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Fünftes Kapitel

Das Haus in der Mandelgasse war mit der Rückkehr Klärchens zu neuem Leben erwacht. Vor dieser blühenden Jugend flohen die düsteren Geister, die jahrelang diese öden Räume bewohnt, oder zogen sich wenigstens in das Hinterhaus zurück, das noch immer unverändert im feuchten Schatten der Ulmen stand.

Marianne war rasch gealtert. Die Sorgen ihrer Stellung wuchsen ihr über den Kopf. Enttäuschung folgte auf Enttäuschung. Der Erfolg Gundlachs blieb weit hinter ihren Hoffnungen zurück. Cassan hatte ihr zuviel zugemutet. Immer mehr drängte sich ihr die Überzeugung auf, daß nur ein Mann imstande sei, diesen fortgesetzten Kampf zu führen, die Anstalt dem eigentlichen Zweck des Gründers zuzuführen.

Andererseits konnte sie zu keinem Fremden das Vertrauen fassen, ohne das sie sich nicht berechtigt fühlte, all die Geheimnisse zu offenbaren, die wohlverschlossen in ihrem Pulte lagen.

Da kam Klärchen zurück. Mariannens Plan, das Kind ferne von allen düsteren Eindrücken ihres Vaterhauses zu erziehen, unberührt von all den Erinnerungen, die auf ihm lasteten, hatte sich glänzend bewährt.

Aus Klärchens Auge leuchtete die Freude, das Glücksverlangen, und der blühende Körper öffnete durstig alle seine Poren dem Leben. Sie hatte die naive Zufriedenheit des Gelehrten geerbt. Sein trockener Humor war bei ihr zur übersprudelnden Laune geworden, während die Harmonie seiner großen Seele, die alle von ihm geschauten und durchwühlten Abgründe nicht stören konnten, trotz der scheinbaren Unruhe der Jugend, jetzt schon aus ihrem ganzen Wesen tönte.

Marianne war erst hochbeglückt, die stolzeste Mutter, dann kam ihr plötzlich ein arges Bangen. Sie fühlte sich entsetzlich alt neben Klärchen, aufgerieben, dem Anstürmen solcher Jugendkraft nicht mehr allein gewachsen; auch Gundlach war nicht das Feld dafür.

Lag es im unabänderlichen Grunde der Tatsachen, oder war es ihre Schuld, fehlte ihr das ›dritte Ding‹ Cassans, – die Liebe! Oder war ihr Blick nun einmal für immer durch die Vergangenheit getrübt, trotz allem scheinbaren Blühen und Gedeihen, all der frohen, gesunden Gesichter um sie her, all der Ehren und Lobsprüche, die sie im Laufe der Jahre eingeheimst, – sie wurde Gundlachs nicht froh. Sie konnte dort nicht Wurzel fassen.

Klärchens Rückkunft war ihr ein willkommener Anlaß, ihren Wohnsitz wenigstens für die Winterszeit wieder in die Mandelgasse zu verlegen.

Und noch etwas, eine längst in der Einsamkeit groß genährte Hoffnung bewegte Marianne: Klärchen wird ihre schweren Bedenken betreffs Gundlachs Zukunft lösen, indem sie einem Manne die Hand reicht, der ihres Vertrauens würdig ist, der das Werk Cassans endgültig in die von ihm gewollte Bahn lenkt.

O, sie wird eifersüchtig wachen über ihr Kleinod, alle Unberufenen fernehalten, den Berufenen aber, wer es auch sei, mit offenen Armen empfangen. Und Klärchen soll wissen, was sie zu vergeben hat, nicht nur eine schöne Mädchenhand, sondern ein heiliges Vermächtnis, für das der Vater gestorben, die Mutter gelitten. Die Tochter eines Cassan darf sich nicht vergeben, wie irgend ein anderes Mädchen, nur der Stimme des Herzens folgend, oder einer Liebeswallung.

Zu ihrer Beruhigung bewahrte Klärchen mit so inniger Liebe und Verehrung das Andenken des ihr kaum mehr erinnerlichen Vaters, daß Marianne ihr neues Amt gar nicht schwer dünkte.

Jetzt nach drei Jahren ihrer Anwesenheit regte sich eher eine andere Befürchtung in Marianne. Klärchen gaukelte wie ein Schmetterling über das Leben hinweg, der gar nicht daran denkt, sich von irgend einer Hand haschen zu lassen. Daran konnte auch das Haus in der Mandelgasse, mit seinem trotz aller Geselligkeit ernsten Gepräge, nichts ändern. Die dunklen Gänge und unheimlich knarrenden Treppen, die niedrigen Hallen und geheimnisvollen Winkel, das wurde für sie alles zum farbenprächtigen duftigen Haine, über dem sie ihr harmloses Gaukelspiel trieb.

Wiederholt hatten sich schon Bewerber gemeldet, welche Mariannens Wünsche wohl gerecht zu werden versprachen, aber wehe ihr, wenn sie nur eine Andeutung machte, da war das liebliche Kind plötzlich wie verwandelt, ein fester Wille, eine trotzige Energie trat an die Stelle kindlicher Hingebung, der schimmernde Schmetterling wandelte sich zum störrigen jungen Falken, der sich gegen jede Fessel sträubt.

So war wieder ein Winter angebrochen. Marianne fühlte sich noch leidender und öffnete doch weit die Pforten des Cassanhauses. Wenn in diesem Winter Klärchen sie nicht erlöste, dann konnte es leicht zu spät sein für sie.

Marianne liebte es, an gewissen Tagen ihre alten Freunde und ›Fachgenossen‹, wie sie sich ausdrückte, beim Tee um sich zu versammeln. Das waren ihre Erholungsstunden, gegenüber den geräuschvollen Gesellschaftsabenden, an denen Klärchen zuliebe mehr die Jugend die Räume füllte.

Sie verfolgte damit noch den weiteren Zweck, Klärchen, die dabei nicht fehlen durfte, an eine ernstere, für ihre Zukunftspflichten belehrende Unterhaltung zu gewöhnen, ihr Interesse für das ›Fach‹ anzuregen, eine Absicht, die ihr auch sichtlich gelang, wenn auch der heitere, dem Leben zugekehrte Sinn des Mädchens noch keinen tieferen Eindrücken zugänglich war.

Es war in der Weihnachtswoche. Draußen fegte der Schnee durch die Mandelgasse, klirrten die Blechschilder, flackerten die Gaslichter. Ein richtiger Plauderabend am Kamine.

Der Vater Mariannes, Professor Moseli, mit seinen ehrwürdigen, etwas kokett getragenen schneeweißen Locken, die ihm bis auf die Schulter fielen und dem ausgeprägten Gelehrtenkopf eine späte Würde verliehen, – Justizrat Schäfer, der alte Freund und Gegner Cassans, dessen Inquisitorenblick eine jahrelang in Frieden genossene Pension die Schärfe genommen, – Doktor Brandeis, der Hausarzt, dann noch ein auffallend massiv gebauter Mann, der sowohl seinem noch jugendlichen Alter als seinem, keine besonderen geistigen Qualitäten, eher ein ausgesprochenes Philistertum verratenden Antlitze nach, wenig in die Gesellschaft paßte. Eine feuerrote Schmarre, tief in die kräftige Stirne geschnitten, so daß sie zwei förmliche Wulsten bildete, war das einzige Charakteristische an ihm, – Polizeirat Doktor Möller.

Er hatte den Bezirk, zu dem Gundlach gehörte, unter seiner Amtsführung, und Marianne hatte oft mit ihm amtlich zu verkehren, außerdem galt er für einen hoffnungsvollen Justizmann, für viele allerdings für einen der ausgesprochensten Scharfmacher, besonders in dem politischen Teil seines Faches.

So kam er in das Haus Cassans, zu dem wissenschaftlichen Tee, zu welchem auch Klärchen wöchentlich einmal verurteilt war.

Heute war ein ganz besonderer Abend, voll und ganz dem großen Toten geweiht. Zu Weihnachten war der Cassanpreis fällig, der alle zehn Jahre der besten Lösung der aufgeworfenen Frage: über das Verhalten der menschlichen Gesellschaft gegenüber dem Verbrechertum, – zuerkannt werden sollte.

Der Bestimmung Cassans nach sollte eine Jury hervorragender Fachmänner das Urteil fällen, mit dem Beisatz, daß, im Falle sich die Stimmen auf zwei Arbeiten gleichmäßig verteilen, dem jeweiligen Vorstand der Kolonie ›Gundlach‹, vorerst also Frau Marianne Cassan, die Entscheidung zustände.

Um jede Beeinflussung, sei es durch einen bereits anerkannten Namen, sei es persönliche Beziehung und Sympathie, vorzubeugen, sollten sämtliche Preisaufgaben nur durch ein Motto bezeichnet, mit verschlossen beigelegter Namenangabe, an die Jury eingeschickt werden.

Diesmal traf der erwähnte Fall wirklich zu und wurde so, der Bestimmung nach, Frau Cassan die Entscheidung überlassen.

Marianne hatte sich alle Mühe gegeben, die beiden Arbeiten, die ihr vorgelegt wurden, womöglich im Geiste ihres Gatten, auf das sorgfältigste zu prüfen.

Die eine trug das Motto: ›Erkenne dich selbst!‹ Eine edle Gesinnung sprach daraus, ein mitfühlendes Herz. Der Schwerpunkt war auf die Gemeinsamkeit des Bösen in der Menschenbrust gelegt. In jedem steckt ein Verbrecher, derselbe braucht nur an der empfindlichen Stelle berührt zu werden, und er erhebt sich.

Marianne schien die eigentliche Frage zu wenig berührt. Der Verfasser gab mehr eine Psychologie des Verbrechens, als eine Anweisung zur Abwehr.

Da wirkte die zweite Arbeit ganz anders auf sie: ›Nicht Wohltat – Pflicht!‹ Ihre Ausführung lag im Motto schon begründet, das sie von vornherein anzog. Sie deckte sich erschreckend mit ihrer eigenen Erfahrung. Die Wohltat war das Übel! Sie demoralisiert, wenn auch noch so vorsichtig, noch so reinen Herzens erwiesen. Sie birgt in köstlicher Schale einen verderblichen Kern.

Ein Ausspruch machte Marianne stutzig: »Auch ihm, dem Wohltäter, auf welch sittliche Höhe er sich auch geschwungen haben mag, verstellt die ›Scham‹ den Weg zur Gerechtigkeit. Sie schämen sich beide, der Empfangende und der Gebende, und ihre Hände berühren sich immer mit unbewußter Scheu. Wie viele der sogenannt Geretteten hat diese ›Scham‹ wieder zurückgetrieben in die Finsternis, der sie entnommen.«

Überhaupt sprach aus der ganzen Arbeit Erlebtes, Selbstempfundenes, gegenüber dem mehr doktrinären, wenn auch von der edelsten Bestrebung geleiteten, des ›Erkenne dich selbst‹.

Einen Augenblick dachte sie wirklich an Johannes. Sie hatte ihn zwar seit zwei Jahren aus den Augen verloren, nicht ohne Absicht. Eine dumpfe Furcht vor ihm verließ sie nie. So wollte sie wenigstens alles vermeiden, die abgerissene Verbindung wieder anzuknüpfen. Rasch riß sie sich auch jetzt wieder von diesem abenteuerlichen Gedanken los. Dem letzten Berichte aus S... nach, aus der Hand des Universitätsrektors, war nicht zu erwarten, daß aus dem Menschen etwas Rechtes geworden war, eher das Gegenteil war zu befürchten.

Marianne gab ihre Stimme der Arbeit mit dem Motto: ›Nicht Wohltat, – Pflicht‹.

Morgen wird sie den Namen des Preisträgers erfahren. Vor zehn Jahren, als der Preis zum ersten Male zur Verteilung kam, lud sie den Gewinner ein, persönlich zu erscheinen und bei der Gelegenheit die Sammlung des Stifters und die Kolonie Gundlach zu besichtigen. Es war ein junger Gelehrter aus Wien, mit dem sie lange Zeit in höchst anregendem Briefwechsel stand, bis er vor wenigen Jahren in Ausübung seines Berufes an der Cholera starb.

Damals war Klärchen im Pensionat. Sie erinnerte sich noch wohl, wie sie bedauerte, daß der geistvolle, liebenswürdige Mann nicht um zehn Jahre später kam. – Wer weiß, wie es dann käme! Der Träger des Cassanpreises der Gatte Klärchens! Diese Kombination hatte damals einen unendlichen Reiz für sie.

Jetzt war Klärchen im Hause, und wieder stieg der sonderbare Gedanke in ihr auf. Sie war immer etwas Fatalistin. Warum soll sie denn diesmal eine Ausnahme machen, den Preisträger nicht einladen, ganz abgesehen von allem. Und wenn? – Der Name Ohnesorg tauchte wieder in ihr auf. Das seltsame Motto, der Inhalt der Arbeit brachte sie immer wieder darauf. Und wenn – –! Dann wird er es nicht wagen, seine Augen zu Klärchen zu erheben.

Und Klärchen? Da regte sich schon wieder die ›Scham‹. »Sie schämen sich beide, der Empfänger und der Empfangende!« Aber das ist ja nicht so, – die Stimme der Natur selbst wird, – aber er kommt ja gar nicht, wenn er es wirklich ist – wieder aus Scham! –

Jetzt errötete sie selbst vor sich. Und sie fügte dem Manuskript, dem sie ihre Stimme gab, einen Brief an die Jury bei, in welchem sie bat, den Preisträger in ihrem Namen einzuladen, den Preis persönlich aus ihren Händen zu empfangen.

Marianne fand an diesem Abend heftigen Widerspruch. Justizrat und Amtsrichter hatten sich gegen sie verbündet; besonders der letztere bedauerte entschieden die von ihr getroffene Wahl.

Er war ein prinzipieller Gegner der ganzen neuen Richtung, die aus dem Verbrecher immer mehr einen Kranken machen wollte, für dessen traurigen Zustand mehr oder minder die schlechten moralisch-hygienischen Maßregeln der Gesellschaft verantwortlich gemacht wurden. Für ihn war und blieb er der Schädling, der ausgerottet werden mußte, wo, unter welchen Umständen er sich fand.

Er war auch im Prinzip gegen die Versetzung in ein anderes Erdreich, das dadurch nur ebenfalls verdorben wird. Vollständige Ausrottung, beziehungsweise Isolierung war sein feststehendes Prinzip.

Das Motto: ›Nicht Wohltat – Pflicht‹ versetzte ihn in eine Erregung, die man dem trockenen Manne gar nicht zugetraut hätte.

Und das wagt man Ihnen vorzulegen – die Narbe auf der Stirn glühte feuerrot auf – einer Dame, die ihr ganzes Leben diesem undankbaren Pack opfert! Es war also nach diesem Herrn nur die verdammte Pflicht und Schuldigkeit Ihres verstorbenen Gatten, eine Kolonie Gundlach zu gründen! Und das können Sie billigen?

Die Pflicht Cassans war es allerdings streng genommen nicht, entgegnete Marianne. Der Staat hätte eben längst dafür sorgen sollen, daß sich einem Manne wie Cassan das dringende Bedürfnis einer solchen Anstalt überhaupt nicht aufdrängt. Der Staat hat die Pflicht, für genügende Gundlachs zu sorgen, das meinte der Verfasser. Ja, er hat die noch höhere Pflicht, dafür zu sorgen, daß keine Gundlachs mehr nötig sind, indem es keine verwahrlosten Kinder mehr gibt.

Eine Utopie, Frau Marianne, erklärte der Justizrat, an der Ihr Preisträger bald wieder etwas anderes auszusetzen hätte. Der Wohltat ihre Berechtigung absprechen, heißt in meinen Augen die schönste Blüte am Menschenbaum vernichten; nur ein ganz unmoralischer Mensch, – bitte, ich kann mich nicht anders ausdrücken, – kann das wagen.

Oder einer, der selbst der Wohltat seine Existenz dankt und einfach zu hochmütig ist zur Dankbarkeit. Solche Leute kenne ich auch. Wenn Sie Ihre Wahl nur nicht bereuen, erklärte der Richter.

