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Sechstes Kapitel

Frau Marianne ruhte schon neben ihrem Gatten, als Johannes wieder in der Mandelgasse die Glocke zog.

Er hatte sofort nach Erhalt der Todesnachricht an Klärchen geschrieben. Befürchtend, sie möchte im ersten Schmerze sich selbst übertriebene Vorwürfe machen, suchte er diese möglichst zu entkräften.

Die Antwort setzte Johannes um so mehr in eine Entzückung, als er sie nicht erwarten konnte. Vor allem sprach ein klares Denken heraus, das sich von dem Augenblicke nicht völlig beherrschen läßt.

»Wenn eine Schuld vorliegt, so trifft sie uns zu gleichen Teilen und wir wollen sie zusammen tragen. Ihr Kommen kann nichts Böses bedeuten für mein Haus, denn Sie kommen, geführt von meinem Vater, anders habe ich die seltsame Fügung nie betrachtet. Ich habe mich jetzt einen vollen Tag mit dem geliebten Toten beschäftigt, dessen letztes Vermächtnis meine gute Mutter allein in meine Hände gelegt. Ich bin erschüttert von seiner Güte und Größe. Frauenschultern sind zu schwach sie zu tragen, meine arme Mutter hat es an sich selbst erfahren. Ich erwarte Sie am Donnerstag um 4 Uhr an dem Orte, den ich am würdigsten halte, zu dieser Unterredung: im Laboratorium Doktor Cassans.«

Johannes zeigte den Brief sofort Soran, den der plötzliche Tod Frau Cassans mit schwerer Sorge für den Freund erfüllte.

Das ist die große Seele Cassans, die da heraus spricht, sein eigen Fleisch und Blut. Das läßt sich nicht nachempfinden und nicht erlernen, wie diese Frau Marianne glaubte. O, wie klein, wie unbedeutend erscheint sie neben diesem Mädchen.

Soran mußte die Tote in Schutz nehmen gegen Johannes, dessen Leidenschaft der Brief von neuem entfesselte. Vergiß nicht, daß dir noch unbekannt ist, was sie gegen dich einnahm.

Und glaubst du, daß es Klärchen auch noch unbekannt ist? Glaubst du, daß in diesem Vermächtnis Cassans, von dem sie schreibt, nicht alles darin steht, was mich betrifft? – Ich bin überzeugt davon, – und trotzdem schreibt sie diesen Brief, sieht nur Größe, wo Frau Marianne nur Schmach und Schande gesehen.

Ich wünsche dir von Herzen, daß alles darin steht in dem Vermächtnis, – aus keinem Munde wird es versöhnlicher klingen, als aus diesem, erwiderte Soran. Ich an deiner Stelle würde keinen Punkt im dunkeln lassen. – Du wirst nie mehr in deinem Leben eine geeignetere Stunde finden.

Johannes versprach dem Freunde das Beste. Soran sollte ihn im Cassanhause abholen, er mußte ohnehin seine Kondolenzvisite machen.

Da klang die Glocke, von seiner Hand gezogen. – Die mußte weg, der Klang war ihm unheimlich.

Der alte Dominik öffnete. Er schien noch tiefer gebeugt seit dem Tode seiner Herrin, und bedachte Johannes mit nichts weniger als freundlichen Blicken. Das Fräulein erwartet Sie im Laboratorium.

Es roch noch nach Weihrauch und verbranntem Wachs in der Halle, nach dem Leichenbegängnis Frau Mariannens. Ein düsteres Haus! Wie nur ein Klärchen da drinnen geboren werden konnte!

Als er die Tür zum Laboratorium öffnete, blieb er einen Augenblick überrascht stehen. –

Eine Lampe mit grünem Schirm warf einen sanften Schein in ihre nächste Umgebung, über den Tisch mit den Schriften und Büchern, über das Haupt Klärchens, die, in eine Schrift vertieft, daran saß. – – Überraschend, wie sie jetzt Marianne glich, wie er sie von der Gundlacher Zeit in Erinnerung hatte. Das schwarze Haar glatt über die Schläfe gestrichen, das Antlitz von der zarten Weiße des Elfenbeins, das die schwarze Kleidung noch durchsichtiger erscheinen ließ. –

Da stand sie schon auf. Sie war jetzt nicht mehr das schüchterne Mädchen, etwas Selbstbewußtes, Frauenhaftes sprach aus ihr, und schuf in Verbindung mit der blühenden Jugend ein Bild von bestrickendem Reiz.

