anderen heftigen Bewegung schien, gab Johannes neue Hoffnung. Dieser Ferrol kann doch ein Betrüger sein.

Ich frage Sie bei dem allmächtigen Gott, an den Sie doch noch glauben, – wer bin ich für Sie? – Eine Lüge wäre Ihr Verderben. Er war dicht vor Sanne getreten und beherrschte sie mit seinem Blick.

Doch die Wirkung war eine ganz andere wie er erwartet. Das fahle Antlitz belebte sich unter ihm, der starre Blick gewann Leben, die gefalteten Hände hoben sich ihm entgegen. Bini! Mein Bini bist, so wahr mir der Herrgott helfe in meiner letzten Stunde!

Es lag die absolute Gewalt der Wahrheit in den leidenschaftlich gesprochenen Worten.

Johannes beugte einen Augenblick das Haupt unter ihrer Wucht. Frau Ferrol sank ebenso rasch wieder ermattet in sich zusammen.

Gesagt is, das hat einmal sein müssen, aber weiter, nein, weiter will ich nix mehr, ich net, Herr.

Oho, da hab' ich doch auch noch ein Wort mitzureden. Ferrol tauchte plötzlich aus dem Dunkel auf. Er wandte sich an Johannes.

Doch ehe dieser erwidern konnte, erhob sich Frau Sanne mit einem jähen Ruck, so daß ihr Kopf fast das niedere Gewölbe berührte. Ein Blick voll des Hasses traf Ferrol und der Stock in ihrer Hand erhob sich drohend gegen ihn. Hinaus, Schandmensch! noch leb' ich!

Ferrol duckte sich furchtsam und stammelte verworrene Ausflüchte.

Gehen Sie, lassen Sie uns allein, befahl jetzt Johannes. Was Sie wollen soll Ihnen nicht verweigert werden. Davon später! Aber jetzt gehen Sie.

Ferrol hielt es geraten, sich zurückzuziehen.

Johannes kehrte zu Frau Sanne zurück, die erschöpft, mit dem Atem ringend, im Lehnstuhl saß.

Sie haben mich schon einmal kommen lassen, als Sie noch im »Wall« wohnten. Ich entfloh Ihnen damals, ich hielt es für eine Lüge, daß Sie meine Mutter sind, jetzt glaube ich daran, so kann niemand lügen, und jetzt frage ich Sie: Wer war mein Vater?

O, mein Gott! flüsterte Frau Sanne und schlug die Hände vor das Antlitz.

Ferrol hat es mir gesagt, ich verlange nur Ihre Bestätigung. Georg Stubensand?

Frau Ferrol nickte mit dem Haupte.

Der Mörder des Doktor Cassan? Der auf dem Schafott starb?

Frau Ferrol vergrub das Haupt in ihre Hände und nickte. Ein dumpfes Stöhnen entrang sich ihrer Brust.

Dann wurde es ganz still im Gewölbe.

Johannes lehnte sein Haupt an die Mauer und blickte auf die Frau im Stuhle.

Auf dem Schafott! Und doch war er nicht so schlecht wie dieser Ferrol, den ich hass' und veracht'. Frau Ferrol hatte die Faust geballt im ohnmächtigen Grimme.

Und doch haben Sie ihn geheiratet, den Verhaßten, Verachteten, nach dem Stubensand! Johannes lachte bitter.

Ja, das hab' ich, ja, das hab' ich. Was hätt' ich nicht, damals – aus dem Gefängnis heraus, die Witwe eines Hingerichteten! Der man ihr Kind genommen. Ja, Herr, genommen! Gestohlen, Herr! Es war gestohlen, wie ich herausgekommen bin aus der Haft! – Was hätt' ich da nicht 'tan, alles! alles! Selber ein' umbracht, wenn man's verlangt hätt' – alles!