Lasse dir nur nicht Angst machen, Mama, wandte Klärchen ein, welcher der Amtsrichter von Anfang an eine heftige Antipathie einflößte. Dein Kandidat hat ganz recht! Ich habe es an mir selber erfahren, draußen in Gundlach. Jawohl, Herr Amtsrichter, ich gestehe es offen, – es ist doch immer Mitleid, was ich fühle – und das Mitleid verdirbt mich und das Kind. – Mich macht es hochmütig, das Kind kränkt es.

Du, Klärchen, hochmütig! meinte Großvater Moseli, der dem Streite der Meinungen mit behäbig über den Leib gekreuzten Händen zusah.

Ja, ja, hochmütig! Ich dünke mich besser, höherstehend, – ich sehe herab, nicht gerade aus.

Aber das ist doch nicht mehr als billig, Ihre ganze Stellung, Ihre Erziehung, Ihr Name. Der Justizrat wurde jetzt auch erregt.

Es ist eben nur billig nach unseren Anschauungen, und unbillig nach denen unseres Preisträgers, erklärte Klärchen mit einer Dialektik, welche Marianne sichtlich viel Freude machte. Sie lächelte und nickte Klärchen beifällig zu.

Hören Sie, gnädiges Fräulein, begann jetzt der Amtsrichter, wenn Sie auf den Herrn hören, dann müssen Sie sich zuletzt noch eine Ehre daraus machen, von einem Gundlacher zum Altare geführt zu werden.

Und warum nicht? erklärte Klärchen feuerrot. Wenn aus dem Gundlacher der rechte Mann geworden wäre, wüßte ich nicht – – Sie sah sich wie fragend im Kreise um.

Marianne hatte sich aus ihrer nachlässig zurückgelehnten Stellung erhoben und rückte nervös, was ihr gerade unter die Finger kam. Du gehst etwas zu weit, mein Kind, viel zu weit.

Na, das wundert mich, daß Sie das zugeben! meinte der Amtsrichter, verzweifelt den Kopf schüttelnd.

Klärchen nahm die Sache auffallend ernst, ihre Wange rötete sich vor Eifer. Glaubst du, daß Papa nicht so weit gegangen wäre, Mama? fragte sie.

Marianne war sichtlich verwirrt.

Großpapa? wandte sich Klärchen an Moseli, der sich in seiner apathischen Ruhe nicht stören ließ.

Allerdings, da hat sie recht, Marianne. Cassan wäre so weit gegangen; aber das ist kein Beweis, mein Kind, versteh mich recht! Dein Vater war ein verehrungswürdiger, ein bedeutender Mann, aber für das praktische Leben hatte er wenig übrig. Da ist es schon besser, du hältst dich an die Mutter.

Und wenn es darauf ankäme, hielte es die Mama doch mit dem Vater und nicht mit den Herren, nicht wahr, Mamale? Ich kenne dich besser.

Frau Marianne ging auf das Zutrauen der Tochter sichtlich nicht ein.

Aber es kommt ja nicht darauf an, Kinder. Werft doch keine spitzfindigen Fragen auf, das stört einem ordentlich die Ruhe, erklärte der Großpapa, an seiner Zigarre saugend.

Der Diener meldete Professor Blessenburg.

Na also, jetzt werden wir ja den Namen des Glücklichen erfahren, meinte Großvater Moseli. Wer weiß, ob die Herren dann nicht etwas milder urteilen. Ich bin etwas vorsichtig in diesem Punkt.

Ich nicht, Herr Professor, erklärte der Amtsrichter. Ich bleibe bei meinem Urteil.

Marianne war aufgestanden, um dem Angemeldeten entgegenzugehen.

Ein auffallend kleiner Herr trat ein mit lebhafter Bewegung, die eine sichtliche Aufregung noch erhöhte, – Professor Blessenburg, Psychologe seines Faches, – saß in der Jury.

Nun, bringen Sie uns den Namen? fragte Marianne gespannt.

Name? Es ist überhaupt kein Name. Namen bekommen keinen Preis mehr heutzutage. Namen können auch das nicht wagen, was so ein homo ignotus wagt, sehr einfach! Ein homo ignotus, meine Herren! Der Sprecher gab sich bei jedem Wort einen förmlichen Schneller nach oben. Oder hat vielleicht schon einer von Ihnen den Namen ›Ohnesorg‹ gehört?

Der Professor ließ seine Brille fallen vor Erstaunen über die unerwartete Wirkung dieses ihm völlig unbekannten Namens.

Marianne hielt ihn beim Arme und fragte in ganz unverhülltem Tone, die höchste Spannung in den Zügen: Johannes – Johannes Ohnesorg?

Großpapa Moseli hatte sich förmlich um seine behäbige Achse gedreht, die olympischen Locken schüttelnd, – während der Amtsrichter mit einem Sprung auf den Beinen stand.

Habe ich recht gehört? Ohnesorg! Johannes Ohnesorg? Die Narbe auf seiner Stirn schwoll förmlich an, dann brach er in ein geradezu unanständiges Lachen aus und schlug sich mit beiden Händen auf die Schenkel.

Den überraschendsten Anblick aber bot Klärchen. Erst wurde sie bleich, dann feuerrot, dann klatschte sie wie in Kind in die Hände. Mama! Hast du's gehört? Unser kleiner Johannes! Ein Gundlacher Kind! Ist das nicht himmlisch? Gott! Wenn das der liebe Papa erlebt hätte! – Unser kleiner Johannes! –

›Prinz Hannes‹! rief der Amtsrichter spöttisch hinein.

Professor Blessenburg blickte ratlos auf diese allgemeine Aufregung. Ja, sagen Sie mir nur – – Sie scheinen ja – – Wer ist denn dieser Mensch?

Das will ich Ihnen sagen: ein ausgemachter Schwindler! erklärte der Amtsrichter mit brutaler Stimme.

Das müßten Sie denn doch erst beweisen! erklärte Marianne, sichtlich unangenehm von dieser brüsken Äußerung berührt.

Das ist eine Lüge! sagte Klärchen dem Amtsrichter mit blitzenden Augen ins Gesicht.

Der Amtsrichter stemmte jetzt seine derben Fäuste auf den Tisch, als ob er im Gerichtssaale spräche:

Meine Herren! Was ist ein Mann, der sich für den Sprößling eines königlichen Hauses ausgibt, während er von, wollen wir sagen, unbekannten Eltern, aus einer Anstalt verwahrloster Kinder, aus Gundlach stammt? Was ist der Mann?

Die Herren schwiegen mit bedenklichen Mienen.

Das ist aber unrichtig, daß er sich dafür ausgegeben, erklärte Marianne, sichtlich von ihrem kranken Herzen wieder arg bedrängt, sondern man hat ihm diesen törichten Glauben förmlich aufgedrängt, seine besten Freunde sogar. Ich bin sehr genau über den Fall unterrichtet und muß Sie schon bitten, Herr Amtsrichter – –! Ich bin ja selbst überrascht – – aber derartige Angriffe muß ich entschieden – – Marianne war sehr bleich geworden, ihre Sprache stockte, ihre Hand griff unwillkürlich nach dem Herzen.

Klärchen schmiegte sich an sie, jetzt doppelt empört über den verhaßten Ruhestörer.

So! – Der Amtsrichter reckte sich und nahm einen förmlichen Anlauf. Nun, dann zwingen Sie mich wohl – – Da sehen Sie her! Er griff mit der Hand nach der furchtbaren Narbe, welche die Stirne spaltete – das ist das Andenken Ihres Herrn Ohnesorg, das man, denk' ich, nicht so rasch vergißt.

Das Sie gewiß redlich um ihn verdient haben werden, erklärte Klärchen.

Ei, Fräulein Klärchen ist ja ein scharfer Anwalt für den Herrn. – Wenn ich Ihnen aber sage, daß er mir den Hieb nicht im ehrlichen Kampfe beigebracht, wie unter Männern Sitte, sondern wider alle Regeln des Duells, in blinder Wut, auf kein Kommando, auf keinen Sekundanten achtend, daß er mich mit roher Gewalt niedergeschlagen hat, daß es ein Zufall war, daß er nicht zum gemeinen Mörder an mir geworden ist, – verteidigen Sie ihn dann noch, Fräulein Klärchen?

Marianne machte bei dem Worte ›Mörder‹ eine jähe Bewegung, sie mußte sich setzen.

Klärchen ließ sich nicht irremachen. Das verstehe ich alles nicht, aber eins verstehe ich wohl nach Ihrem jetzigen Benehmen: daß Sie ihn zum äußersten gereizt haben werden.

Ich habe ihm nur die Wahrheit gesagt, allerdings vor der ganzen Studentenschaft, daß er von Gundlach stammt und nicht von einem königlichen Hause, wie er sich – das gebe ich ja zu – selbst weisgemacht.

Klärchen war einerseits derart entrüstet über diesen rücksichtslosen Angreifer, andererseits derart im Banne einer unvergeßlichen Jugenderinnerung, die sich an den Namen Ohnesorg knüpfte, daß sie blindlings Partei ergriff.

Und wer sagt Ihnen denn, daß er es sich nur weisgemacht, – daß er es nicht wirklich ist, wofür man ihn hielt? Gundlach doch nicht?

Aber ich sage es dir, Klärchen, ein für allemal! erklärte Marianne mit auffallender Schärfe. Und Ihnen allen, meine Herren, – im Interesse des Mannes selbst, – Johannes Ohnesorg ist der Sohn armer, unglücklicher Eltern, nach denen zu forschen für ihn nur ein Unglück wäre. Cassan bestimmte ihn noch kurz vor seinem Tode aus Gründen, die mir nicht bekannt sind, zur Aufnahme in seine Stiftung. Er war der erste Zögling und genoß als solcher die Gnade eines königlichen Stipendiums. – Das ist die nackte Wahrheit, die mit der Tatsache der Preiserwerbung, meiner Ansicht nach, nichts zu tun hat. – Ich denke, wir können die unerquickliche Debatte darüber schließen. – Ja, ich bitte die Herren darum! erklärte Marianne mit sichtlicher Anstrengung.

Hast du von dem Mann – fragte Großpapa Moseli den Verkündiger dieser aufregenden Nachricht.

Doktor der Philosophie in Halle. Weiter kann ich keine Auskunft geben.

Hast du denn den Doktor Ohnesorg eingeladen, persönlich zu kommen, wie wir vor zehn Jahren getan, Marianne?

Auch das ist geschehen, ehe ich den Namen wußte.

Sonst wäre es wohl nicht geschehen, meinte der Justizrat mit bedenklicher Miene.

Wäre es sonst nicht geschehen, Mama? fragte Klärchen mit einer auffallenden Spannung in den Zügen. Ich dächte, erst recht – als Zögling von Gundlach! Das ist doch eine Ehre für Gundlach, – und für den armen Papa erst! Eigentlich sollten wir ja ein großes Fest feiern!

Der Amtsrichter lachte verkniffen.

Es wäre immer geschehen, Klärchen, erklärte Marianne gepreßt. Gewiß, wie vor zehn Jahren, – aber ein großes Fest feiern wir nicht – Sie atmete schwer auf und rang nach Luft. Das kannst du nicht verlangen. – Sie fuhr mit der Hand über die bleiche Stirn und stützte sich auf die erschreckte Tochter. – Die Herren werden mich entschuldigen, wenn ich mich zurückziehe. Ich fühle mich nicht recht wohl. – Begleite mich, Klärchen.

Als Marianne ihr Zimmer betreten, ließ sie sich erschöpft auf den Divan sinken. Sie las wohl in dem Auge Klärchens eine Frage. Es handelt sich nicht um diesen Ohnesorg, – das wäre ja töricht, – im Gegenteil – – gewiß – ich weiß selber nicht – Ach Gott, Klärchen – – Sie klammerte sich, wie von einem plötzlichen Angstgefühl befallen, an ihr Kind und sah mit flehenden Augen zu ihm auf. Es kann mir einmal plötzlich etwas zustoßen, – es wird, Klärchen, – ich fühle es, es wird – – dann stehst du allein, ganz allein! Das macht mich so, – – ich habe dir noch viel zu sagen, – so viel Wichtiges, – höchst Wichtiges –

Aber, Mamale, nur jetzt nicht, du regst dich ja so auf, ein andermal – wann du willst, – und ich will alles in mein Herz aufnehmen, als käme es mir vom Himmel. Verlaß dich darauf, Mamale, nur jetzt nicht, heute nimmer, – ich bitte dich – –

Nein, heute nicht, könnt' ich auch gar nicht, – aber nicht wahr. Klärchen, wenn er vielleicht doch kommt, dieser Ohnesorg – dann – – dann – – Marianne rang um jedes Wort, – warn' ich dich, mein Kind, – er ist zu leidenschaftlich, zu zügellos. – Du hast es ja von dem Amtsrichter selbst gehört, wie er – – er hat sich also nicht gebessert –

Der Amtsrichter ist ein böser, häßlicher Mensch, wandte Klärchen sanft ein. Kein Wort glaube ich ihm!

Aber mir mußt du glauben, Klärchen, deiner Mutter! Er hat sich nicht gebessert, sage ich dir, – er wird sich auch nicht bessern. Das liegt in seinem Blute.

In seinem Blute? fragte Klärchen erstaunt.

Nun ja, in seiner ganzen Anlage, meine ich. – Kurz, ich will nicht, daß du ihm nähertrittst, – alte Erinnerungen austauschest, – ich will es nicht! Übrigens kommt er nicht, – nur für den Fall. – Jetzt lasse mich, mein Kind, – ich brauche Ruhe, – und morgen, Klärchen, morgen sprechen wir uns aus. Marianne drückte einen langen, innigen Kuß auf Stirne und Mund ihres Kindes.

Aus dem Teezimmer klangen die lärmenden Stimmen der Herren.

Warnen Sie Ihre Frau Tochter! sagte der Amtsrichter zum Großpapa. Wenn er mir unterkommt, ich mache kurzen Prozeß!

Klärchen ballte die kleinen Fäuste und schlich an der Türe vorüber in ihr Zimmer.

Marianne hatte durch ihr unbedachtes Vorgehen das gerade Gegenteil des Gewollten erreicht.

Johannes stand für Klärchen mit einemmal wieder im Mittelpunkt ihres Interesses. Sie sah den schönen Knaben wieder zu ihren Füßen knien, voll Glauben an ihren Schutz in seinen großen blauen Augen.

Schon damals war die Mutter gegen ihn so auffallend hart, lieblos fast. Seltsam! Gerade diesem Knaben gegenüber, dem Vermächtnis des Vaters, über das sie sonst mit eifersüchtiger Liebe wachte. – Und jetzt wieder dieselbe Erscheinung!

Keine Spur von Freude, daß ein Gundlacher diesen seltenen Sieg errungen, im Gegenteil, als ob sie Furcht vor ihm hätte, – – vor seinem Kommen – – Die seltsame Warnung! Leidenschaftlich! Zügellos! Das mag er damals wohl gewesen sein! – – Er hat mit der Lösung der Preisaufgabe bewiesen, daß er unermüdlich an sich gearbeitet, nach dem Höchsten gestrebt, – – aber trotzdem hat er sich nicht gebessert!

Etwa weil er diesem häßlichen Doktor Möller einen tüchtigen Hieb versetzt hat? – Ganz recht hat er getan! Er war jedenfalls schon damals sein erbitterter Feind. Ja, alle sind sie seine Feinde, alle, die Mutter nicht ausgenommen, die ganze Welt wohl, und trotzdem hat er sich durchgerungen, ist ein tüchtiger Mann geworden, hat sich Platz geschaffen.

Wenn er nur käme, an ihr sollte er gewiß eine Freundin finden.

Klärchen hatte seit Jahren kaum mehr an diesen Ohnesorg gedacht, und jetzt füllte er plötzlich ihre ganze Mädchenseele. Wie ein Held stand er vor ihr, alle Angriffe und Schmähungen, alles Vorurteil, alle Feindschaft bildeten für sie nur eine Gloriole um sein Haupt, das in ihren Träumen dasselbe Kinderhaupt war, das sich vor ihr einst in heißem Flehen gebeugt.

Held und Kind! Das war eine gefährliche Vision, die ihre Wangen noch im Schlafe purpurn färbte. –

*

Der Schneesturm hatte noch immer nicht nachgelassen. Die Mandelgasse war kaum passierbar. Der Schnee fing sich wie in einem engen Kamine und spottete aller Besen und Schaufeln, die sich gegen ihn in Bewegung setzten. Der Verkehr stockte vollständig.