Die Glut der wiedererwachenden Empfindung wurde niedergehalten von der Würde des Augenblicks. Die kleine volle Hand hob sich wie Alabaster von dem braunen Folianten, auf den sie sich stützte.

Johannes eilte stürmisch auf sie zu und hielt dann plötzlich inne; er sah die rotgeränderten Augen, den Schmerz, der sich in den zarten Mundwinkeln festgesetzt und küßte ihre Hand. Sie ließ es ruhig geschehen.

Setzen Sie sich, Johannes! Wir wollen ganz vernünftig miteinander reden.

Er staunte über den sicheren Ton, den sie fand, fast zu sicher.

Wir haben niemand mehr, – da zitterte schon ihre Stimme, – der – zwischen uns stände, – wir müssen schon selbst – –. Klärchen setzte sich. Johannes stammelte eine förmliche Kondolenz.

Sie winkte ab. Ich glaube Ihnen ja, daß Sie die arme Mutter auch beweinen, – in Ihrer Art. Das muß ja sein. Sie erwies Ihnen ja viel Gutes. Klärchen liefen die hellen Zähren über die Wangen, – aber rasch faßte sie sich wieder. Sehen Sie, ich habe mir das leichter gedacht, das Wiedersehen. Sie trocknete ihre Tränen.

Der Eindruck ist noch zu frisch, Fräulein Klärchen, ich begreife das wohl, obwohl ich nie eine Mutter zu verlieren hatte, – indes wenn Sie bedenken, daß es jetzt keinen Menschen mehr gibt, der Ihnen so nahe steht, oder ist das zuviel gesagt?

Das ist nicht zuviel gesagt, Johannes. Klärchen sprach es mit plötzlicher Festigkeit in der Stimme. Wenn Sie mir nicht so nahe ständen, ich – ich müßte an mir selbst verzweifeln.

Johannes jubelte auf in seinem Innern. Ja, wenn Sie so sprechen, Klärchen, dann, ja dann ist ja alles – alles – –. Sie wissen ja, mit welcher Absicht ich zu Frau Marianne wollte, den anderen Tag.

Ich habe Ihre Absicht meiner Mutter mitgeteilt. Alles habe ich ihr mitgeteilt, was zwischen uns – –

Das hatte Johannes nicht erwartet. Er hatte zu früh frohlockt, – dahinter lauerte noch eine Gefahr.

Und Ihre Mutter? Sie äußerte sich noch darüber? Sie war wohl entrüstet darüber, daß dieses Gundlacher Kind es wagte, sein Auge so hoch zu erheben, – Sie –

Tun Sie ihr nicht unrecht, Johannes, fiel ihm Klärchen in das Wort. Es muß tiefer liegen, was Sie von ihr trennte.

Und kennen Sie die Tiefe? Sind Sie vielleicht an der Hand der Mutter schon hinabgestiegen zu ihr, – haben selbst geschauert davor, dann, – bitte, Fräulein Klärchen, – dann haben Sie kein Erbarmen mit mir, sprechen Sie offen. Ich bin auf alles gefaßt, – oder nein? Johannes verlor bereits seine künstliche Ruhe. Ich will sie Ihnen selbst nennen, diese Tiefe: Johannes Ohnesorg ist das Kind der äußersten Finsternis, eines Verbrechers, eines Mörders vielleicht. Nicht wahr, jetzt zittern Sie schon! Aber noch mehr, er kann ja das unheilvolle Blut geerbt haben und wieder weiter vererben, die Finsternis in das Endlose tragen. Nicht wahr, das ist die Tiefe, die Ihnen Frau Marianne zeigte, die Gattin eines Cassan!

Haben Sie jetzt genug geschmäht auf meine Mutter, Johannes?

Klärchen, ich bin erregt, – ich ahne selbst Entsetzliches.