Das faltige Gesicht nahm einen trotzigen Ausdruck an, der sonst so matte Blick leuchtete energisch auf. Das wissen Sie ja nicht, wie das ist, wenn man einmal unten ist, ganz unten! – Das wissen Sie nicht. O, es war nicht immer so mit mir, Herr! Wie mich der Georg g'nommen hat, da war's ganz anders! Ihre Stimme verjüngte sich förmlich. Da war ich ein junges Ding, bildsauber, und der Himmel war blau über mir und die Sonn' hat g'schienen auf die grünen Wiesen. Jawohl! lauter Sonn', nix wie Sonn' und lieb haben wir uns g'habt und g'arbeit't haben wir, dann – dann – ist das Kind 'kommen, der Bini. Jetzt klangen Tränen aus ihrer Stimme und eine fremde Milde strahlte aus dem gramvollen Antlitz.

Mein Gott, haben wir das Kind lieb g'habt, und er gar, der Georg, zu tot g'arbeit't hätt' er sich dafür, und dann, dann ist's anders kommen, an ein' Tag – an ein' Tag! Der Blick der Frau im Stuhle schwebte in weite Ferne.

Der Branntwein hat ihn 'packt, dann ist's 'nunter gangen pfeilgrad', immer 'nunter, 's Geld ist ausgangen, immer 'nunter, und ich mit. – Zuchthaus – immer 'nunter, bis zum grausamen Ende! Frau Sanne ließ das müde Haupt zurücksinken und schloß die Augen.

Jetzt glich sie für Johannes einer Dulderin, mit den aufgelösten ermatteten Zügen, einem hingestreckten Opfer finsterer Mächte. Unnennbares Weh ergriff ihm die Seele und eine Stimme aus weiter Ferne rief ihn an die Seite dieses leidensmüden Weibes.

Er ergriff die Hand auf der Lehne des Stuhles und beugte sich über das gramvolle Antlitz. – Mutter! – Es kam aus seiner tiefsten Seele, das Wort. Alles Leid, das er selbst getragen, alles Verhängnis, das auf ihm gelastet seit seiner Jugend, lag darin.

Die Greisin schlug die Augen auf, der Ausdruck eines unerhörten Erstaunens, gepaart mit Mißtrauen lag darin.

Mutter! klang es noch einmal.

Da verklärte ein seltsames Licht die rauhen Züge. Bini! Mein Bini! Die kraftlosen Arme umschlangen Johannes, zogen ihn herab auf die Knie. Die starren Hände umklammerten sein Haupt. Bini, nur einmal noch, – nur einmal noch sag Mutter!

Und wieder sprach er das erlösende Wort. Da brach Frau Sanne in ein wildes Schluchzen aus und umfaßte den Sohn. Mutter! Mutter! stammelte sie immer wieder dazwischen, jauchzend, lachend.

Johannes wollte sich sanft von ihrer Umarmung lösen, da hielt sie ihn krampfhaft fest. Hüte dich vor dem Ferrol, Bini, flüsterte sie, der meint's schlecht mit dir! Der kennt kein Erbarmen. Ich net, oh, ich net, ich will ja nix mehr. Kein Mensch soll was hören von mir, kein Mensch! Verleugnen will ich dich vor aller Welt. Kein Wort sollen s' herausbringen aus mir. Es dauert ja so nicht mehr lang', keine Woch' mehr. Aber der Ferrol wird net ruhen. Find dich ab mit ihm, um Geld tut er alles! Mutter hast g'sagt! Das Wort nehm' ich mit 'nüber, Bini! Das Wort laßt mich ruhig sterben!

Johannes war völlig verwirrt. Er konnte die Liebe nicht erwidern, und doch erschütterte ihn ihre Kraft, die sich siegreich durchrang durch all den Schutt eines verlorenen Lebens.

Beruhigen Sie sich, überlassen Sie alles mir. Ich weiß selbst noch nicht, ich will Sie ja nicht verleugnen – ich –

Das mußt! Bini, das mußt! fiel ihm Frau Sanne in die Rede. Deiner Frau zuliebe, deinen Kindern. Hast du Kinder, Bini?