Zwei Herren, die einen Tag nach dem streitbaren Tee bei Frau Cassan vormittags elf Uhr die Gasse betraten, fanden nicht einmal eine Spur, in die sie treten konnten.

Der eine, ein schlanker Mann in kostbarem Biberpelz, im tadellos blitzenden Zylinder, verriet auf den ersten Blick den Aristokraten, – der andere, breitere, trug einen einfachen schwarzen Radmantel, einen weichen Hut, tief in den Nacken gesetzt, wohl um dem Sturme zu trotzen.

Sein resolutes Schreiten im tiefen Schnee, von einem derben Stocke unterstützt, vollendete den Gegensatz zu seinem Gefährten, der sich sorgfältig die besten Stellen aussuchte und eher ein unbehilfliches Wesen zeigte.

Wenn nur dein verehrter Meister eine testamentarische Bestimmung getroffen hätte, daß der Weg zu seiner Sammlung offengehalten werden muß. Das ist ja ganz unmenschlich! bemerkte der Herr im Pelz.

Per aspera ad astra! erwiderte der andere. Dieser Cassan hätte sich durch eine ganze Lawine gegraben, nur um einen Schädel davon in die Hand zu bekommen.

Einen einzigen ›berühmten‹ Schädel, – nicht wahr? Der Herr im Pelze lachte. Und dir blüht ein reizender Mädchenkopf mit langen schwarzen Zöpfen! Du tust dir freilich leicht, – aber ich – –

Blüht er dir nicht, wenn er überhaupt noch so reizend ist? Da kennst du die Mädels aber schlecht, – ein Graf Soran und ein armer Waisenknabe wie ich –

Ein sauberer Waisenknabe, der preisgekrönte Sieger, dem ihr Vater noch aus dem Grabe heraus den Kranz reicht!

Lieber Freund, – was ist in Mädchenaugen ein Kranz gegen eine Grafenkrone? Fm übrigen geniere dich gar nicht, – offen gesagt, mich interessiert augenblicklich die Mutter mehr als die Tochter. – Da hätte ich dabei sein mögen, wie sie meinen Namen hörte! Den Ärger, daß sie mich selbst gewählt! Das muß ein Bild gewesen sein!

Das glaube ich einfach nicht von dieser Frau, entgegnete der Freund. Da bist du wahrscheinlich wieder höchst ungerecht.

Dann glaube deinen eigenen Augen, wenn ich ihr sage, daß du auch unter den Bewerbern warst, noch dazu zur engeren Wahl, ihr selbst vorgelegt. – Das hat mir nämlich der Blessenburg geschrieben. – Die Wut! – Oh, die Frauen lerne mich kennen! Sie lieben und hassen, dazwischen gibt es nichts, – und diese Frau haßt mich!

Aber Johannes, warum soll sie dich denn hassen? Weil du einmal ein wilder Junge warst? Dann wäre sie einfach töricht und – das ist sie nicht.

Ja, warum? – Warum?

Die beiden Männer standen vor dem Cassanschen Hause. Der mit dem Schlapphute trat zurück und sah die Front hinauf. Hier muß es wohl sein, der Beschreibung nach. Dann zog er den altertümlichen Glockenstrang aus schwerem Eisen.

Ein dumpfer Hall drang heraus, der sich in dem ganzen Hause fortzupflanzen schien, um dann in leisen wimmernden Schwingungen, langsam, wie in weiter Ferne, zu ersterben.

Wo ich eine solche Glocke schon gehört haben mag? Seltsam! meinte der mit dem Schlapphute.

Das wird dir gleich einfallen, es gibt nicht viele solche Glocken, erwiderte der Gefährte, genial gestimmt für die Cassansche Sammlung!

Der andere hörte nicht mehr auf die Glocke, nicht mehr auf den Gefährten, sein Blick war starr auf das vorspringende Erkerfenster gerichtet. Er hatte hinter den geschlossenen Vorhängen deutlich einen Schatten erblickt.

Jetzt schlürft etwas heran! sagte der Freund, ganz tote in den alten Märchen.

Schritte näherten sich innen über Steinfliesen. Das krause Schloß mit den Drachenköpfen knarrte langsam, schwer öffnete sich der massive Torflügel. Ein kleiner Alter öffnete, immer noch der Nachfolger Ferrols. – Ob die Herren in die Sammlung geführt sein wollten?

Vorerst zu Frau Professor Cassan, erklärte der mit dem Schlapphut, dem Alten eine Karte überreichend.

Vergebens gab sich der Alte Mühe, im Zwielicht der Halle zu lesen.

Johannes Ohnesorg, half ihm der Fremde darauf. Und hier, er reichte die Karte des Freundes, Graf Soran. Die gnädige Frau wird für uns sicher zu Hause sein, – gehen Sie nur.

Johannes sah sich, während er sprach, neugierig in der Halle um.

Sie ist aber wirklich nicht zu Hause, meine Herren, erklärte der Alte mit grämlicher Stimme, nur das Fräulein, und das empfängt keine Herren. Wenn Sie in die Sammlung wollen, – ich bin der Führer.

So sehen wir uns doch zuerst die Sammlung an, meinte Graf Soran, unterdes kann die gnädige Frau nach Hause kommen.

Der Alte holte die Schlüssel aus seiner Loge und stampfte durch den verschneiten Garten voraus dem Laboratorium zu, das jetzt die Sammlung enthielt.

Johannes blieb jeden Augenblick stehen und sah sich rings um.

Wird wohl wenig besucht, die Sammlung? fragte Soran den Führer.

Der sah mißtrauisch auf den vornehmen Herrn, mit dem tadellosen Zylinder. – Der Fremde ärgerte ihn sichtlich.

Wird Ihnen wohl nicht extra gefallen. Das ist mehr für die Herren von der Wissenschaft.

Soran lachte. Siehst du, Johannes, ich mache in dem Hause keinen guten Eindruck. – – Das ist ja ein Herr der Wissenschaft. Soran deutete auf Johannes. Und was für einer! Eine künftige Leuchte!

Auch der Blick, der diesen traf, war nicht vertrauensvoll. Der Zylinder Sorans hatte den Alten vergrämt.

Jetzt öffnete er die Türe links – Ein modriger Wintergeruch drang heraus, eisige Luft, wie aus einem Gewölbe.

Der Alte räusperte sich und begann im nüchternen Führertone: Hier, meine Herren, ist das Studierzimmer des berühmten Doktor Cassan. Er war Professor der Anatomie an der hiesigen Universität und genoß die höchsten Auszeichnungen. Er brachte das Studium der Phrenologie, das heißt »Schädelkunde«, die der große Gelehrte Gall begründet, zu neuen Ehren, auch ist er Verfasser von vielen gelehrten Werken, die alle hier in diesem Schrank zu sehen sind. Er öffnete einen Bücherschrank.

Soran blätterte in einem Bande.

Johannes aber stand inmitten des Raumes und blickte sich um.

Wie ihm das alles seltsam vorkam! So bekannt! Der Schreibtisch mit der grünen Lampe, die Bücher am Boden, – dann dort die Schränke mit den Totenschädeln. – Eben wollte er hintreten, da begann der Führer von neuem:

Bitte, meine Herren, alles nach der Reihe. Hier ist der Schreibtisch des Doktor Cassan, worauf er sein ganzes Leben gearbeitet hat. Keine Lade, kein Buch, kein Blatt ist verrückt, seit er hier von Mörderhand einen grausamen Tod fand. Sehen Sie, hier lag er. Bitte, bücken Sie sich, da ist noch der Blutfleck zu sehen.

Johannes bückte sich und berührte den dunklen Fleck auf der Diele mit dem Finger.

Hier liegt seine Feder, sie war noch naß, als seine Frau die Leiche fand. Er hatte damit eben die Kopftabelle des Mörders aufgezeichnet, den er als Versuchsobjekt hatte kommen lassen. – Georg Stubensand war sein Name.

Johannes stand, von seltsamem Schauern ergriffen, vor dem Schreibtische. – Er sah das Furchtbare sich abspielen, den Griff des Mörders, das Stürzen des Opfers – Die Finsternis war heraufgestiegen, ihren rastlosen Gegner zu vernichten.

Die Tränen traten ihm in die Augen, eine tiefe Verehrung, eine wahre Liebe regte sich in ihm für den edlen Toten, dessen Geist ihn während jahrelangem, rastlosem Streben umweht, ihn im vollsten Sinne des Wortes hierhergeführt, an die Stätte seines grausamen Todes.

Er war ja auch für ihn gestorben, für alle Elenden, Verlassenen, sein ›wahrer Vater‹, wie ihn Frau Marianne in dem Briefe an den Rektor nannte.

Soran verstand den heiligen Ernst, der über den Freund gekommen. Er legte die Hand auf seine Schulter. Jetzt kannst du voller Ehren vor ihm bestehen! Keiner so wie du! Mit offenen Armen tät er dich empfangen.

Und wem habe ich es zu danken? Dir, – nur dir! Sonst – mir graut, wenn ich daran denke, – im Nacken habe ich ihn gespürt, den Griff – – du weißt schon, welchen ich meine!

Johannes war stark erregt. Es ist doch sonderbar, – oder erkläre es mir, – – ich bin hier nicht das erstemal in meinem Leben. Johannes sah sich von neuem mit großem Blicke um.

Meine Herren, ich muß sie bitten, begann jetzt der Führer ungeduldig. Hier ist der Schrank mit den berühmten Verbrecherschädeln, alle von Herrn Dr. Cassan selbst gesammelt. Sie können überall die Namen lesen. Das rote Kreuz auf der Stirne bedeutet ›Hingerichtet‹.

Der Führer legte den Finger auf einen auffallend kleinen, wie es schien, wohlgebildeten Schädel.

Hier haben Sie z. B. den Kopf der berühmten Seltnerin, die ihren Mann und drei Kinder umgebracht, – hier den des berühmten Raubmörders Petrik! Sehen Sie das rote Kreuz? Hingerichtet anno 1743 zu Magdeburg. Es war das Lieblingsstück des Dr. Cassan. Sie können noch seine Zeichen darauf lesen. – – Hier aber – er hob einen blendend weißen, stark gewölbten Schädel heraus – ist der interessanteste! Der einzige, welcher nach dem Tode des Dr. Cassan in die Sammlung kam. Den hat die Universität hereingestiftet, – – es ist der Kopf des Mörders Georg Stubensand! Sehen Sie sich die Bestie nur genau an, meine Herren, das ist interessant!

Johannes war bisher lediglich von wissenschaftlichem Interesse geleitet; wich er auch, trotz aller Verehrung, in seinen Anschauungen entschieden von Cassan ab, indem er sein Hauptaugenmerk von dem Anatomischen hinweg auf das rein Psychische lenkte, so konnte er doch den charakteristischen Ausdruck gewisser Triebe und Fähigkeiten in dem Aufbau des Schädels nicht leugnen und eben jetzt drängte sich ihm diese Beobachtung von neuem auf.

Beim Anblick dieses Kopfes aber in den Händen des Führers vergaß er augenblicklich jede Theorie, der rein menschliche Schauer regte sich in ihm, verbunden mit einer völlig unwissenschaftlichen persönlichen Neugierde.

Das war also das Ungeheuer, welches das Unbegreifliche vollbracht, diesen edlen, nur der Arbeit lebenden Greis um einige Geldstücke zu ermorden.

Johannes blickte in die tiefen, von auffallend harmonischen Bogen überspannten Augenhöhlen, als ob er darin des Rätsels Lösung finden wollte.

Sieh nur, wie schön der Kopf geformt ist, Johannes, bemerkte Soran. Diese edel geformte Stirne! Er könnte auch ein großer Dichter sein, war es vielleicht unbewußt, und seine in der Finsternis seiner Welt erblindete Seele baute sich eine Hölle voll wilder Begierden, Blut und Mord, anstatt eines Paradieses.

Nein, mein Freund, das ist eitel Schwärmerei! erklärte Johannes und nahm den Schädel aus der Hand des Führers.

Das rote Kreuz leuchtete auf der Stirne. Georg Stubensand, mordete den Doktor Cassan, hingerichtet am 8. Oktober 18.., stand darunter.

Johannes' Hand strich um das auffallend stark ausgebildete Hinterhaupt. Das ist der gefährlichste Typus, hohe Intelligenz, mit ausgeprägtem Mordsinn verbunden. Oh, das täuschte nicht, dieses Hinterhaupt muß Entsetzliches geborgen haben.

Er war ein tüchtiger Mechaniker. Hat sogar schon Erfindungen gemacht, erklärte der Führer.

Ein furchtbarer Erfinder! Johannes blickte starr auf den Schädel in seiner Hand und nickte mit dem Kopfe, als ob er ein Zwiegespräch hielte mit ihm.

*

Klärchen war heute allein im Hause zurückgeblieben. Die Mama war trotz des schlechten Wetters im Schlitten nach Gundlach gefahren.

Seit dem Tee befand sich Klärchen in beständiger Unruhe, die sie noch dazu vor Mama streng verbergen mußte. Diese sprach kein Wort mehr von Johannes Ohnesorg, noch über alle die wichtigen Dinge, deren Mitteilung sie Klärchen in der Aufregung versprochen hatte.

Ein peinliches Schweigen lag zwischen Mutter und Tochter, das mehr sagte wie Worte, und Klärchen verhängnisvolle Zeit ließ, sich immer mehr mit dem Erwarteten und all dem Seltsamen zu beschäftigen, das ihn umgab.

Drei Tage waren so verstrichen, graue, einsame Tage und doch voll eigenartigem Leben für Klärchen, in der die Erwartung die üppigsten Blüten trieb.

Da schrillte die Glocke mitten in ihre Gedankenwelt hinein, und auf den Wellen der Töne schwebte das Bild des blonden Knaben von einst.

Sie eilte an das Fenster, schob den Vorhang beiseite. Sie sah nur einen Mann im dunklen Radmantel, sein Gesicht verdeckte der Schlapphut. Es war eine schmerzliche Enttäuschung. Das war er nicht. Sie hatte längst aus dem Knaben das Bild des Mannes konstruiert. Irgend ein Gelehrter, der die Sammlung besucht, so sah er aus, so spießbürgerlich langweilig.

Schon wollte sie zurücktreten, da hob er den Kopf. Ein blonder Spitzbart wurde einen Augenblick sichtbar, ein voller roter Mund, da trat er schon in das Haus und verschwand. Das Blut stieg ihr in die Wangen. Es war ein junger Mann, so viel hatte sie bestimmt gesehen.

Sie hielt den Atem an und horchte. Niemand kam, auch das Mädchen nicht, um jemand zu melden. Also doch ein Besucher der Sammlung. Er wäre doch zuerst zu Mama. – Er kommt ja überhaupt nicht, nie! Er weiß wohl, daß er nicht willkommen ist bei Frau Marianne. Aber das ist ja abscheulich! Das wird sie nie verstehen.

Wenn er es doch wäre? Wenn er sich gar nicht zu erkennen geben wollte, nur die Sammlung besuchen, dann wieder abreisen!

Sie muß ihn sehen! Wenn er es wirklich ist, soll er das Haus nicht mit schlechter Meinung verlassen, der gute, schöne Johannes mit den blonden Locken.

Einmal von dem Gedanken gepackt, war sie auch sein willenloses Werkzeug. Sie warf rasch den Pelz über und eilte hinab.

Der alte Dominik war nicht in seiner Loge, also mit den Fremden in der Sammlung. Rasch konstruierte sie eine Ausrede. Sie sucht Dominik, um ihm einen dringenden Auftrag zu geben, die Straße zu kehren oder aus der Apotheke etwas zu holen, gleichviel.

Jetzt glich sie ganz ihrer Mutter. Die hohe schlanke Gestalt in den Pelz gehüllt, das glänzend schwarze Haar in der Mitte gescheitelt, zu beiden Seiten leicht gewellt in die blütenweiße Stirne ragend. Das zarte Oval des von der Winterluft rosig angehauchten Gesichtes, die von der Erregung des Unternehmens leuchtend dunklen Augen, der leise offenstehende Mund mit dem feurigen Lippenrand vollendeten den Reiz der Erscheinung inmitten dieser winterlichen Öde.