Jetzt hören Sie, Johannes, wohin mich meine Mutter führte. Das waren ihre letzten Worte: Ich werde ihn prüfen, ich werde ihm alles sagen, – und wenn er dann noch den Mut hat, um dich zu werben, dann werde ich ihn vor deinen Vater laden und er wird richten zwischen mir und ihm. Er wird richten, und wie er richtet, so soll es geschehen.

Johannes lauschte jetzt atemlos ihren Worten, die wie aus dem Überirdischen kamen. Weiter, Fräulein Klärchen, wie soll ich wissen, was Ihre Mutter mit dem »Alles« – – Ich sprach es ja selbst aus eben, aber das sind doch nur Vermutungen. Oder haben Sie Gewißheit gefunden in der Hinterlassenschaft des Vaters, von der Sie schrieben? Sagen Sie mir alles! Wie soll ich sonst beurteilen können, ob ich noch den Mut habe, von dem Ihre Mutter spricht? Sagen Sie alles! Wer bin ich, wer meine Eltern? Welches dunkle Schicksal lastet auf mir? Welche Schmach? Ich bitte Sie darum. Aus Ihrem Munde kann ich auch meine Verdammnis hören. Er ergriff ihre Hand und sah sie mit dem angstvollen Flehen an, das schon einmal aus diesen Augen so mächtig auf sie wirkte.

Sie irren sich, Johannes! Ich weiß von all dem nichts und ich will es auch nicht wissen. Mein Vater hat ja längst schon gerichtet, hier in diesen Blättern hat er gerichtet, die mit Feuerzungen zu mir sprechen.

Sie erhob sich, legte die Hand auf den »Letzten Willen« Cassans, der vor ihr lag.

Und er hat mich freigesprochen von dem allem, was Ihre Mutter, – den Johannes Ohnesorg? fragte Johannes mit der Begierde eines Verdammten, dem sich eine Spalte des Himmels öffnet.

Den Johannes Ohnesorg! Klärchen sprach es mit einem großen Tone. Alle, alle er hat er freigesprochen mit seinen glühenden Liebesworten, alle, die der Finsternis entronnen, dem Licht zugestrebt! Alle nimmt er an sein großes Herz!

Johannes sah bewundernd auf zu Klärchen, aus deren Augen ein begeistertes Licht strahlte. Klärchen, Sie bieten mir mehr, als ich tragen kann! Er beugte sein Haupt auf ihre Hand herab.

Nicht so, Johannes, es ist noch nicht alles klar zwischen uns, die Mutter – –

Johannes ließ die Hand Klärchens fahren. Ja, die Mutter! Ich vergaß.

Die Mutter, ich kann es mir nicht anders erklären, aber es kann doch nicht anders sein, die Mutter hat aus diesen Blättern nicht dasselbe herausgelesen.

Und das macht Sie irre, Klärchen, nicht wahr?

Es beunruhigt mich, Johannes, vielleicht verstehe ich das nicht so, vielleicht denken Sie selbst anders darüber – und so bitte ich Sie, Johannes, lesen Sie, lesen Sie alles. Lesen Sie hier die Blätter, aus denen sein Geist Sie umwehen wird, und dann, nun dann geben Sie mir die Antwort, die Sie der Mutter gegeben hätten.

Das war nicht mehr das Klärchen von gestern, das vor ihm stand, und eine Sehnsucht erfaßte ihn, ein jäher Schmerz um das blühende Mädchen, aus dem jetzt die Trägerin eines Schicksals geworden war, dessen herbe Schrift er bereits zu lesen glaubte auf der klaren Mädchenstirne.

Wie Sie das alles so abwägen, Fräulein Klärchen, ich meine, ich höre die Mutter. Nur eine Frage, die alle Weisen nicht beantworten können, nicht die Toten und nicht die Lebenden, – lieben Sie mich denn noch, Fräulein Klärchen? Bin ich Ihnen noch der Johannes, den Sie vor wenigen Tagen noch mit offenem Herzen empfingen einer ganzen Welt zum Trotz? Oder hat sich ein Schatten zwischen uns gedrängt?