Einen Sohn, seit 14 Tagen –

Einen Sohn hast, – einen Sohn! Frau Sanne lachte unter Tränen. Und der soll auch büßen müssen, – veracht't werden um meiner? – Das wär' ein Verbrechen, Bini. Das darfst net! Es ist die einzige Bitt', die ich an dich richt'. – – Und deine Frau, die Tochter – – das ertragt keine Frau, – kein Engel net. – Hör auf mich, Bini, wenn ich auch schlecht bin, wenn du mich auch veracht'st, – laß mich net sterben mit dem Gedanken, daß ich dein Unglück wär'. – – Nur das net! Ich hab' so z' büßen g'nug. – Bini, versprich mir's! Ich bitt' dich darum!

Johannes lauschte jetzt gierig den Worten Frau Sannes. Sie kam nur seinen eigenen Gedanken entgegen, wenn sie ihn selbst des Furchtbaren entband. Gleichviel wer sie war, – immerhin seine Mutter!

Ich werde das alles wohl bedenken. – Ich bin Ihnen dankbar für den guten Willen, den Sie mir bezeigen, – wenn ich auch noch nicht weiß – Ich kann Sie doch nicht hier lassen, bei diesem Menschen.

Darum sorg dich nicht, Bini! Es wär' wirklich nimmer der Müh' wert. Ich steh' nimmer auf da, das braucht dich net zu kümmern. Grad' kommen mußt noch einmal, grad' einmal noch! – Und erzählen mußt mir alles noch, wie's dir gangen hat, – von dein'm Sohn. Sie ließ das Haupt ermattet zurücksinken und blickte Johannes mit einem Ausdruck an, der nichts gemein mehr hatte mit Susanne Stubensand, – der das dunkle Gewölbe verklärte, das alte Gerümpel um sie her.

Johannes sah ihn, beugte vor seiner erschreckenden Gewalt das Haupt in den Schoß der Frau und weinte.

Ein Geräusch hieß ihn jäh aufspringen. – Ferrol stand vor ihm, grinsend, sich die Hände reibend.

Das ist schön von Ihnen, Herr Doktor, – allen Respekt! Das hab' ich gar nicht geglaubt, – daß ich Ihnen noch so eine Freud' mach'!

Johannes fühlte einen tiefen Haß gegen diesen Menschen. Das war die Finsternis in Person, die vor ihm stand, gewappnet gegen jeden Strahl des Lichtes. Er hatte das Gefühl, ihn zertreten zu müssen wie ein schädliches Insekt. Schweigen Sie hier! herrschte er ihn an.

Seine barsche Stimme weckte Frau Sanne aus der Schwäche, die sie befallen. Sie erblickte Ferrol. Der Friede des Antlitzes verschwand, es verzerrte sich, der Dämon des Hasses blickte daraus. Drohend erhob sie die Faust, die Unterlippe schob sich brutal vor, der stechende Blick der Stubensand traf Ferrol. Hüte dich, Mensch! flüsterte sie mühsam.

Johannes trat zu ihr, reichte ihr die Hand. Schonen Sie sich! – Ich komme wieder!

Sie sah ihn ängstlich, ungläubig an und hielt ihn fest mit beiden Händen. Ein stummes Flehen sprach in seltsamem Kontrast aus den verzerrten Zügen. – Johannes wußte, was es galt.

Mutter! setzte er hinzu.

Da drückte sie dankerfüllt seine Hand, zog sie mit einem rauhen Griff an den Mund und küßte sie.

Johannes wandte sich, eine Schwäche überkam ihn. Kommen Sie! befahl er Ferrol, und ging, ohne sich umzusehen, durch das Gewölbe dem Ausgange zu.

In dem dunklen Winkel vor dem Hause traf er sich mit dem Mann. Er glaubte im reinen zu sein mit sich, gehoben über alle Bedenken und Ängstlichkeiten durch das hohe Leid, das er eben erlebt.

Sie werden sofort einen Arzt zu ihrer Frau holen, und zwar den Doktor Wörmann, Königstraße 3. – Sie werden alles genau befolgen, was er verordnet. Ich stehe für alles ein.

Sehr wohl, Herr Doktor! erklärte Ferrol unterwürfig. Da soll nix fehlen. – Mir tut s' ja selber leid, die Sanne.