Sie hüpfte wie ein scheuer Vogel durch den hohen Schnee, sich ängstlich umsehend, rauschte von Seide und Spitzen und duftete nach Frühling unter den traurigen schwarzen Ulmen.

Jetzt war sie an der offenstehenden Türe. Sie vernahm die monotone Stimme Dominiks heraus, dann eine fremde unverständliche. Sie blieb stehen, horchte, wieder alles still! Das Herz schlug ihr zum Zerspringen. Sie legte die Hand auf die Klinke zum Arbeitszimmer. Also den Dominik holt sie. Da trat sie schon ein.

Sie hätte bald aufgeschrien vor Schreck! Zwei Herren standen in dem Zimmer. Schon wollte sie wieder zurück, da bannte sie der Anblick des einen, des Blonden. Er hielt einen Totenkopf in der Hand.

Schon hatte er sie erblickt. Fräulein Klärchen!

Jetzt kannte sie die Stimme, so verändert sie war, das Antlitz! Sie fühlte ihre Wangen erglühen, Scham, Verdruß über ihr Kommen, – die Warnung der Mutter, und rührte sich nicht von der Stelle.

Da kam er auf sie zu, reichte ihr die Hand, während die andere den entsetzlichen Schädel hielt. Fräulein Klärchen, kennen Sie den Johannes nicht mehr?

Aus der Stimme, aus den Augen sprach alles eher als das, was man von diesem Manne behauptet. Ihre ganze Teilnahme war wieder rege.

Ich bin so überrascht, Sie entschuldigen schon, ich wollte nur – Dominik! wandte sie sich verwirrt an den Führer. Du sollst in die Apotheke – das Rezept für Mama –

Aber das hab' ich ja schon, – die Herren wollen doch –

Jetzt nicht, natürlich nicht, – ich wußte ja nicht – die Herren entschuldigen schon! Sie wollte sich zurückziehen.

Erlauben Sie, daß ich Ihnen meinen Freund, Graf Soran, vorstelle! bemerkte Johannes. Ein ebenso großer Verehrer Ihres seligen Vaters wie ich selbst.

Klärchen wagte kaum, den Blick zu erheben.

Ihre Frau Mutter war so liebenswürdig, mich einzuladen, persönlich zu kommen –

O ich weiß! Wir erwarteten Sie, – das heißt meine Mutter!

Können Sie sich noch erinnern, Fräulein Klärchen, unserer letzten Begegnung unter dem Denkmal? – –

Mit dem kleinen Durchgänger, – – und dann auf dem Bahnhof, – – am Waggonfenster!

O gewiß, gewiß, Herr Doktor! – Ich fuhr mit Mama ins Pensionat. – – Dann haben Sie wohl nichts mehr von mir gehört?

Oder vielmehr, Sie haben nichts mehr von sich hören lassen!

Allerdings – –

Der Ton des einen Wortes sagte ihm alles. – Der Mann fühlte wie die Mutter zu ihm stand. – Zum ersten Male sah sie ihm voll ins Gesicht, – jetzt erkannte sie ihn erst, Zug für Zug, – nur ein Mann war aus dem Knaben geworden, und ganz der Mann, den sie sich dachte, – stark, ernst und gut.

Geben Sie mir doch den Stubensand! sagte Dominik und griff nach dem Schädel, den Johannes noch immer unter dem Arme hielt.

Klärchen zuckte sichtlich zusammen bei dem Namen, mit dem sich das Fürchterliche verband, das die Mutter vergebens viele Jahre lang ihr zu verheimlichen suchte.

Sie sah starren Blickes auf den Schädel. Das ist der Entsetzliche! – O mein Gott! – Sagen Sie der Mama um Gottes willen nicht, daß ich das gesehen. Sie barg schaudernd das Gesicht in ihren Händen.

Schrecken Sie sich nicht, Fräulein Klärchen! sagte Johannes. Das ist nur eine leere Maske, was hinter ihr gesteckt, ist längst zerstoben wie eine unheilvolle Wetterwolke.

Und einmal irgendwo sammelt sie sich vielleicht zu einem befruchtenden Gewitterregen! Was weiß man! bemerkte Soran. Indes glaube ich selbst, daß dies kein Platz für Fräulein Cassan ist. Wenn wir vielleicht bitten dürften, der Frau Mama unsere Aufwartung zu machen.

Jetzt kam Klärchen die Angst vor der Mutter, vor der Verwicklung, in die sie sich begeben. Ja gewiß, gerne, – aber die Mama – und dann, – ich muß mich wirklich schämen. – Ich bitte Sie, der Mama nichts davon zu sagen, daß ich Sie hier getroffen. Sie liebt es nicht, daß ich den Raum betrete.

Und ich bekomme auch was ab, wenn's aufkäm'! erklärte Dominik brummig.

Da kann ich Ihrer Mama nur recht geben! erklärte Soran. Übrigens können Sie auf unsere Diskretion rechnen. Dürfen wir jetzt bitten? Er machte Miene, zu gehen.

Da öffnete sich die Türe, und Frau Marianne trat stürmisch ein. Der Schnee lag noch auf ihrem Mantel.

Ah! Es war ein Ausruf unbegrenzten Erstaunens. Du hier, Klärchen? Hier?

Ein Blick eisiger Strenge traf Klärchen, und sie hörte nicht die leise gestammelte Entschuldigung des Mädchens.

Entschuldigen Sie, meine Herren, aber ich bin so erstaunt. – Lassen Sie sich nicht stören! – Komm Klärchen! Marianne hatte in ihrer Erregung über die Gebotsübertretung Klärchens die Herren nicht weiter beachtet.

Da trat schon Johannes vor. Johannes Ohnesorg, der glückliche Preisträger!

Marianne hatte gelernt, sich völlig in der Gewalt zu haben, diesmal versagten ihr die Kräfte. Es vereinigte sich zu viel, um das gefürchtete Zusammentreffen noch erschütternder zu machen, – der Ort, die völlig ungerechtfertigte Gegenwart Klärchens! Ein grauer Ton huschte über ihr Antlitz und einen Augenblick schloß sie die Augen.

Sie haben die Überraschung selbst verschuldet, gnädige Frau. Johannes entging der Schreck Mariannens nicht. – Ich hielt es einfach für eine Pflicht der Dankbarkeit, Ihrer gütigen Einladung Folge zu leisten. Gestatten Sie zugleich, daß ich Ihnen meinen Freund, Grafen Soran, vorstelle, der, das gleiche Interesse für Ihren im Tode noch verehrten Gatten hegend, mich begleitete.

Marianne ergriff hastig die Gelegenheit, sich von Johannes abzuwenden und sich mit dem Grafen Soran zu beschäftigen, den sie auf die herzlichste Weise in ihrem Hause willkommen hieß. Dadurch wirkte ihr Benehmen gegen Johannes noch auffallender.

Klärchen zitterte vor Erregung. Da traf sie ein inhaltsvoller Blick von Johannes. Sie erwiderte ihn. Es war der geeignetste Augenblick zum Überspringen eines zündenden Funkens. Sie verstanden sich, sie wechselten ihre Meinung. In diesem Augenblicke wurde ein Schutz- und Trutzbündnis zwischen ihnen geschlossen.

Marianne lud den Grafen für den Abend zu Tische. Sie kommen doch mit? wandte sie sich an Ohnesorg.

Als Träger des Cassanpreises! fügte Klärchen mit deutlichem Hohne hinzu.

Marianne errötete sichtlich vor ihrer Tochter.

Den ich Ihnen, Herr Ohnesorg, in Gegenwart der Jury heute feierlich überreichen werde, sagte sie rasch gefaßt, mit gezwungenem Humor, zu Johannes.

Und ich bitte Sie, gnädige Frau, sich der Mühe nicht zu unterziehen, indem ich den Preis zum Besten der Kolonie Gundlach bestimmt habe, der ich so viel zu danken habe, erklärte Johannes, nicht ohne ein gewisses Behagen verhehlen zu können.

Klärchen sah mit einem Ausdruck des Triumphes auf die Mutter, die dieser Entschluß Ohnesorgs völlig verwirrte. Sie sah darin nur die Rache an ihr, die hochmütige Lösung einer Schuld, die diesen starren Nacken drückte.

Das ist schön von Ihnen, aber ich weiß nicht, ob ich es annehmen kann, erklärte sie in ihrer Ratlosigkeit.

Das müssen Sie wohl! Johannes sprach es mit einem Nachdruck, begleitet von einem Blick, daß Mariannen jede Widerrede stockte.

Und ich bewundere Sie darum, Herr Ohnesorg, erklärte Klärchen. Die Mama ist nur selbst überrascht von Ihrer Großmut. Im Namen meines Vaters danke ich Ihnen von ganzem Herzen. Sie reichte Johannes die Hand. Er ergriff sie und drückte sie.

Das wäre wohl meine Pflicht gewesen, aber da du mir keine Zeit gelassen dazu, muß sich Herr Ohnesorg wohl mit deinem Danke begnügen, bemerkte Marianne.

Es sprach etwas Feindliches aus jedem Wort, das gesprochen wurde, und das Unausgesprochene lag wie eine schwere Wolke über allen.

Komm jetzt, Klärchen! Die Herren werden jetzt für sich sein wollen. Also heute abend, wenn ich bitten darf. Marianne ging, mit einem besonders verbindlichen Lächeln gegen Graf Soran.

Klärchen wechselte noch rasch einen Blick mit Johannes. Sehen Sie Ihre Mutter? sprach der seine. Ich sehe alles und halte treu zu Ihnen! erwiderte der ihre.

Als die Damen den Raum verlassen, sahen sich die beiden Freunde bedeutsam an.

Höchst seltsam! bemerkte der Graf.

Der Führer verhinderte jede weitere Aussprache. Das Interesse für die Sammlung war doch zu sehr in den Hintergrund getreten, so versprachen sie, die Besichtigung ein andermal eingehender vorzunehmen, und gingen.

Ehe Johannes in das Freie trat, sah er sich noch einmal sorgfältig in dem ganzen Raume um, maß förmlich mit den Augen die Entfernungen. Weißt du, was noch seltsamer ist als das, was wir soeben erlebt haben, Soran? Daß ich schwören möchte schon einmal in diesem Zimmer gewesen zu sein, und zwar war es beim Lampenlichte.

Das wird dich wohl täuschen! Irgend ein ähnliches wird sich dir eingeprägt haben.

Nein! Nein! – Aber das ist seltsam! Auf dem Stuhl vor dem Schreibtische saß ein Mann – –

Soran mußte ihn am Arme nehmen und hinausdrängen. Siehst du dir das Zimmer einmal bei Beleuchtung an, dann kommst du darauf. Das ist ein probates Mittel.

Als sie die Mandelgasse hinuntergingen, schwiegen sie beide lange.

Ein schönes Mädchen! begann plötzlich Soran.

Und eine gute Partie, ergänzte Johannes. – Hol sie dir doch, Soran, – als zweiten Cassanpreis! Frau Marianne wird ihn dir nicht weigern soviel ich gesehen habe.

Ein gut Stück Bitterkeit sprach daraus.

Schäme dich, Johannes, so zu reden! Und hast sehr wohl bemerkt, welchen Eindruck du auf sie gemacht.

Und auf Frau Marianne! – Ich könnte der größte Feind ihres Hauses sein, so haßt sie mich.

Und aus welchem Grunde glaubst du das? Kannst du dich irgend eines besonderen Vergehens gegen sie erinnern?

Nichts.

Wenn es nicht dein einziges Vergehen war, daß ihr Gatte dich zum ersten Zögling in Gundlach bestimmt, bemerkte Soran.

Johannes blieb stehen. Wie meinst du das? Daß ich ihm näher gestanden? Näher, als diese Frau ertragen kann?

Warum wäre das nicht möglich? Frauen, die lieben, sind auf alles eifersüchtig, auch auf ein Kind.

Eifersüchtig, sagst du? Auf ein Kind? Wo willst du hinaus? Auf die Mutter des Kindes vielleicht?

Wie meinst du das?

Cassan mein Vater? Johannes' offenes Gesicht nahm plötzlich einen lauernden Ausdruck an.

Soran schien selbst über diese Schlußfolgerung zu erschrecken. Das wollt ich nicht, – bei Gott nicht, – ich dachte nicht daran.

So? Du dachtest nicht daran? Aber jetzt denkst du daran. – Das schöne Mädchen meine Schwester! Johannes lachte grell auf. Da hätten wir ja die ganze Erklärung, nicht, Soran? – Sag ehrlich – nicht? Johannes packte den Freund mit eisernem Griffe am Arme.

Sei doch nicht gleich so erregt! Ich denke ja gar nicht daran. Die ganze Charakteristik Cassans, eine junge schöne Frau, die er über alles liebte! Es ist ja der bare Unsinn.

Und doch hast du mir diesen baren Unsinn ins Ohr gesetzt. Übrigens die Probe darauf ließ sich ja machen. Ich halte um Klärchens Hand an! Da muß sie Farbe bekennen. Was sagst du dazu? Johannes sah Soran so verschlagen an, daß dieser seinem Blicke auswich.

Ich dächte, das Mädchen wäre dir zu gut zu einer solchen frivolen Probe.

Probe? Wer sagt dir denn, daß es nur eine Probe sei? Mein voller Ernst! Wirst ja ganz verlegen?

Johannes, du erregst dich wieder einmal ganz nutzlos – Du weißt, welche Folgen es für dich hat.

Ich, – ich errege mich doch nicht. Habe keine Angst, mein Freund, ich werde mich hüten, mir einen Korb zu holen. Bedenken Sie, mein Herr, daß Sie Zögling von Gundlach waren, von dunkelster Herkunft! Das genügt vollkommen für Frau Marianne, es braucht gar keine weiteren Kombinationen, Herr Graf! Johannes zog den Hut. Sie hatten eben die Mandelgasse verlassen und bogen in eine Hauptstraße ein.

Sie haben völlig freie Bahn! Ich empfehle mich. Johannes wandte sich auf die entgegengesetzte Seite.

Soran wollte ihn zurückhalten. Johannes, das ist kein Scherz mehr. Er nahm ihn beim Arme.

Johannes lachte, während sein Antlitz feuerrot war und sein Blick leuchtete. Verstehst du denn gar keinen Spott mehr, Philister? Ich will nur noch schnell etwas besorgen, – weiße Krawatte für heute abend – als Inhaber des Cassanpreises, wär' noch schöner!

Ehe Soran sich besann, war er ihm schon entwischt und in der Menschenmenge verschwunden.

*

Johannes hatte in den letzten vier Jahren rastlos an sich gearbeitet. Die Wissenschaft Cassans hatte es ihm angetan. Gerade die Irrtümer dieses gewissenhaften Gelehrten reizten ihn. Vielleicht war er berufen, sie abzustreifen und zu berichtigen, die große Idee an das Ziel zu führen. Das Bewußtsein, mehr oder minder, seiner dunklen Abstammung nach selbst zu der Klasse zu gehören, deren Rettung Cassans Bestrebung galt, verlieh ihm einen asketischen Eifer.

Cassan war Anatom seines Faches. Dieser Umstand verführte ihn, in seinen Forschungen zu großen Wert auf die anatomischen Erscheinungen zu legen, darüber die unzähligen Begleiterscheinungen zu vernachlässigen, die mehr in dem Reich des Seelischen liegen. Er erkannte später selbst seinen Irrtum, und es gebrach ihm nur an der Zeit, sich zu korrigieren.

So hielt es Johannes für seine Aufgabe, da anzusetzen, wo Cassan so plötzlich und unerwartet abberufen wurde. Der Mensch als Einzelwesen sowohl wie als Gemeinschaft, in Staat und Gesellschaft, bildete von nun an den Mittelpunkt seines Interesses.

Er arbeitete unermüdlich, und Soran hielt treu zu ihm. Der Einblick in die ihm völlig neue Welt Cassans übte auf diese schwärmerisch angelegte Natur, mit altruistischer Geistesrichtung, eine entscheidende Wirkung.

Sein bisheriges Leben erschien ihm in seiner ganzen Oberflächlichkeit, dagegen die werktätige Mitarbeiterschaft an diesen weltbewegenden Fragen als eine der vornehmsten Verpflichtungen seines Standes, der anstatt sich an die Spitze solcher Bewegungen zu stellen, immer mehr in nichtssagenden Äußerlichkeiten und überlebten Vorurteilen aufging.