Klärchen war sichtlich auf solches Drängen nicht gefaßt. Der Unmut kämpfte in ihr mit dem Gefühl. Sehen Sie denn nicht, fühlen Sie denn nicht, Johannes? Ich wähle diese Stelle doch nicht zum Liebes-Stelldichein!

Johannes beugte beschämt das Haupt. Wie brutal aufdringlich er wieder war, wie sie ihn beschämte! Recht haben Sie, Fräulein Klärchen, ganz recht: ich bin ein Unverbesserlicher! Ein ewig Rückfälliger, würde Ihr Vater sagen.

Klärchen freute sich über seine Einsicht. Lesen Sie nur, Johannes, lesen Sie nur alles, dann werden Sie auch verstehen, wem allein ich diese Blätter anvertrauen kann! Ich werde Sorge tragen, daß Sie niemand stört. Klärchen ging der Türe zu. Sie sollen ganz allein sein mit ihm. Sie ging.

Johannes wagte keine Frage mehr zu stellen, ob er sie wiedersehen werde, ob er ihr Nachricht bringen dürfe.

Johannes hatte Klärchen bis an die Türe begleitet, dann wandte er sich wieder dem Schreibtische zu.

Zum ersten Male befand er sich allein in dem Raume. Die Decke lastete förmlich auf ihm, unheimlich! Ein Wunder auch, wenn er bedachte, was sich hier begeben! Dieser grelle Ring auf der Decke oben, den das Licht der Lampe bildete, sonderbar! Wie so etwas, gerade so etwas im Gedächtnis haftet! Es war aber nicht das allein! Eigentlich, wenn er es recht betrachtete, war ja die Sache gar nicht so unwahrscheinlich. Cassan mußte den Knaben doch schon irgend einmal gesehen haben, für den er sich später so interessierte. Das könnte ja hier gewesen sein, irgendwie.

Aber dazu ist jetzt keine Zeit. Er trat an den Schreibtisch. Ein großes Kuvert mit frisch erbrochenem Siegel lag vor ihm. Auf dieses hatte Klärchen gewiesen. Eine Adresse stand darauf. »Für meine Tochter Klara, zu eigenen Händen bestimmt«, stand darauf.

Johannes empfand die Größe des Vertrauens, mit Ehrfurcht nahm er den Akt heraus.

Seine Aufschrift fesselte ihn so, daß er den Brief übersah, der mit herausfiel. »Mein letzter Wille, nur für meine Frau bestimmt. – Dr. Cassan.«

Es war eher die Hand eines Künstlers als eines Gelehrten, so willkürlich ausschweifend bei aller Klarheit. Es war eine gedankenvolle und edle Schrift, die Schrift einer Hand, die noch nie etwas Gemeines berührt.

Johannes empfand Ehrfurcht vor ihr, dann setzte er sich in den Stuhl des Gelehrten und las.

Cassan begann mit einer kurzen Auseinandersetzung seiner Theorie des Verbrechens. Der Grundgedanke war: Das Verbrechen ist eine unabänderliche Notwendigkeit im Kreislauf des gesellschaftlichen Organismus, wie die Krankheit in dem des Einzelwesens, ein Ausscheidungsprodukt krankhafter Säfte, einseitige, übertriebene Virulenz der Zelle, in die Erscheinung tretend als bösartige Wucherung, Fieber, Entzündung.

Das Verbrechen ist demnach eine Krankheit und bedarf des Arztes vor dem Richter. Er soll entscheiden, vor welcher Art der Krankheit er steht, ob vor einer ererbten oder zufällig erworbenen, ob vor einer chronischen, welche den Organismus bereits bleibend nach ihrer Richtung verändert, oder vor einer vorübergehenden, von irgend einem äußeren, zufälligen Anlaß erregten.

Die Anordnung, die er zur Heilung oder Abwehr weiterer Ansteckung trifft, wird je nach dem Stand der philosophischen und menschlichen Anschauung stets mit anderen Titeln genannt werden. Die bis jetzt gebräuchlich waren, sind: Strafe, Vergeltung, Sühne, Besserung, Schutz der Gesellschaft!