Außerdem bin ich gerne bereit, in jeder Weise zu helfen. Ich wünsche sogar, daß Frau Ferrol ihr Geschäft aufgibt und in Ruhe ihr Leben beschließt. An den nötigen Mitteln soll es nicht fehlen.

Sehr schön von Ihnen, Herr Doktor, – aber die Sanne wird's halt nimmer lang machen. – Wie denken Sie's sich dann mit dem Ferrol?

Ich verstehe Sie! Ich soll Ihr Schweigen erkaufen?

Erkaufen, – Herr Doktor! Umsonst ist der Tod – und der kostet das Leben.

Sie werden aber begreifen, daß ein Schweigen für mich keinen Wert hat, das ich selbst brechen will.

Ferrol prallte förmlich zurück. Sie? – Sie wollten –? Ihrer Frau – – der Cassan – – der ganzen Stadt – –. Müssen schon entschuldigen, – aber so läßt sich der Ferrol nicht einfangen. – – Das wär' so ein Fressen für die Leut', – der Sohn vom Stubensand, – und die Tochter von Cassan! – Na, Herr Doktor, – so handeln wir nicht aus! – Ich bin net unverschämt! Sagen wir rund zehntausend Mark, und die Sache ist begraben für alle Zeit! Ist das ein Geld für so was? – Frei und ledig davon, für alle Zeit! Und wegen dem Lumpengeld wollten Sie der Frau den Kummer machen, Sie, Herr Doktor? – Das glaub' ich mein Lebtag nicht.

So glauben Sie es nicht. – Tun Sie, was Sie wollen! Johannes machte Miene zu gehen, und ging doch nicht.

Zum Herrn Polizeirat Möller gehen und sagen: Der Herr Doktor Ohnesorg ist der Sohn von Stubensand, der den Cassan umgebracht hat! Auch noch: Tun Sie was Sie wollen! höhnte Ferrol.

Die Drohung mit dem Möller wirkte seltsamerweise stärker auf Johannes, als wenn sie Klärchen selbst betroffen hätte. Er sah das hämische Gesicht des Verhaßten vor sich, hörte sein Lachen über den Prinzen Hannes. – –

Wie kommen Sie auf den Polizeirat Möller? fragte er.

Sehr einfach! Weil der ›Hahnenkamm‹ eh' schon auf Ihrer Fährte ist. Ich kann ihn weiterführen darauf, bis dahin, wo er 'naus will, – oder abbringen davon, – wie Sie wollen. Also, was wollen S'?

Johannes verlor bereits seine Festigkeit. Er konnte ja Klärchen alles gestehen, ihr allein war er verantwortlich, – und sie wird schweigen, – dem Kinde zuliebe schon, – Sie wird vielleicht mehr, – sie wird gewiß mehr, – die Tochter des Cassan, – während dieser Möller nichts tun wird, als seine Rache befriedigen unter dem Scheine seines gekränkten Gerechtigkeitsgefühls, das nur den Haß kennt und die Verfolgung, – ihm dazu zu verhelfen, wäre nicht groß, sondern einfach töricht. – Andererseits schauerte ihm vor jedem Bund mit diesem Menschen. – – Wer der Finsternis ihr Eigentum entreißen will – – – tönte es in seinem Innern. Er selbst war ihr Eigentum, nach dem sie gierig griff.

Er zögerte, Ferrol drängte. Nur Zeit gewinnen! dachte Johannes. Es war alles so wirr in seinem Kopfe.

Warten Sie wenigstens mit Ihrem Gange zum Polizeirat; ich komme morgen wieder, dieser Tage!

Aber gerne, Herr Doktor, erwiderte Ferrol, freudig überrascht durch diese plötzliche Nachgiebigkeit. Ich kann ja auch zu Ihnen kommen. Es ist so net recht geheuer da. Vielleicht ins Laboratorium, so um neun Uhr, durch die Gartentüre, von der Wasserstraße her. Da merkt kein Mensch was.

Johannes lief es kalt über den Rücken. Das war der Weg, den der Mörder Cassans genommen.