Dazu kam noch der Einfluß der starken Natur Ohnesorgs, eine seltsame Sympathie, die diesen Mann vornehmster Abkunft mit dem Sprößling der Niedrigkeit verband.

Seit zwei Jahren im Besitze seiner väterlichen Güter, machte er sich sofort daran, die Theorien seines Freundes in das Praktische zu übersetzen, indem er auf einem seiner Güter, unweit der Universitätsstadt, in der sich Ohnesorg niedergelassen, – im Gegensatz und zugleich als Ergänzung Gundlachs eine Kolonie entlassener Sträflinge eingerichtet hatte, die, unter sich selbst eine kleine Republik bildend, ihre eigenen Vorarbeiter wählten und in gewissem Sinne eigene Gerichtsbarkeit übten.

Das Unternehmen war bis jetzt noch ein »Problem«, dessen Hauptzweck war, zu weiteren Schritten nach dieser Richtung anzuregen.

Johannes selbst ermunterte den Grafen, sich an der Lösung der Cassanschen Preisfrage zu beteiligen. Beide Freunde ergänzten sich in der uneigennützigsten Weise in ihren Arbeiten.

Johannes sprach ihm bereits den Preis zu. Seine eigene Arbeit war seiner Ansicht nach viel zu gundlach-feindlich abgefaßt. Hatte er doch darin seine eigene bittere Erfahrung niedergelegt, und Frau Marianne, die Preisrichterin, in unzweideutigster Weise bei ihrer schwächsten Seite angegriffen. Um so erstaunter war er, als Sieger hervorzugehen.

Jetzt erfaßte ihn erst die ganze Bedeutung des Sieges für ihn, und eine gewisse Schadenfreude regte sich bei dem Gedanken an den Ärger Frau Mariannens, wenn sie erfuhr, wen sie gewählt hatte.

Als dann die Einladung Frau Cassans eintraf, reiste er sofort; diesen Triumph wollte er sich nicht entgehen lassen.

Soran folgte gerne seiner Aufforderung, sich anzuschließen, schon lange willens, die Cassansche Hinterlassenschaft sich näher anzusehen.

Johannes empörte das kalte Entgegenkommen Mariannens ebenso, als ihn der Anblick Klärchens, ihre der Mutter völlig entgegengesetzte Sinnesart entzückte. Diese Doppelwirkung warf ihn völlig aus dem Geleise.

Eine plötzlich in ihm sich regende Liebe zu Klärchen wurde durch den Gedanken, auf diesem Wege eine erschöpfende Wiedervergeltung an der Mutter nehmen zu können, zur flammenden Leidenschaft gesteigert. Sie verzehrte im Nu alle Errungenschaften der letzten Jahre. Das heiße Blut regte sich und trübte seinen Blick. Sein Urteil, sonst so scharf und klar, sank in einem Augenblick auf das Niveau eines verhetzten Proletariers.

Soran hatte es selbst auf Klärchen abgesehen. In seiner Gegenwart, während er mit Klärchen die seligsten Erinnerungen tauschte, vollzog sich zwischen der Mutter und dem Freunde der Verrat. Und zum Schluß gab er ihm eben jetzt noch den Gifttrank: Du könntest ja ihr Bruder sein! Das Blut trennt dich für immer von ihr! Das war dämonisch!

Schon fühlte er es heraufsteigen in seiner Brust – und der rote Schleier – er kannte nur zu gut die alten Zeichen.

Er mußte sich wenigstens für den Augenblick trennen von Soran, möglichst rasch.

Jetzt eilte er mit brennendem Haupt ziellos durch die Straßen. Die rauhe Winterluft kühlte allmählich sein Hirn, das logische Denken kehrte zurück und mit ihm die schreckliche Einsicht in einen Zustand, den er längst völlig überwunden glaubte.

Das war sozusagen der erste Probetag nach jahrelanger Haft im Studierzimmer. Das erstemal nach Jahren, daß wieder ein starkes Motiv auf ihn wirkte – und da erlag er schon wieder den finsteren Mächten. So wenig hat die strenge Selbstzucht gegen sie gewirkt.

Wie uralt mußte ihr Besitzrecht sein in der Tiefe seiner Seele! Warum wagte er nicht die große Frage an Frau Marianne?

Und plötzlich war es ihm, als ob alles andere, was er schon gedacht und gelitten, nichts dagegen wäre, – ein Leichtes, ein Spiel, und nur das Eine, das Furchtbare, Unerträgliche, das ihn völlig aus den Angeln heben könnte, – der ewige Verzicht auf dieses Mädchen, mit dem er nur ein paar Blicke gewechselt, und das doch, – er fühlte es, mit dem ganzen Ungestüm seiner entfachten Leidenschaft, – sein einziges Sehnen war, nicht nur seit heute.

Johannes war an den Strom gekommen. Jetzt fesselten ihn seine hoch übereinander getürmten Eisschollen.

Er stand vor einer steinernen Brücke, die in zwei schlanken Bogen auf das andere Ufer führte. Dort hoben sich aus dem Weiß des Schnees ringsum schwarze Mauern, dichtgedrängte alte Giebeldächer. Das Viertel fügte sich seltsam in die großstädtische Umgebung.

Früher reichte es sichtlich bis zum Ufer des Stromes, einzelnen Trümmerresten nach, jetzt hatte die Neustadt schon den Fluß überschritten und preßte nun das häßliche Viertel zwischen Höhe und Fluß.

Johannes sah lange hinüber, dann wieder auf die Brücke mit den großen Erzkandelabern an den vier Ecken.

Die ›Nacht‹ tauchte unwillkürlich in ihm auf. Die Silhouette der schwarzen Giebel, die sich damals vom Nachthimmel abhoben, hatte sich fest in sein Gedächtnis gegraben, da drüben glaubte er sie wieder zu sehen.

Da fragte er schon einen Vorübergehenden: Können Sie mir nicht sagen, ob hier früher eine hölzerne Brücke über den Strom führte?

Freilich, noch keine drei Jahre ist's her, daß sie die steinerne gebaut haben. War auch die höchste Zeit, setzte der gesprächige Mann hinzu, daß sie einmal dem ›Wall‹ zu Leib gerückt sind. Das war eine entsetzliche Gegend, gefährlich, – das Gesindel, – ich dank'! Jetzt werden sie's bald ganz verdruckt haben.

Johannes dankte und ging der Brücke zu, um dem weiteren Redeschwall auszuweichen; er wußte genug. Er war auf dem rechten Wege. Jetzt konnte er ja selbst einmal auf Entdeckung des Geheimnisses der ›Nacht‹ ausgehen.

So ging er über die Brücke. Dann wandte er sich nach rechts. Die Richtung wußte er noch genau. Den schmalen Dammweg entlang. Jetzt erhoben sich dort bereits einige Neubauten, da und dort stand ein Gerüst.

Von da ab hielt es schon schwer, sich zurechtzufinden. Eine enge, übelriechende Gasse nahm ihn auf, – der alte ›Wall‹. Da herum mußte es gewesen sein. Das Bild der ›Nacht‹ stieg deutlich in ihm auf. – –

Das wäre also seine eigentliche Heimat! Wie käme aber ein Mann wie Cassan dazu, sein Kind hier aufwachsen zu lassen, und wenn es auch ein Kind der Sünde war! Er, der Menschenfreund, der der Finsternis ihr Eigentum entreißen wollte? – Und dieses Weib in der roten Jacke, die er nimmer vergessen konnte? – Unmöglich! – Wahnsinn! – Wie er nur einen Augenblick den Gedanken fassen konnte!

Ein betrunkener Mann stieg vor ihm aus einem Erdgelaß auf. Gelächter, Schimpfnamen tönten ihm nach.

Schmutzige Kinder wühlten in der Gosse und schnitten ihm Gesichter, sonst überall eine düstere Ruhe, als ob die Häuser alle verlassen wären.

Er wandte sich wieder dem Flusse zu, kam aber zu einem Kanal, über den ein Steg in einen mit Ulmen bestandenen Garten führte. Zwischen dem dürren Geäste erblickte er ein altes Haus, das in der Schneemasse ringsum kohlschwarz erschien.

Noch einmal tauchte eine dunkle Erinnerung auf. Johannes ging über den Steg in den Garten. ›Zum Krebs‹ stand auf einer Tafel über der Türe.

Er konnte wenigstens Erkundigungen einziehen, so trat er ein.

Ein schmaler, finsterer Gang, von einer Öllampe erleuchtet, rechts eine Türe, aus der Stimmen drangen.

Johannes pochte das Herz. Es gab zwar viele finstere Gänge in diesem Viertel. Aber das Bild stand so deutlich vor ihm, als müsse die Türe sich öffnen und die Frau mit der roten Jacke heraustreten.

Und wenn sie wirklich herausträte, was dann? Grauen überkam ihn. Schon wollte er zurück. Da schämte er sich seiner Feigheit.

Er trat in die Wirtsstube. Es saß nur ein Mann darin, ein Arbeiter seinem Anzug nach, der ihn mißtrauisch betrachtete.

Johannes grüßte und setzte sich an seinen Tisch. He, Wirtschaft! rief der Mann und klopfte mit dem Schnapsglas auf den Tisch.

Hat's so Eile? rief eine weibliche Stimme irgendwoher, die Johannes durch Mark und Bein ging. Es war ihm, als höre er die rauhe Stimme von damals, – und jetzt schlürfte es hinter ihm her. Er wagte gar nicht sich umzusehen und sah starr auf den Tisch.

Ein Glas Bier wurde vor ihn hingestellt, da hob er den Kopf. Er hätte aufjubeln mögen! Das war ein fremdes Gesicht, kein Zug von der Frau, auch die Gestalt nicht.

Jetzt wurde er ganz aufgeräumt. Bringen Sie dem Mann ein Glas Bier, oder trinken Sie kein Bier? fragte er den Gast, ihm eine Zigarre reichend.

Oh bitte, so stolz sind wir nicht da herin! Er nahm die Zigarre und grüßte untertänig.

Johannes war noch immer nicht im reinen mit sich, – die Stube, – der Tisch, – da fiel sein Blick auf ein buntes Schlachtenbild über dem Tisch, und mit einemmal war er es. Hier hatte er gesessen, genau auf dem Platz. Die Gewißheit erregte ihn, – und es galt doch jetzt vor allem Ruhe, wenn er etwas erfahren wollte.

Wohl eine alte Wirtschaft hier? begann er das Gespräch mit dem Arbeiter.

Der Krebs? – Das meine ich. Aber lang' wird's nimmer dauern damit. Von allen Seiten rucken s' schon ein drauf. Da heißt's nur 'naus mit dem Gesindel. Aber wohin, Herr, wohin?

Johannes ging nicht ein auf die Wendung. Ist die Frau hier Besitzerin?

Die Wendel? Jawohl! Drei Jahr ist ihr Mann schon drauf.

Und vorher? Wer hatte vorher die Wirtschaft? Der Mann wurde stutzig. Das Ausfragen gefiel ihm sichtlich nicht. Frau Wendel, rief der Arbeiter, der Herr möcht' wissen, wer vor euch den Krebs gehabt hat?

Die Gerufene kam trägen Schrittes. Ferrol hat er g'heißen.

Johannes fiel der Name auf, irgendwo war er ihm schon untergekommen. War er verheiratet, der Ferrol?

Frau Wendel machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand. No, das war eine, a ganz kritische.

Warum? fragte Johannes, seine volle Ruhe bewahrend.

Ins Zuchthaus hat s' ihn halt 'bracht. Das heißt, er war a kein Guter net, er is schon vorher drin g'wesen.

Das laßt net aus, das Häus'l, das zieht alleweil wieder hin, meinte der Arbeiter.

Was haben sie denn angefangen, die Ferrols? fragte Johannes weiter.

No, Hehlerei halt und allerhand Lumpenzeug! Den ganzen Krebs haben s' in einen schlechten Ruf 'bracht, und wir dürfen's jetzt büßen, wenn wir gleich nix Unrecht's aufkommen lassen. Gelt, Sixt'l? wandte sich die Frau zu dem Arbeiter.

G'wiß nix! meinte dieser.

Nun und, Johannes stockte, waren Kinder da?

Kinder? Von Kindern weiß ich nix. – Nein, Kinder waren keine da, – das is no a Glück.

War s' net schon einmal verheirat't, die Ferrol? fragte der Arbeiter. Ich hab' einmal was g'hört.

Was haben Sie gehört? fragte Johannes, wohl etwas zu hitzig.

Daß s' halt schon verheirat't war, weiter nix.

Mit wem? – Wie hat ihr erster Mann geheißen? Johannes vergaß im Eifer immer mehr die nötige Vorsicht.

Davon weiß ich nix, wie er g'heißen hat. Ich weiß überhaupt nix. – Es wird ja viel g'red't, drauf können S' net gehen, Herr.

Ihr erster Mann war wohl auch nicht sauber?

Das weiß ich net.

Sie wissen es aber. Johannes sprach es erregten Tones.

No, und wenn ich's wüßt'? Meinen S' wegen dem Glas da, das S' mir zahlt haben? – da kennen S' mich schlecht. Ich empfehl' mich!

Der Arbeiter machte eine höhnische Verbeugung und verließ das Lokal.

Es entging Johannes nicht, daß er Frau Wendel ein Warnungszeichen machte. Jetzt wandte er sich an diese. Der Mann ist verrückt! Oder halten Sie mich auch für einen Polizeispion?

Ich wüßt' auch nicht, was 's bei uns zu spionieren gäb'! meinte Frau Wendel.

Also, sagen Sie mir nur eines: War ein Kind da aus der ersten Ehe?

Nein, Kind war keines da, das weiß ich g'wiß. Das hätt' sich die net nehmen lassen.

Wie kommen Sie darauf? Wer soll einer Mutter ihr Kind nehmen?

Die Frau wurde sichtlich verlegen. No, bei so Leut', – das kommt schon vor –.

Bei welchen Leuten?

Aber Sie können ein'n ausfragen! No ja, was kann mir denn dran liegen. Frau Wendel packte die Geschwätzigkeit. Wissen S', ihr erster Mann, der soll ein ganz schrecklicher Mensch g'wesen sein.

Ein Verbrecher also?

Frau Wendel machte ein geheimnisvolles Gesicht und nickte mit dem Kopfe, dann neigte sie sich ganz zu Johannes. Wissen S', was man sagt? Sie machte eine nicht mißzuverstehende Bewegung mit der Hand um den Hals. –

Johannes fröstelte dabei. Hingerichtet?

Wieder nickte Frau Wendel. Weil er ein'n umbracht haben soll. – Ich weiß ja net.

Allerhand Gedanken schossen wie Pilze auf in Johannes' Gehirn. Und da meinen Sie, man könnte ihr ein Kind weggenommen haben, – vielleicht gewaltsam? – um es in eine Erziehungsanstalt zu bringen?

Das kommt vor, Herr, das hab' ich oft schon g'hört.

Und Sie glauben, daß das geschehen ist?

Das glaub' ich eben net, weil's die Frau net gelitten hätt', – g'wiß net! Das war a scharfe! Mit G'walt hätt' sie's wieder g'holt, – oder g'red't hätt' s' wenigstens davon, – g'schimpft hätt' s'.

Johannes stützte sein Haupt auf die Hand und stierte auf den Tisch. Und Sie haben sie also gekannt, die Frau, die frühere Besitzerin?

Gekannt? – Abkauft haben wir ihr halt. Auf der Gant war 's Anwesen. –

Und da hat sie kein Wort von einem Kind gesprochen?

Kein Wort net! Hab' mich auch net z' fragen traut, so g'fürcht't hab' ich s'. Na, Kind hat s' kein's g'habt! Da trauat ich mich z' wetten. – Die laßt sich nix nehmen, die net! Da können S' Ihnen verlassen.

Johannes schwieg eine Weile, ohne sich zu bewegen. Wie hat denn ihr erster Mann geheißen, – der – Johannes vollendete den Satz nicht.

Wie er g'heißen hat? – Das weiß ich nicht, – das weiß ich wirklich nicht. Ich weiß überhaupt nix G'wisses. – Das is alles grad so a G'red – net, daß Sie mich in a G'schicht' 'nein bringen, – g'sagt haben's die Leut'. – Ich bin keine, die d' Leut' ausricht't. – B'hüt' mich Gott davor!