Ich kenne nur eine Bezeichnung dafür: Kampf gegen die Finsternis! Nicht gegen ihre Bewohner, die Gefangenen gleichen, die wir befreien wollen, sondern gegen ihre furchtbaren Mauern und Schanzen! Sie wollen wir schleifen und dann den Befreiten mit offenen Armen entgegengehen. Kampf mit der Finsternis bis zum Tode. Aber er ist furchtbar, hoffnungslos! Ich habe ihre schlimmsten Höhlen durchwühlt, ich habe mit Messer und Mikroskop nach ihr gesucht, ich habe ihre entsetzlichen Zeichen studiert, mit denen sie ihre Opfer brandmarkt, aber ihr ursächliches Wesen habe ich nie erfaßt. Bald hat sie mich durch erborgtes Licht getäuscht, mir geschmeichelt, bald hat sie mich durch ihr abgrundtiefes Schweigen so entsetzt, daß mir die Kraft gebrach, immer war ich der Besiegte! So habe ich nur mehr ein heißes Begehren: ihr wenigstens an Eigentum zu rauben, soviel ich kann, mit List und Gewalt! Und so habe ich folgenden Plan gefaßt, dessen Verwirklichung meinem arbeitsvollen Leben vielleicht einen Sinn verleihen könnte.

Nun folgte der Entwurf von Gundlach, der Heimstätte für Verbrecherkinder.

Das Wort stand in seiner vollen Wucht vor Johannes, aber das Licht seiner Umgebung nahm ihm das ganze Düstere seines Inhaltes. Er las es ohne Erregung, ohne Schmerz.

Dann der Schluß: Marianne! Wer der Finsternis ihr Eigentum entreißen will, muß stark sein, wie sie selbst. Abstreifen muß er jedes Vorurteil, jeden Widerwillen, jeden Haß; nur drei Dinge dürfen in ihm wohnen: die Gerechtigkeit, die Wahrheit und die Liebe!

Johannes war schon lange zu Ende, aber er regte sich nicht. Sein Blick ruhte aus dem Spruch von der Finsternis und ihrem Eigentum! Welche Kraft lag für ihn darin! Er hat ihn damals auf dem Leidenslager in H. zu neuem Leben gerufen, er hat ihn hierhergeführt in dieses Haus, zu Klärchen, zur Tochter dessen, von dem er stammte, welch seltsamer Kreislauf!

Das dunkle »Müssen« stand wieder vor ihm, auf das er überall wieder stieß, in Natur und Menschen, im Guten und Bösen. Er war der Sohn eines Verbrechers, da stand es klar.

Noch nicht mürbe, Johannes? Noch immer das Haupt hoch? Hast du noch immer den Mut, von dem Frau Marianne sprach?

Da fiel sein Blick auf den Brief, der aus dem Umschlag herausgefallen. Es war die Handschrift Mariannens. Er nahm ihn zögernd, es kam ihm nie Gutes von dieser Seite.

 

Geliebtes Kind!

Wenn Du diese Zeilen liest, bin ich nicht mehr. Ich übergebe Dir das Vermächtnis Deines Vaters, das ihm wertvoller erschien als aller Besitz. Er hat es mir allein anvertraut mit der Befugnis, es weiter zu geben nach meinem Ermessen. So lege ich es in Deine Hände. Wache darüber, wie ich darüber gewacht, betrachte es als das Heiligtum Deines Lebens, wie ich es betrachtet, aber bedenke eines: Du bist ein Weib! Ich habe es an mir selbst erfahren, was das heißt. Wir können so Großem nie ganz gerecht werden. Und so rate ich Dir: Wenn Dir ein Gatte zur Seite steht, – von der Tochter eines Cassan kann ich doch erwarten, daß er ein ihr in jeder Beziehung Würdiger ist, – so lege diese Blätter vertrauensvoll in seine Hände und betrachte Dich nur als seine Stütze bei dem edlen Werke. Nur so kann ich die wahre Absicht Deines Vaters erfüllen. Jede weiteren Ratschläge wären vergeblich. Man muß die Stärke haben, welche Cassan verlangt. Mir hat sie stets gefehlt, möge Gott sie Dir verleihen und vor allem dem, den ich mit heißem Gebet an deine Seite flehe.