Und doch war es vielleicht besser so, wenn es nicht geheuer hier war. Eine feige Angst beschlich ihn, die Angst des Schuldbewußten. Gut, vielleicht! Ich werde Ihnen noch darüber schreiben. Oder nein, nicht schreiben, kommen Sie! Er hielt sich den Kopf, um sich zurechtzufinden.

Übermorgen um neun Uhr, durch die Gartenpforte. Ich erwarte Sie!

Johannes wartete die Antwort Ferrols nicht ab und eilte aus dem dunklen Winkel, der Kramergasse zu.

Vor der Destillation Ferrols stand ein Mann, die Arme am Rücken, anscheinend die Auslage betrachtend.

Johannes glaubte zu bemerken, daß ihn dieser Mensch scharf von der Seite beobachtete. Er empfand ein eigentümliches prickelndes Gefühl und mäßigte seinen Gang. Langsam, schlendernd ging er die Gasse hinab; einmal pfiff er sogar. Dann stieg ihm plötzlich das Blut in das Gesicht. Immer wieder glaubte er Schritte hinter sich zu hören, doch als er sich umsah, war die Straße leer. Sie kam ihm überhaupt jetzt ganz anders vor. Der Lärm aus den Singspielhallen und Kneipen widerte ihn nicht mehr so an. Er begriff jetzt, wie man hineingehen konnte, gaffen, sich betäuben, fliehen vor sich selbst. Dann faßte ihn von neuem eine namenlose Angst, und er machte, daß er hinauskam.

Er konnte ja noch zurück nach Gundlach. Dann wich er allen peinlichen Fragen aus, die ihn erwarteten. Man war wohl noch beisammen, die ganze Gesellschaft, der Möller, Soran, Klärchen!

Wenn er ihr heute noch alles gestände, was sich zugetragen in dem dunklen Gewölbe. Die Erhebung der Mutter, ihre Qual und schwere Buße. Es mußte sie ja tief bewegen. Wenn er ihr noch einmal klarlegte, daß mit jedem Individuum, das in die Welt tritt, ein neuer Lebens- und Tatenkreis beginnt, daß es völlig losgetrennt ist von der Schuld eines andern, und wenn es auch das wäre, aus dem es seinen Anfang genommen, daß von einem Fluche nicht die Rede sein kann, der mit der Vernunft und jedem sittlichen Gesetz im Widerspruch steht. Alles umsonst! Alle Weisheit, alle Logik half über das Furchtbare nicht hinweg, gegen das sich jede Fiber in ihrem Innersten sträuben wird.

Heute noch nicht, nein, heute noch nicht! Morgen! Oder erst, wenn dieser Ferrol abgetan ist. Dann wird er sich freier fühlen.

So ging er nach der Mandelgasse. Der alte Dominik war nicht wenig erstaunt, ihn zu sehen. Ist denn was passiert?

Nichts ist passiert! Laß doch deine Fragen und mache Licht im Laboratorium!

Kopfschüttelnd folgte der Alte.

Johannes wartete im Garten, bis er zurückgekehrt, seine Geschwätzigkeit fürchtend. Dann trat er erst ein.

Jetzt wirkte der Anblick niederschmetternd: die grüne Lampe, der Tisch, der Stuhl, der dunkle Fleck am Boden. Das ganze Drama gestaltete sich vor ihm, das sich hier einst abgespielt! Er sah den Mörder, seinen Vater, den entsetzlichen Griff! Er sah die Klinge blitzen, hörte das Todesröcheln des unglücklichen Opfers!

Und da saß er seit einem Jahre und kämpfte mit der Finsternis, ihr ureigener Sohn!

Er beugte das Haupt auf den Schreibtisch und brütete dumpf vor sich hin. Was jetzt? Was jetzt?

Soran muß helfen! Ob er nicht doch jetzt Halt macht vor ihm, dem Sohn eines Stubensand? Ob sich sein Blut nicht dagegen empört? Alles Wahn! Ist er ein anderer geworden seit einer Stunde? Oder derselbe geblieben? Ja, war nicht diese Stunde die größte seines Lebens?

Dieser Weg zur Mutter! Hätte ihn jeder gemacht?

Hatte er damit nicht bewiesen, daß er die Erbschaft des Vaters nicht angetreten? Hatte er das nicht schon unzählige Male bewiesen?