Johannes zahlte seine Zeche. Beruhigen Sie sich, Frau, ich bringe Sie in keine Geschichten. Er stand aus und ging der Türe zu. Dann blieb er auf einmal zaudernd stehen. Wissen Sie vielleicht, wo diese Frau sich jetzt aufhält?

Wahrscheinlich noch alleweil im Zuchthaus, – sie war rückfällig, haben S' beim Gericht g'sagt, das geht ins G'wicht, – aber ich will nix g'sagt hab'n. – An andermal die Ehr'.

Johannes schritt brennenden Hauptes durch den Garten, über den Steg, durch den Wall, dann erst ordnete er das Gehörte. Er war in der Nacht im Krebs, darüber war kein Zweifel. Der Mann, welcher ihn zur Flucht aus Gundlach verführt, war nicht sein Vater, sonst hätte er sich doch als diesen zu erkennen gegeben, – er sprach nur von der Mutter, die ihn zu sehen wünschte. –

War die Frau in der Jacke wirklich seine Mutter? Dann, dann half alle Wehr nichts, dann war ihr erster Mann sein Vater, der schreckliche Mensch, der Verbrecher, – der Hingerichtete!

Er hatte die Brücke erreicht. Es war ihm, als müsse er, ehe er sie betrat, im reinen sein mit sich, ob er zu dem Wall gehörte, über den schon die grauen Schatten des frühen Winterabends sich breiteten, oder zu drüben? –

Also, Johannes, wie steht die Sache? Im »Krebs« warst du in der »Nacht«. Hatte die Frau das Recht, sich deine Mutter zu nennen, – oder log sie? Alles andere decke sorgfältig zu.

Das innerste Wesen des Verbrechers ist die Lüge. Das wußte er aus seiner Praxis, – Lüge und Verstellung! – Und dieses Weib war eine Verbrecherin. – Also fällt ihre Aussage nicht ins Gewicht, ebenso wie die des Mannes, dieses Ferrol. – Kam noch der Instinkt des Kindes in Frage, der sprach entschieden dagegen. Die Erinnerung war noch mit Abscheu und Ekel durchsetzt.

Wieder freigesprochen. – – Noch eine Frage! Eine hochinteressante Frage! – Kann er der Sohn eines Verbrecherpaares sein, ohne seine ganze Theorie von der Belastung umzuwerfen?

Was nützt dir die ganze Wissenschaft, wenn du an dir selbst nicht die Wahrheit sehen kannst? Wäre das nicht groß, – sein eigenes Versuchsobjekt, – das Messer an seine eigene Seele gesetzt? Größer als Cassans?

Und Klärchen –? Da sank ihm schon wieder der Mut. Es war ja alles Wahnsinn! Dieses Grübeln, dieses nutzlose Wühlen im Dunkeln war ja seine ganze Krankheit.

Er überschritt die Brücke.

*

Zwischen Marianne und Klärchen fand eine ernste Auseinandersetzung statt, die zum ersten Male das innige Verhältnis zwischen Mutter und Tochter zu stören drohte.

Den herben Vorwurf betreffs ihres Erscheinens im Laboratorium nahm Klärchen in der Erkenntnis ihres Unrechtes geduldig hin, als aber Marianne ihr Verhalten gegen Ohnesorg für höchst unpassend erklärte, da verteidigte sie sich mit einer Energie, die Marianne an ihr nicht gewohnt war.

Ja sie ging so weit in ihrer Erregung, der Mutter selbst ihr verletzendes Benehmen gegen ihren einstigen Zögling vorzuhalten, das sie sich nicht erklären könne.

Marianne war um so erregter, als sie sich schwer verteidigen konnte. Als aber Klärchen unglückseligerweise den Namen des Vaters nannte, von der Freude, der Genugtuung sprach, die dieser an dem heutigen Tage empfinden würde, da hätte sie bald das Siegel des Schweigens gebrochen.

Sie flammte jäh auf. Ach du törichtes Kind! Fühlst du denn nicht heraus, daß hier schwerwiegende Gründe vorliegen müssen, die mich bestimmen! – Du weißt ja nicht –

Zum Glück fiel Klärchen ihr selbst in die Rede. Liebe Mama, ich weiß alles! Daß Herr Ohnesorg von niederer Herkunft, – schlimmer vielleicht, – aber ich weiß auch, daß der gute Papa den armen Knaben retten wollte, der Menschheit zurückgewinnen. Ich weiß auch, daß ihm seine edle Absicht glänzend gelungen ist, und daß uns nichts zukommt, als uns darüber zu freuen, die wunderbare Fügung Gottes zu preisen, die Ohnesorg auf diese Weise in unser Haus führt. Ein großes Fest soll es sein für uns, ein Erinnerungsfest an den guten Papa! Nicht Schönes und Gutes genug können wir dem Gaste tun, anstatt ihm die Wohltat des Vaters fühlen zu lassen. Mama, ich verstehe dich einfach nicht, – du, so gut, so groß, so aufopfernd, – und da so hart, so lieblos.

Marianne erzitterte in ihrem Innersten vor ihrem Kinde. Kannst du mir nicht bedingungslos vertrauen? Ich bitte dich darum!

Jetzt sprach kein Groll mehr aus ihr, nur ein bitterer Schmerz.

Hätte Klärchen nicht bereits mehr für den jungen Mann empfunden, als sie sich selbst zu gestehen wagte, so hätte sie das Verlangen der Mutter mit kindlicher Hingebung erfüllt, so sprach kein Herzenston aus ihrer Zusage.

Marianne entging es nicht. Sie fühlte in allen Gliedern das drohende Gewitter, das sich über ihrem Hause zusammenzog.

Nur eins beschäftigte noch den Tag über ihren Sinn: Wie weit geht die Pflicht des unverbrüchlichen Schweigens, welches ihr der Gatte auferlegte? Macht sie vor seinem Kinde Halt, – oder nicht? – Entbindet sie nur der Tod von ihr?

*

Die ganze Jury war von Marianne geladen.

Man hatte sich in dem großen Zimmer versammelt, in dem über der schwarzen Vertäfelung die alten Cassans mit vor- und nachsintflutlichen Naturwundern in langjähriger Eintracht hausten.

Der Raum wurde selten benutzt. Frau Marianne hätte es für eine Entweihung gehalten, darin ihre gewöhnlichen Gesellschaften abzuhalten, außerdem hätte wohl die ernste Ausschmückung wenig zu den Besuchen gepaßt.

Die Gesellschaft war bereits vollzählig: Großvater Moseli, der unermüdliche Justizrat, die Creme der Universität. Die Damen waren für diesmal ausgeschlossen. Sie hätten den offiziellen Charakter des Ganzen gestört, und Marianne war emsig bestrebt, diesen in keiner Weise zu verwischen. Nur der Held des Abends ließ noch auf sich warten, – Johannes Ohnesorg.

So stand vorerst Graf Soran im Mittelpunkt des Interesses. Man hoffte wohl auch von ihm längst sehnlichst gewünschte Aufschlüsse über seinen Freund, diesen etwas dunklen Herrn Ohnesorg, zu erhalten.

Darin täuschte man sich aber. Er wich mit der Gewandtheit eines erfahrenen Salonmannes aus und wurde darin sichtlich von der Hausfrau unterstützt.

Dafür wußte er durch so interessante Mitteilungen aus seinem Erfahrungskreise zu entschädigen, daß man zuletzt ganz von Ohnesorg abkam.

Klärchen war völlig in Weiß gekleidet, das schwarze, die Schläfe deckende Haar, rückwärts in einen ungezwungenen Knoten geschürzt, verstärkte noch das Lichtvolle der ganzen Erscheinung, die wie der Frühling selbst erschien, inmitten all der schon ergrauten Männer.

Ihre braunen Augen schwammen in einem feuchten Glanze, die Lider, sanft gerötet von den Tränen des Nachmittags und leise geschwellt, verliehen ihr den zarten Reif des Morgens gepflückter Früchte.

Zur Seite Sorans sitzend, von seiner ernsteren, bereits von dem zehrenden Hauch des Lebens gezeichneten Jugend gleichsam beschattet, bot sie ein köstliches Bild.

Marianne konnte sich nicht satt sehen daran, sie wurde ganz schweigsam darüber. Es entging ihr auch nicht, wie Soran zuletzt jedes Wort nur an Klärchen richtete, wie er immer mehr seine auffallende Zurückhaltung ihr gegenüber vergaß, deren Gründe sie zu durchsehen glaubte, und wie es Klärchen ebenso ging, – wie sie nicht mehr nach der Türe und nach der Uhr sah, der wartende Ausdruck in ihrem Antlitz immer mehr verschwand und an seine Stelle lebhafte Teilnahme an den Worten des Grafen trat.

Marianne wiegte sich inmitten der Gesellschaft in ein heimliches Glück, das sie selbst verjüngte, ihr die Güte und Milde wieder verlieh, die einst ihr größter Zauber war.

Soran erzählte von den Anfängen seiner Sträflingskolonie, wie er das Unrecht der Gesellschaft, mit dem diese sich von den Bestraften abwendet, sie moralisch tötet, fast noch stärker empfunden habe, als das an den Kindern ausgeübte.

Eine lebhafte Debatte entspann sich. Man war in seinem Fahrwasser.

Soran wurde zum rücksichtslosen Ankläger der ganzen modernen Strafrechtspflege, die, in dogmatische Fesseln gelegt, jeder freien Entwicklung widerstrebe.

Jetzt fehlt nur noch unser Amtsrichter Möller! erklärte der Justizrat.

Möller? Soran war sichtlich von dem Namen nicht angenehm berührt. Doktor Georg Möller? Der ist hier in der Stadt? – Kommt in dieses Haus? – Hierher?

Ohnesorg, Herr Graf, erklärte, über seinen Witz lachend, der alte Moseli. Er kommt heute nicht, ganz Ohnesorg! – Übrigens wie war denn eigentlich die Geschichte mit der Mensur, – Sie wissen jedenfalls, – so schlimm doch nicht?

Er hat Ihnen also davon erzählt? fragte Soran. Allerdings, Ohnesorg ist in diesem Falle schwer zu verteidigen, – er war entschieden im Unrecht. Er hat nun einmal so unglückselige Momente, bei all seiner Tüchtigkeit, – etwas Unberechenbares, Sprunghaftes.

Marianne horchte gespannt zu.

Übrigens sind darüber ernste Jahre vergangen. Der Ohnesorg von heute hat mit dem von damals nichts mehr zu tun. Ich schätze ihn, trotz der Geschichte mit dem Doktor Möller, als einen der tüchtigsten, besten Männer, die ich kenne.

Das ist herrlich von Ihnen, Herr Graf! jubelte Klärchen, alle Zurückhaltung vergessend, mit geröteten Wangen, Tränen in den Augen. Daß Sie das alles so offen bekennen!

Warum sollt' ich das nicht? fragte Soran erstaunt.

Klärchen errötete tief bei dieser Frage.

Würden Sie sich scheuen, einem alten Freunde das Wort zu reden, Fräulein Klärchen? – Gewiß nicht.

Nein – gewiß nicht. Klärchen sah ihm jetzt frei in das Gesicht.

In diesem Augenblick stand Johannes, wie aus dem Boden gewachsen, vor ihr. Man hatte seinen Eintritt im Eifer des Gesprächs ganz übersehen, er konnte den letzten Teil desselben sehr wohl mit angehört haben. Klärchen las so etwas wie Dank in seinem Blicke, als er ganz gegen die Sitte vor allem zuerst Soran, dann ihr die Hand drückte.

Weiß, wie damals! sagte er mit einem innigen Blick. Oh, ich sehe Sie noch vor mir, in Gundlach, wie Sie um Gnade für den armen Jungen baten! Wenigstens zu schämen brauchen Sie sich nicht mehr, wenn Sie mir die Hand reichen.

Mit Mariannens Ruhe war es zu Ende. Nie fühlte sie sich so hilflos wie jetzt. Zwischen ihr und diesem Manne lag ein Abgrund, den alle Theorien nicht überbrücken konnten. Der furchtbare Gedanke, diesen Mann, den Sohn des Entsetzlichen, dessen Namen sie nie auszusprechen wagte, in ihrem Hause als Gast begrüßen zu müssen, wälzte sich in seiner ganzen Widernatur auf sie.

Und in geheimer Wechselwirkung empfand er Ähnliches. Diese Frau beschwor alles Gehässige in ihm herauf. Da hatte er ja den Beweis für die verkehrte Wirkung der Wohltat, über die er in seiner Preisschrift sich ausgelassen.

Fast hätten gnädige Frau auf ihren ersten Preisträger verzichten müssen, ich fühlte mich sehr unwohl. Nun, dann hätte eben der Zweite meine Stelle übernehmen müssen, mein Freund Soran. Ja, ja, meine Herren, der Zweite, wandte er sich an die Umstehenden. Der Verfasser des »Erkenne dich selbst«, das Frau Doktor zur engeren Wahl vorgelegen hat.

Marianne konnte ihre peinliche Überraschung nicht verhehlen, die alle Anwesenden sichtlich teilten. Auf jeder Miene war ordentlich das Bedauern über die Wahl Mariannens zu lesen.

Johannes ließ sich die Schadenfreude dieser Beobachtung nicht entgehen. Nur ein Glück, daß die Bestimmung lautete »anonyme Einsendung«, sonst würde man der gnädigen Frau den Vorwurf einer Parteinahme für das Gundlacher Erziehungsprojekt machen.

Diese Bemerkung war der reine Hohn für Marianne. Allerdings, auf einen Zögling Gundlachs konnte ich bei dieser Arbeit unmöglich raten.

Das stimmt! meinte Großvater Moseli.

Und trotz dieser feindlichen Tendenz haben Sie ihm den Preis zuerkannt? Das ist groß!

Sehr einfach, Herr Doktor, erwiderte Marianne, die Schärfe der Worte wohl fühlend, weil ich dieselbe Erfahrung gemacht habe wie Sie, daß Wohltat und Liebe viel weniger miteinander zu tun haben, als man glaubt.

Eine höchst traurige Erfahrung! bemerkte Moseli.

Höchst traurig! lautete es im Chor.

Traurig? erwiderte Johannes. Keine Erfahrung ist traurig, aus der wir lernen können, sagt einmal Doktor Cassan, und da sie heute gewiß alle von seinem Geiste ganz durchdrungen sein wollen, sollen sie auch über die neueste Erfahrung nicht traurig sein, daß ein Gundlacher Kind zu solchen Ehren gekommen ist.

Man widersprach ihm. Daran habe man nie gedacht, ging scheinbar auf den Gedanken ein, um dann rasch von dem verfänglichen Gespräche abzuspringen.

Graf Soran bot der Hausfrau den Arm zum Souper, das bereitstand, so blieb Klärchen Johannes, dem nächsten Anwärter.

Keine Spur des Erlebten zeichnete sich in seinem Antlitz, das in junger Herrlichkeit strahlte. Sorgfältig gekleidet, das männlich schöne Antlitz gebräunt, stach er vorteilhaft ab von seiner Umgebung. Er glich gar keinem Gelehrten, eher einem Standesgenossen Sorans, der sich auf Feld und Heide seine robuste Gesundheit bewahrt.

Sind Sie auch traurig? fragte er Klärchen.

Ja, erwiderte diese, weil Sie sich mit meiner Mutter so schlecht verstehen.

Daran bin doch ich nicht schuld!

Auch Sie! Sie leiden an Ihrer Theorie. Sie dürfen nicht dankbar sein.

Für so kleinlich halten Sie mich, Fräulein Klärchen? Und ich sage Ihnen, ich wäre heute abend nicht hier, wenn mich nicht das Gefühl innigsten Dankes hergetrieben hätte! Er sprach es mit einer impulsiven Wärme, mit einem leisen Druck der Hand, der nicht mißzuverstehen war. Ich könnte nicht atmen unter diesen Menschen, wenn Sie nicht wären.

Klärchen fühlte an dem Zittern seines Armes die Erregung seines Innern. Sie teilte sich ihr mit. Stolz über die Rolle, die sie in dem Herzen dieses Mannes spielte, Mitleid, Erinnerung, der Reiz des Verbotenen, persönliche Sympathie vereinigten sich in ihr zu einer Empfindungsstärke, die von Liebe nicht mehr weit entfernt war.