Deine Mutter Marianne.

 

Der Brief war dem Datum nach bereits vor zehn Jahren geschrieben. Aber die Schrift war offenbar nicht so alt. Es war eine Abschrift, sogar aus jüngster Zeit, wie ihm die genaue Beobachtung zeigte, kurz vor ihrem Tode vielleicht hergestellt, mit einigen Abänderungen wohl. Der Satz von dem würdigen Gatten war eingesetzt, das in »jeder Beziehung« war unterstrichen.

Und da hatte er schon den Beweis. Auf der Rückseite stand eine Nachschrift. Sie trug das Datum der Todesnacht Mariannens.

 

Wenn ich diesen meinen vor zehn Jahren geschriebenen Zeilen heute noch etwas beifüge, so ist es die mütterliche Besorgnis, die mich dazu treibt: einst von Dir mißverstanden scheiden zu müssen. Der wohlverschlossene eiserne Schrank in meinem Arbeitszimmer in Gundlach enthält die genaue Liste sämtlicher Angehörigen der Anstalt seit ihrem Bestehen, chronologisch geordnet. Sämtliche den angenommenen Namen der Zöglinge beigefügten näheren Angaben sollten nach dem ausdrücklichen Willen des Gründers, der mir stets heilig war, strengstes Geheimnis des jeweiligen Leiters bleiben, der nur zu wissenschaftlichen Zwecken, ganz besonders vertrauenswürdigen Personen gegenüber, davon Gebrauch zu machen hat. Die Angaben sind in einer Geheimschrift abgefaßt, deren Schlüssel sich in dem beiliegenden Kodizile des Vaters findet. Der Schlüssel wird Dir auch die Pforte zu dem Rätsel öffnen, das ich Dir wohl in den letzten Tagen gewesen bin. Wie Du einst auch über die Lösung denken wirst, sei vorsichtig mit Deinem Urteil! Du könntest mir bitter unrecht tun, wenn Du bis dahin nicht selbst Mutter bist. Das Letzte, das Äußerste aber, das merke Dir wohl, mein Kind, das nehme ich mit hinüber zum Vater!

 

Was stand in dieser Geheimschrift von Gundlach, wenn nicht das Letzte, das Äußerste, – daß er von einem Verbrecher stammt.

Aber das war ja schon in diesen Blättern enthalten, die er eben gelesen, in denen der eigentliche Zweck Gundlachs erläutert war.

Also gab es noch etwas Ungeheuerlicheres, das sie mit hinübernahm zum Vater. Was mochte das nur sein?

Übrigens, was kümmerte es ihn! Klärchen hat ja auch diesen Brief gelesen und ist nicht abgefallen von ihm!

Ach, wenn sie nur käme! Wie wollte er danken und sein Leben wie ein Geschenk von neuem aus ihrer Hand empfangen!

Er trat zu dem Schrank mit den Schädeln. Er kannte ihn schon aus den Werken des Gelehrten; wiederholt war darin die Rede von diesen seinen Lieblingsschätzen. Dann vor das große Bücherregal. Er las die ihm wohlbekannten Aufschriften anatomischer Werke – Cassan und wieder Cassan. – Gall, Combe, Simpon, Vimont, Cuvier, eine Reihe von Arbeiten auf demselben Felde.

Unterhalb waren zahlreiche Fächer angebracht, mit beweglichen Deckeln geschlossen, welche die Bezeichnung des Inhaltes trugen. Er las »Korrespondenzen« – »Statistik« – »Anstalten« – »Prozeßverzeichnisse« – »Vorlesungen« – »Tagebücher« – »Persönliches« – »Kataloge fremder Literatur« – »Beobachtungen an Objekten« – »Tabellen«.

Dieses letzte Fach öffnete er und entnahm ihm einen Teil seines Inhaltes, lose Blätter von gleichem Formate. Das war ja Cassans Schwäche, die er an diesem weitschauenden Mann nie recht begreifen konnte, dieses zähe Festhalten an äußeren Merkmalen, dieses nüchterne Schematisieren, das ihn nur zu oft auf Umwege führte, dem er zuletzt auf so furchtbare Weise selbst zum Opfer fallen mußte.