Ja, was war denn eigentlich mit diesem Vater, wenn er es mit klar abwägender Vernunft betrachtet, wie ihm, dem großen Psychologen doch zukam, hatte diese Frau in ihren schlichten Worten nicht ein erschöpfendes Bild von ihm gegeben, von ihrem Georg?

Er war der Liebe fähig, wurde geliebt, er arbeitete und sorgte für sie, blauer Himmel war über ihm, da kam der Dämon über ihn, der Alkohol! Dann ging's hinunter, immer hinunter, dem Abgrund zu!

War das der geborene Verbrecher, das furchtbare Tier, das sein unglücksschwangeres Wesen in unberechenbarer Zukunft weitergibt? Nein, das war er nicht! Ein Gefallener war er, nicht der Sohn der Finsternis, sondern ihre leichte Beute. Cassan selber hatte ja so geurteilt, oder irrte er sich?

Johannes stand hastig auf, holte den Karton mit der Tabelle und schlug mit zitternden Fingern die Tabelle G. S. auf.

»Die Intelligenz überwiegt die Instinkte, diese die Gefühle.« Das war ja auch bei ihm der Fall, bei vielen tüchtigen Männern, die er kannte. Dann las er weiter: »Starker Triebmensch, brutal, intellektuell, epileptische Symptome.«

Wo stand da etwas von einer Verbrechernatur, die noch im Kinde zu fürchten wäre, im Enkel?

Plötzlich sah er auf nach dem Schrank. Er erhob sich, machte einen Schritt vor, zögerte, dann öffnete er rasch den Schrank, griff nach dem Schädel des Stubensand.

Jetzt zitterten seine Hände, er hielt ihn weit von sich. Schäme dich, Johannes, dir darf kein Mut mehr fehlen! Dann trat er vor an den Tisch, in das Licht der Lampe, setzte sich und starrte auf das schneeweiße Totenhaupt, auf dem die grünen Lichter der Lampe spielten.

Lange starrte er es an. Sein Blick kroch in die leeren Augenhöhlen, seine Hand befühlte die zarte Wölbung des Hauptes.

Armer Mann! Er ließ sein Haupt auf die Platte des Schreibtisches fallen, daß seine Stirne die kalte des Vaters berührte. Armer Mann!

*

Der alte Dominik sah mit Staunen des Morgens noch das Licht brennen im Laboratorium.

Als er vorsichtig nachsah, erschrak er nicht wenig. Auf dem Ledersofa in der Ecke lag der Doktor angekleidet im tiefen Schlaf. Auf dem Schreibtische, neben der brennenden Lampe, lag ein Totenschädel.

Leise trat er näher. Er hatte sich nicht getäuscht, es war der Schädel des Stubensand! Was hat er denn mit dem so lange zu schaffen gehabt? Den tät' ich mir an seiner Stelle zu allerletzt aussuchen, meinte der Dominik.

Dann nahm er den Schädel, um ihn pflichtschuldigst wieder in den Schrank zu stellen.

Darüber erwachte Johannes. Jäh sprang er auf, bleich, verstört, wie nach einer durchschwelgten Nacht. Er warf irre Blicke auf Dominik. Was machst du da mitten in der Nacht?

Mitten in der Nacht? Sieben Uhr ist's, Herr! Ich tat' mich schrecken, Herr, mit so einem beisammen in der Nacht! Er klopfte auf den Schädel in seiner Hand.

Johannes rieb sich die Stirne, sah um sich. Draußen im Garten schien die Sonne. Da sprang er auf, schalt den Dominik, daß er ihn nicht früher geweckt, abends schon nachgesehen, und eilte hinaus.

Der Dominik sah ihm kopfschüttelnd nach. Da hat's auch nicht das Richtige mit dem! Was er nur wieder mit dem Stubensand gemacht hat? Aber es ist schon so: je größer der Lump, desto lieber ist er die Herren. Ganz naß ist er!

Dominik fuhr mit dem Rockärmel über den Schädel. Es waren die Tränen des Sohnes über den unglücklichen Vater, die er verwischte.


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