Das Paar war etwas zurückgeblieben. Johannes gab sich den Schein, als interessiere er sich lebhaft für die alten Cassans an der Wand. Jetzt traf sie der Blick Mariannens, – für Klärchen ein warnender, – bittender fast, für Johannes schon mehr ein drohender.

Sie war jetzt erschreckend bleich, als sie Platz nahm. Jede ihrer Bewegungen erschien automatisch. Sie tat sich sichtlich allen Zwang an, um ihre Pflicht als Hausfrau zu erfüllen. Die Vorstellung des Unfaßlichen, Widernatürlichen, das sich eben jetzt in ihrem Hause begab, durch den ständigen Anblick Ohnesorgs genährt, wuchs für sie in das Unerträgliche, wurde zur Seelenqual.

Nie noch war von einem Menschenkind so viel verlangt worden! – Oder kam es ihr nur so schwer an? War sie im Irrtum? War das alles auch nur ein Vorurteil, vor dem Cassan warnte?

Professor Blessenburg nahm ihr die Begrüßungsrede an den Preisträger ab, dem nun einmal der Abend galt.

Sie lautete förmlich, ohne jeden Schwung, ohne jede Liebe, dabei vermied er jede Anspielung, auch die Beziehungen Ohnesorgs zu Gundlach, die doch dem Redner Gelegenheit gegeben hätten, die segensvolle Wirkung der Anstalt ins volle Licht zu rücken.

Das konnte Johannes nur reizen, in seiner Erwiderung das Fehlende möglichst stark zu betonen. Und das tat er denn auch. Erst ließ er den Humor spielen, dann riß ihn der Eifer fort. Er wurde zum begeisterten Verkünder der Cassanschen Ideen, aber auch zum rücksichtslosen Ankläger aller derer, die entweder ihren wahren Kern nicht erkannt oder sie absichtlich fälschten, auf daß sie ihren kleinlichen Anschauungen und Vorurteilen diene, anstatt sie zu vernichten.

»Ich bin selbst von seiner Hand gepflanzt. Einem fremden, vielleicht unglücksschwangeren Erdreich entnommen, auf dem nur Unkraut und Wildling gedieh, versetzte er die zarte Pflanze in sein eigenes, von seiner Schöpfungskraft, von seinem Geiste durchdrungenes. Und so ist es nicht bloß ein Walten des Zufalls, sondern das Walten eines ewigen Gesetzes, daß ich auch seinen Geist aufgesaugt aus seinem Erdreich, daß ich mich auf den dornenvollen Weg gemacht, einst sein getreuester Verkünder, sein Vollender zu werden. Könnt' ich ihn nur in diesem Augenblick berufen, seinen edlen Geist, und ihn befragen: Bin ich auf dem rechten Weg, wenn ich auch manchmal abweiche von dem deinen? Oder bist du mir gram darum, geliebter Vater, verlangst du strenge wahllose Folge? Er würde mir mit seinem milden Lächeln, das ich nie gesehen und doch immer sehe, die Hand reichen und sagen: Du bist auf dem rechten Wege! Nicht im starren Beharren liegt die Treue und das Heil, sondern in der lebendigen Kraft des einmal entzündeten Gedankens, die ewig fortwebt, und im mächtigen Schwunge ihrer Bahn immer neue Kräfte mit sich reißt, ins Unendliche wachsend. – Auf die Stirne küssen würde er mich, wie einst der Gottervater sein erstes Gebild, aus dem rohen Ton geformt. Und je roher, je formloser der Ton, desto erhabener der Kuß des Gottes. Dem Schöpfer, sei er ein Gott oder Mensch, ist der Stoff nichts, aus dem er formt, nicht gut und nicht schlecht, nicht kostbar und nicht verächtlich, wenn er sich nur seiner Bildnerhand fügt. Der wertlose Lehmklumpen ist ihm so wertvoll wie Gold, – er schätzt nur das Werk, das daraus entstanden. Cassan war ein solcher Schöpfer! Sein Stoff war die Finsternis, und sie war ihm nicht gut und nicht schlecht, sie war nur Material in seiner Bildnerhand, das er mit unbefangenem Auge bis in seine kleinste Eigenart und Struktur verfolgte, um darin den Keim für künftige Bildung zu erkennen. Und so schließe ich mit dem ehernen Spruch, der über der Werkstatt seines Lebens stand, in dem das ganze trotzige Ringen des Künstlers mit dem widerspenstigen Stoff sich ausdrückt, sein ganzer hoher Beruf: Wer der Finsternis sein Eigentum entreißen will, muß stark sein, wie sie selbst. Abstreifen muß er jedes Vorurteil, jeden Widerwillen, jeden Haß; nur drei Dinge dürfen in ihm wohnen: die Gerechtigkeit, – die Wahrheit, – und die Liebe!«

Es lag ein so mächtiger Ernst in den Zügen Johannes', trotz aller Phantastik und Sprunghaftigkeit des Inhalts sprach eine so tiefe Überzeugung heraus, daß das spöttische Lächeln, das im Anfang den einen oder anderen Mund bewegte, rasch verschwand.

Vor allem aber hinderte daran das Verhalten der Hausfrau selbst. Marianne saß zuerst da wie ein Bild, bleich, starr, den Blick ins Weite gerichtet. Eine monumentale Schönheit lag über sie gebreitet, die in ergreifendem Kontrast zu der Klärchens stand. Dann verlor sich die Starre, eine sanfte Röte zog auf, der Mund zitterte, als der Redner den Namen Cassan nannte, die Augen füllten sich mit Tränen. Vergebens war der Kampf gegen den Sturm in ihrem Innern, zu mächtig pochte Johannes an seine Tore. Sie trat schwankend auf ihn zu, ihr Glas war das erste, welches das seine berührte.

Sie haben mich tief bewegt, ich danke Ihnen! Ihre Stimme zitterte. Ich bin nur ein Weib, das bedenken Sie. Sie konnte nicht weiter sprechen.

Klärchen mußte sie stützen. Der heroische Versuch, die Gesellschaft nicht zu stören, wollte ihr nicht gelingen. Erscheinungen traten ein, die sie zwangen, sich zurückzuziehen und Klärchen ihren Platz zu überlassen.

Sie tat es mit einer stummen, ängstlichen Bitte, die diese wohl verstand.

Papa Moseli wollte sich den Abend nicht verderben lassen, so beruhigte er die Gäste über das Unwohlbefinden Mariannens. Nervosität, weiter nichts! Sie kennen ja die Frauen!

So blieb man und vergaß in einer lebhaften Unterhaltung den Vorfall.

Auf Klärchen hatten die Worte Ohnesorgs einen erschütternden Eindruck gemacht. Was war alle ihre Kindesliebe, alle ihre fromme Verehrung für den Toten gegen diese vollendete Hingabe, gegen das völlig geistige Aufgehen dieses Mannes in ihm. Wie löste sich da der kleinliche Vorwurf der Undankbarkeit, den man ihm gemacht, in ein Nichts auf.

Das alles zitterte in ihrer Seele nach und bereitete sie vor für das Große, das ihrer wartete, vor dem ihre Weiblichkeit ahnungsvoll erzitterte.

Auf der anderen Seite die Mutter, deren eigene Erschütterung nur ein Zeugnis war für die innere Wahrheit seiner Worte. Dabei sollte sie die Hausfrau spielen!

Sie hob die Tafel auf und bat die Herren in das Nebenzimmer, um den Kaffee einzunehmen.

Da nahte er schon und bot ihr den Arm. Und sie konnte nicht bange sein vor ihm.

Sind Sie mir böse über mein offenes Geständnis? fragte er. Eine gewisse Ermattung lag über ihm.

Sie haben nichts bekannt, was ich nicht schon lange gefühlt. Damals schon in Gundlach, als wir noch Kinder waren.

Sie waren wenigstens eines, Fräulein Klärchen. Ich sehe Sie noch im weißen Kleide mit dem Blumenstrauß. Ich war keines mehr, ich war wohl überhaupt nie eines.

Wie Sie der Schützling meines Vaters wurden, da waren Sie doch eines! Er liebte die Kinder so. Seine Liebe hatte wohl überhaupt keine Grenzen.

Wenn ich denke, daß er uns einmal zusammen geliebt! In mir das Elend, den Jammer des Daseins, in Ihnen sein Kind, sagte Johannes.

Wie Sie das wieder so traurig nehmen, anstatt freudig. Wer weiß, ob darin nicht der Grund liegt, daß wir uns schon damals in Gundlach – – Sie stockte, vor ihren eigenen Worten erschreckend, errötete tief.

Schon damals in Gundlach – wiederholte er.

Da rief sie Graf Soran in ihrer Herzensnot, der als treuer Freund, Johannes die Universität vom Halse hielt. Doch sie machte es nicht besser dadurch. Sorans durch die Rede Ohnesorgs neu erregte Begeisterung für den Freund rückte diesen erst recht in das vorteilhafteste Licht. Es war, als ob er Johannes den letzten Rest des häßlichen Verdachtes nehmen wollte, den dieser gegen ihn gehegt.

In der Gegenwart des Dritten war Klärchen plötzlich die Zunge gelöst. Sie erzählte von den kleinen Begebnissen ihres Lebens, von der schweren Last der Mutter, der sie nicht mehr gewachsen wäre, von der Einsamkeit der Mandelgasse, die ihr oft das Herz bedrücke, Dinge, die sie Johannes gegenüber nie zu berühren wagte, andererseits lockte sie aus Soran alle erdenklichen kleinen Züge aus dem Freundschaftsbündnis der beiden heraus, die ihr zuletzt ein getreues Bild von Johannes' Entwicklungsgang gaben. Soran erzählte von sich, und sie erzählte Soran, und im Grunde genommen sprachen nur Johannes und Klärchen zusammen und schütteten ihre Herzen aus.

Wissen Sie schon, daß Sie einen argen Feind hier haben? wandte sie sich einmal zu Johannes.

Ich fürchte, es sind so viele, daß ich nicht auf den Namen kommen werde.

Amtsrichter Möller!

Johannes war unangenehm betroffen, er errötete stark.

Der Markomanne! ergänzte Soran. Er hat deinen ›Fall‹ erst gestern hier zum besten gegeben.

Aber ich habe Sie glänzend verteidigt, erklärte Klärchen. Oh, der Mensch ist mir in der Seele zuwider. Ganz recht ist ihm geschehen.

Die Verteidigung wäre Ihnen schwer gefallen, wenn Sie näher eingeweiht wären in den Brauch der Männer. Ich bin in diesem Falle nicht zu verteidigen. Dieser Doktor Möller hat das volle Recht, über mich Klage zu führen.

Aber nicht in diesem Kreise, bei dieser Gelegenheit, – in dieser Weise, wie es geschehen ist, – bemerkte Soran, außerdem war es immerhin nur eine Studentenaffäre, eine Jugendtorheit, die einer, zum Manne geworden, milder beurteilen muß.

Johannes schien auf die Verteidigungsrede Sorans nicht zu achten, er sah starr vor sich hin. Und Ihre Mutter war auch dabei? fragte er dann. Dann wird sie mich wohl für einen Unverbesserlichen halten, für einen Rückfälligen, für einen erblich Belasteten! Er lachte kurz und herb.

Klärchen wurde feuerrot, er hatte es erraten.

Dann hätte sie freilich Grund, mir böse zu sein, dem verunglückten Versuche Cassans!

Wie Sie nur so reden können, an diesem Abend, an dem Sie als gefeierter Sieger vor uns stehen.

Spotten Sie nicht, Fräulein Klärchen.

Ich spotten! Als Sieger, in des Wortes vollster Bedeutung, – für mich! Sie schlug sich mit dem Fächer auf das Knie und sprach es in einer seltsam langsamen Betonung, während ihr dunkles Auge mit einer frauenhaften Kühnheit auf ihm ruhte. Sie müssen wissen, daß mir nichts heiliger, als das Andenken an meinen Vater, daß es mich ganz erfüllt, – verstehen Sie mich nicht falsch – nicht meinen Mädchenverstand, – so eingebildet bin ich nicht, – aber mein Herz. Es haßt alles, was diesem Gedanken zuwider, und – sie stockte einen Augenblick – verehrt alles, was ihm gerecht. Und Sie glauben, ich könnte heute spotten?

Johannes bannte der Blick. Das klang so ganz anders, gar nicht mehr mädchenhaft. Zuerst fesselte ihn etwas wie Ehrfurcht, Scheu, die Ereignisse des Nachmittags durchzuckten sein Hirn blitzartig, – ein Abgrund gähnte einen Augenblick zwischen ihm und diesem Mädchen.

Der Stuhl, auf dem eben noch Soran saß, war leer. Sie waren allein im Raume. – Da brandete es herauf in seinem Innern, die wilde Woge. – Er betete zu irgend was um Fassung, daß er das geliebte Weib vor ihm nicht stürmisch umfasse, zu seinen Füßen sinke, mit seinen Küssen bedecke. –

Nein, ich glaube es nicht, daß Sie spotten, begann er anscheinend ruhig. Aber ich, Fräulein Klärchen, ich selbst spotte über den armseligen Sieger, der morgen schon weiter zieht, mit der Wunde seines Sieges im Herzen, der Sohn der Ungewißheit und aller Bedenklichkeiten, der ewig Dunkle, der Prinz Hannes von Gundlach. – – Jetzt war kein Halt mehr. Seine Stimme, zum Flüstertone herabgestimmt, klang ebenso leidenschaftlich wie verführerisch.

Klärchen zitterte vor ihm, sie dachte der Mutter, rief sie im Geiste zu Hilfe und lauschte doch seinen Worten, auf ihren Sessel gebannt.

Ja, das bin ich und das bleibe ich, ich fühle es selbst. Sie haftet auf mir wie Pech, diese entsetzliche Wohltat, die ich genossen! Nur für Sie muß ich etwas anderes sein und bleiben, Klärchen, und stammte ich aus der tiefsten Finsternis, wäre ich unter Verbrechern geboren, – für Sie muß ich der Mann sein, der ich bin, losgelöst von allem Schicksal und allem Zufall, – so will es Ihr Vater, dessen Andenken Ihr Herz erfüllt, – ohne Kompromiß, ohne Einschränkung, ohne wie und aber, – bei seinem mir heiligen Namen frage ich Sie, Klärchen, – bin ich der Mann?

Die Berufung wirkte wie eine Erlösung auf Klärchens geängstete Seele, sie floh förmlich unter den Schutz des geliebten Toten. Und er verlieh ihr die Kraft des Bekenntnisses.

Bin ich Ihnen der Mann, der von Ihrem Vater seinen Ausgang nahm, sonst von niemand, – wie er es wollte –?

Bei dem Namen meines Vaters, Sie sind der Mann. Klärchen sprach es mit einer gewissen Feierlichkeit.

Da faßte Johannes ihre Hand und küßte sie stürmisch. Dann darf Ihnen dieser Mann auch gestehen, daß er Sie liebt, daß er Sie selbst zum Preis seines Lebens gewählt! Ein anderes Feuer loderte jetzt aus seinen Blicken, vor dem sie sich vergeblich in ihr Inneres zurückzuziehen versuchte; nur eigene Flammen schlugen ihr entgegen. – Nur ein Wort stammelten ihre Lippen: Die Mutter!

Mutter oder Vater! – Sie müssen wählen! drängte Johannes, Furcht oder Glaube? Nein, Klärchen, Sie wählen die Furcht nicht, seine Stimme klang jetzt wieder mild, schon damals nicht, als ich der arme Johannes, – als ich vor Ihnen auf den Knien lag, vor Ihnen und dem Vater, – Sie wählen die Furcht nicht.

Und die Mutter wird sterben darüber, flüsterte Klärchen in ihrer Not.

Ich werde sie bei dem Namen rufen, bei dem ich Sie eben gerufen, und sie wird ihm folgen! Sie ist nur krank, weil sie ihm nicht folgt. Der Vorwurf tötet sie, die Erfüllung wird sie heilen.

Klärchen hatte selbst schon gedacht, ob darin nicht die Lösung läge, all des Unbegreiflichen an der Mutter, ob sie damit nicht zum Frieden käme. – – Sie glaubte in diesem Augenblick so gerne daran.

Wählen Sie noch die Furcht, Klärchen? fragte Johannes, seinen vollen Sieg empfindend.

Da senkte sie den Blick. Sie fühlte einen Druck an ihren Schläfen. Seine Lippen berührten ihr Haar. Ein heißer Strom flutete von der Stelle aus, bis zu ihrem Herzen.

Jemand betrat den Raum. Klärchen wagte nicht aufzusehen.

Ihre Mutter sendet nach Ihnen, Fräulein Klärchen! Es war Sorans Stimme. Er sprach es mit einem beunruhigenden Ernst. Wir wollen uns zurückziehen, Johannes! Die gnädige Frau scheint ernstlich leidend zu sein.

Da erhob sich Klärchen. Sie war noch völlig verwirrt, etwas Trunkenes lag über ihr.

Erschrecke doch Fräulein Klärchen nicht so. Es lag etwas Rücksichtsloses darin, wie Johannes das sagte.

Das wollt' ich allerdings nicht!

Bitte, Herr Graf, Sie erschrecken mich nicht. – Ich danke Ihnen! – Mama leidet oft an solchen Zufällen. – Bitte, entschuldigen Sie mich bei den Herren, – ich will sofort, – ich bedauere nur, – vielleicht haben wir morgen das Vergnügen!

Ich werde nicht verfehlen, mich morgen bei Ihrer Frau Mutter einzufinden, und ich bin überzeugt, sie wieder in bestem Wohlsein zu finden. Beunruhigen Sie sich nicht, Fräulein Klärchen, – es wird sich alles zum besten wenden, sagte Johannes.

Klärchen verstand ihn nur zu gut. Schlimmer Vorwurf regte sich, Scham, Angst vor diesem Mann, dem sie sich völlig ausgeliefert. – Sie eilte aus dem Zimmer.

Ich denke, du kannst mit mir zufrieden sein, sagte Soran zu Johannes.

Dieser kam stürmisch auf ihn zu und drückte seine Hand. Alter Freund, verzeih meine Torheit von heute nachmittag. Kennst mich ja! – Wir lieben uns, das sagt dir alles!

Soran war sichtlich überrascht von diesem Bekenntnis, eine feine Röte stieg auf in diesem Antlitz.

Himmel! Ich werde doch am Ende damit dir nicht – fragte Johannes. Das wäre mir wirklich – – nicht wahr, nein, Franz. – – Sie paßt auch gar nicht zu dir, – gewiß nicht, – und dann, – offen gesagt, – wir sind doch eigentlich alte Bekannte, Klärchen und ich! Das stammt nicht alles von heute, – Franz, rede doch –

Wenn du fertig bist! – Du bist ein Kind, Johannes, so sehr du mir in allem anderen überlegen bist. Selbst, wenn ich so fühlte, wie du denkst, – du hast mir übrigens keine Zeit dazu gelassen, mir darüber klar zu werden, – kann ich doch dir keinen Vorwurf daraus machen, daß sie dich gewählt. Ich möchte dir nur eines raten, – übereile dich nicht, schaffe erst Klarheit zwischen euch, rücksichtslose Klarheit, ehe du weiter gehst.

Daran haben wir es beide eben nicht fehlen lassen.

Weiß sie von deinen Vermutungen betreffs deiner Abkunft?

Johannes' Antlitz verdüsterte sich bei dieser Frage. Hältst du das für so wichtig?

Für sehr wichtig!

Du glaubst also wirklich, daß ein Weib, das liebt, darnach fragen könnte? – Armer Franz! Und hast so tapfer gerungen, mit allen Vorurteilen!

Ein Weib, das liebt, wird dem Geliebten alles verzeihen, wenn sie es aus seinem Munde erfährt. Die Wollust der Großmut, die sie übt, der Stolz über sein Vertrauen wird alles Bedenken besiegen, – anders, wenn sie es aus einem anderen, fremden Munde erfährt.

Wie du sprichst! Weiß ich's denn selbst woher ich stamme? – So viel ich weiß, weiß sie auch, – das genügt doch?

Und die Mutter?

Die werde ich morgen hören. Sie wird nicht zurückhalten mit der Wahrheit. Ich bin auf alles gefaßt. Und dann soll Klärchen richten, nicht sie. Die Tochter Cassans soll richten, sein Fleisch und Blut, – und noch wer – du, Franz, ja du! Er ergriff die Hand des Freundes in einem stürmischen Drange.

Ein ungleiches Richterpaar, Johannes.

Um so sicherer werde ich gehen, wenn ihr euch in einem Spruch einigt, – und das wird sein, das weiß ich.

Die Gesellschaft draußen brach auf. Leise flüsternd, auf den Fußspitzen verließ man das Haus.

Da war es vor zehn Jahren ganz anders. Das war ein Preisfest, die ganze Stadt sprach davon, und jetzt schlich man davon wie aus einem Trauerhaus. Das kam alles von der unglückseligen Wahl, die Marianne getroffen.

Nicht Wohltat – Pflicht! Empörend! Das Motto allein hätte bei mir für den Papierkorb gelangt, meinte Großpapa Moseli.

*

Klärchen überraschte die Mutter an ihrem Schreibtische sitzend. Diese erschrak sichtlich, räumte hastig Papiere zur Seite.

Fehlt etwas, Klärchen? fragte sie zerstreut.

Du hast mich doch rufen lassen. Graf Soran sagte so.

Marianne sah Klärchen plötzlich forschend an.

Graf Soran wird vielleicht seine Gründe gehabt haben, so zu sagen.

Klärchen hätte in den Boden sinken mögen vor Scham.

Die unendlich müden Züge der Mutter spannten sich. Du hast mit Johannes gesprochen?

Klärchen schwieg. Die Blumen zitterten heftig, die sie auf der Brust trug.

Du hast allein mit ihm gesprochen, – er hat dir seine Leidenschaft bekannt, – hat sie Liebe genannt, – um deine Hand geworben! Das Antlitz Mariannens überzog eine jähe Nöte. Das sieht ihm ähnlich!

Da lag Klärchen schon auf den Knien vor ihr und barg ihr Haupt in dem mütterlichen Schoß. Mutter, sei nicht hart! Es ist Liebe, Mutter, reine, innige Liebe, die er für mich fühlt.

Kind! Wie kannst du das jetzt unterscheiden, hilflos überfallen von diesem Unglückseligen!

Klärchen schauderte vor dem Ausdruck, mit welchem die Mutter das letzte Wort sprach, – zugleich faßte sie etwas wie Unwille gegen diese schreiende Ungerechtigkeit. Sie richtete sich an ihr förmlich empor. Warum hassest du ihn so, Mutter? Sag mir's doch!

Da sagst du schon wieder hassen! Ich hasse ihn ja nicht,' – ich fürchte ihn bloß! Ihn nicht, – mein Gott, wie soll ich dir das erklären, – sein Schicksal, – seine Vergangenheit.

Marianne trieb die Qual, eine Ausrede zu finden, den Schweiß auf die Stirne.

Aber, Mutter, er war ja ein Kind, wie er in deine Hände kam, ein unschuldiges. Denke an den Vater! Wollte er nicht absichtlich die Vergangenheit des Knaben auslöschen, als er sich seiner annahm, hätte er sonst nicht Aufzeichnungen darüber hinterlassen, dir Mitteilungen gemacht? Du hast es mir selbst gesagt, daß er sie nicht hinterlassen.

Klärchen, ich könnte ja später darüber manches erfahren haben.

Hast du dann das Recht, davon Gebrauch zu machen? Klärchen sprach jetzt wie ein Anwalt, so durchdrungen von ihrer Sache. Gegen den Willen des Vaters?

Immer der Vater! Der Vater! Die ganze Eifersucht der Mutter lag darin. Der Vater war ein Gelehrter, er scheute kein Opfer, keine Mühe, zu seinem Ziele zu gelangen. Dieser Knabe war ihm nur ein Versuchsobjekt, ein wissenschaftliches Experiment.

Mutter! Klärchen schrie es jäh auf, wie von einem Schlage getroffen. Nein, das sage nicht, – nur das nicht! Du raubst mir damit das Heiligste, sein Andenken, wie ich es einmal festgegraben in meine Seele. Ja, du tust noch mehr, Mutter, – du sprichst ihm etwas ab, das er selbst als unentbehrlich genannt zum Gelingen seines großen Werkes, in dem er erst seine wahre Größe gesehen, – die Liebe! – Und das darfst du nicht, Mutter, nicht um mehr, als hier gilt! Das hieße ihn noch einmal im Geiste morden.

Marianne ließ das Haupt wie ermattet sinken unter den Worten des Kindes. Der Kampf ging über ihre durch die Ereignisse des Tages schon geschwächten Kräfte.

Klärchen fühlte trotz des Egoismus der Liebe ihre Grausamkeit. Ich muß ihn verteidigen, Mutter, er hat niemand sonst wie mich! Er wird morgen zu dir kommen, dir alles gestehen, sei nicht hart mit ihm!

Das heißt, du liebst ihn, glaubst ihn zu lieben.

Ja, Mutter, ich liebe ihn, ich glaube es nicht, ich weiß es, daß ich ihn liebe! Ich habe ihn wohl schon damals geliebt unter dem Denkmal des Vaters, als ich Abschied von ihm nahm. Ich habe ihn nie vergessen. Denke, es sei der Wille des Vaters, – Wahrheit, – Gerechtigkeit, – und Liebe, – Mutter!

Marianne bedeckte das Antlitz mit der Hand, dann wühlte sie plötzlich unter den Papieren, griff nach einem, kämpfte sichtlich mit sich und legte es dann mit einem erzwungenen Entschlusse wieder weg. Gut, mein Kind! Ihre Züge spannten sich einen Augenblick energisch. Es soll so sein, – morgen! – Ich werde nicht hart sein mit ihm, nur gerecht und wahr! Sie senkte das Haupt zurück und starrte auf die Decke des Zimmers. Ich werde ihn prüfen! Ich werde ihm alles sagen, – und wenn er dann noch den Mut hat, um dich zu werben, – dann – Marianne umklammerte zitternd die Stuhllehne, über ihr bleiches, emporgerichtetes Antlitz huschte es wie ein grauer Schatten, dann werde ich ihn vor deinen Vater laden – und er wird richten zwischen mir und ihm. Er wird richten, verlasse dich darauf, – und wie er richtet, so soll es geschehen! Sie hauchte die letzten Worte nur, dann sank sie ermattet in sich zusammen.

Klärchen beugte sich erschüttert über sie.

Jetzt geh, mein Kind, geh. Ich ertrage es nicht länger, morgen, Klärchen.

Mutter, du ängstigst mich.

Marianne lächelte bitter. Darauf kommt es jetzt nicht an. Dann faßte sie plötzlich den Kopf Klärchens mit beiden Händen und drückte einen langen Kuß auf ihre Stirne. Du vertraust ja so fest auf den Vater, – so kannst du ruhig schlafen. Jetzt geh, – ich bitte dich!

Aber du arbeitest doch nicht mehr, – das versprichst du mir, bat Klärchen unter Tränen.

Das verspreche ich dir! Geh, – geh, mein Kind! Nur mit Widerstreben gehorchte Klärchen. Sie horchte noch lange an der Türe. Die Feder kritzelte, Papier raschelte. Die Mutter hielt nicht Wort, doch wagte sie es nicht, noch einmal einzutreten. Sie schlich auf ihr Zimmer, von Gewissensbissen gepeinigt.

Wie grausam war doch diese Liebe, nach der ihr armes Herz sich so oft gesehnt, – wie rücksichtslos. Gestern war ihr die Mutter noch alles, ihr Leben hätte sie freudig geopfert für sie. Jeden haßte sie, der ihr Leid bereitete, – und heute setzte sie ihr das Messer auf die wehe Brust.

Das sieht ihm ähnlich! sagte die Mutter. – Johannes erschien ihr einen Augenblick in einem anderen Lichte, – ihre Mädchenhaftigkeit sträubte sich gegen das Gewaltsame in ihm. Ebenso rasch rettete sie sich aber wieder zu ihm vor dem bittersten Vorwurfe, dem sie sonst verfallen war. Wenn sie ihn nicht über alle Maßen liebte, war sie ein schlechtes Kind.

So verwischte sie rasch die rauhen Züge, die sie wie durch einen Schleier geschaut, und ihre traumverlorene Seele formte wieder sein helles Bild.

Sie konnte nicht lange geschlafen haben, da erwachte sie von einem unbestimmten Geräusche. Oder hatte sie nur geträumt? Sie horchte. Tiefe Stille im Hause. Und doch war es ihr, als ob der Ton noch nachklinge in ihrem Ohre. Ja er formte sich erst wieder in ihrem wachen Gedächtnisse. Es war ein kurzer, dumpfer Ton. Der Sturm ging nicht mehr draußen. Die Mutter schlief am Ende des Ganges, daher konnte das Geräusch nicht gut zu ihr dringen.

Sie schloß die Augen wieder. O so bang, so bang! Wie bleich sie war, wie schwer ihr Atem ging! Nein, morgen darf er sie nicht sprechen, um keinen Preis. Sie wird ihm aufpassen, ihn bitten. Es könnte ihr Tod sein. Hochgradiges Herzleiden, sagte gestern noch der Arzt, jede Aufregung ist höchst gefährlich! Die gute Mutter! Wenn sie das Geräusch auch gehört hätte, sich ängstigte. – –

Da stand sie schon auf, machte Licht, nahm ihren Nachtmantel über. Eine atemraubende Angst kam plötzlich über sie. Sie wuchs lawinenartig zu einer furchtbaren Gewißheit, zu einem fertigen Bilde.

Sie eilte den Gang entlang, fröstelnd, kam vor die Türe der Mutter. Durch die Spalte brach ein Lichtstreif. Das konnte auch die Nachtampel sein.

Mama! Keine Antwort. Mama! Ich bin's, Klärchen! Keine Antwort. Die Zähne schlugen ihr aufeinander. Wenn sie jetzt nicht öffnete, versagten ihr die Kräfte.

Langsam öffnete sie. Zuerst sah sie den Schreibtisch. Die Lampe brannte noch. Papiere lagen wirr durcheinander auf dem Boden. – – Noch ein leiser Ruck, der Stuhl davor lag am Boden. Das war wohl das Geräusch, – jetzt konnte sie schon nicht mehr denken. Mama! O diese furchtbare Stille!

Jetzt öffnete sie ganz. Sie schrie nicht auf, sie wankte nicht, sie starrte nur empfindungslos auf den Körper vor ihr, auf die Mutter. Angezogen, wie sie Klärchen verlassen, lag sie auf dem Bett.

Ohnmächtig! Mein Gott! Ohnmächtig! Sie wiederholte das Wort immer wieder zur eigenen Bekräftigung, während sie sich Schritt für Schritt näherte, den Blick auf das bleiche Antlitz gerichtet, das in tiefem Schlafe zu ruhen schien.

Klärchen kannte den Tod noch nicht, aber als sie näher kam, wehte er sie an. Sie stieß einen unartikulierten Laut aus, stürzte vor, berührte die eiskalte Hand, die Stirne. Jetzt kannte sie ihn, den Furchtbaren, und im ersten Schauer der Jugend floh sie vor ihm unter die Türe.

Ihr Angstruf gellte durch das Haus. Doch nur einen Augenblick, dann siegte die Liebe. Sie warf sich über die Tote, küßte die kalten Lippen, zweifelte, hoffte, drückte den kalten Körper an das Herz, den sie eben noch im ersten Entsetzen geflohen. Es konnte ja nicht sein, es durfte nicht sein.

Dieses ohnmächtige Anstürmen gegen das Unabänderliche begann, das Rechten mit Gott und dem Schicksal.

Unterdes wurde es lebendig im Hause, das Kammermädchen kam herbeigeeilt, der alte Dominik, – die ganze Dienerschaft. Entsetzen. Tränen, Verwirrung ringsum.

Der Arzt kam und konstatierte den Tod durch Herzschlag.

Klärchen war sich dessen alles nicht mehr bewußt. Um sie her war nur mehr ein schmerzendes Geräusch, das an Kopf und Herzen zerrte. Sie fügte sich willenlos irgend jemand, der sie in ihr Zimmer führte.

Sie fühlte noch Hände um sie geschäftig, dann verschwand alles in verworrenes Träumen. – – –


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