Nichts konnte mehr sein Interesse erwecken, als wie er dabei verfahren. Er nahm den Pack und setzte sich an den Schreibtisch.

Doch er konnte der trockenen Materie keinen Geschmack abgewinnen.

Eben wollte er, ermüdet davon, den Pack wieder zurücklegen, da stieß er bei der letzten Tabelle in seiner Hand auf eine Bemerkung von Cassans Hand, die ihm auffiel: »B. S. würde zu einem gründlichen Versuche, wie weit durch organische Erscheinungen altererbte Triebe und Anlagen unter günstigen Lebensbedingungen in eine andere Richtung zu bringen oder geistig zu beeinflussen sind, ein hervorragendes Versuchsobjekt abgeben. Vorgemerkt für Gundlach.«

Diese letzte Bemerkung verursachte ihm ein seltsames Rieseln den Rücken hinab. Jetzt las er erst das Vorhergehende aufmerksam: »Befund B. S., den 3. Februar 18...«

Johannes hielt an. – 18...! Das war das Todesjahr Cassans! – Im Winter wurde er ermordet, im Februar! Er hatte es ja oft gelesen. Also wohl eine seiner letzten Untersuchungen, die letzte vielleicht!

Ein Gedanke kam ihm. Auf dem Schädel des Mörders im Schranke stand ja das Datum.

Er ging hin, nahm den Schädel mit dem roten Kreuz heraus. Da stand es schon: »Georg Stubensand mordete Doktor Cassan den 4. Februar 18...«

Wahrhaftig, am Tage vor seinem Tode schrieb er die Tabelle!

Er stellte den Schädel zurück und griff mit neu erregtem Interesse nach der Tabelle: »Knabe, vier Jahre alt. Haare blond, lockig, – Augen blau, – artistische Hand.« Folgte die Zeichnung des Kopfes mit eingetragenen Maßen, in schematischen Ziffern. »Besondere Bemerkung: Außerordentliche Entwicklung des Cerebellums. Allgemeine Charakteristik: Die Intelligenz überwiegt die Instinkte, diese die Gefühle!

»Vater: Deutscher, wegen Einbruch und Todschlagsversuch mit Zuchthaus bestraft, intelligenter Arbeiter. Mutter: Slawin.«

Dann folgte die Anordnung betreffs Gundlach.

Johannes hielt sich die Stirne und versank in tiefes Nachdenken. Dann las er wieder Wort für Wort. Und warum sollte es nicht sein? Vier Jahre alt! Februar 18... war er vier Jahre alt. Cassan konnte den armen Knaben ja zum Versuche verwendet – –

Da sah er sich im Raume um, auf den Sessel vor sich – – der grüne Fleck oben auf der Decke –

Dann wäre ja auch das erklärlich! Hier konnte es geschehen sein. – – Wo er saß, saß der alte Mann, und bei ihm – – langsam formte sich aus dem Nichts ein Bild, – – war eine Frau!

»Haare blond, gelockt, – Augen blau! Die Intelligenz überwiegt die Instinkte, diese Gefühle!« –

Sonderbar, wie auch das zutraf! Wenn er es war, hatten Cassan seine Messungen nicht betrogen.

Allerdings kann er an diesem Tage auch einen anderen Jungen von vier Jahren untersucht haben, der blaue Augen hatte und blonde Locken. Aber auffallend war es doch, in Verbindung mit seiner seltsamen Erinnerung.

Er wendete das Blatt und legte es zu den übrigen. Das letzte lag vor ihm. Die Aufschrift schon fesselte seinen Blick. »Befund: G. S., 4. Februar 18...«

4. Februar! Der Todes-, der Mordtag! G. S.

Georg Stubensand, der Mörder! Kein Zweifel! Die berüchtigte Tabelle lag vor ihm, die an dem Elenden zum Verräter wurde, wie er oft gelesen.

Jetzt zitterte er vor Spannung.

»Mann. Alter 41 Jahre, mit drei Jahren Zuchthaus vorbestraft. Haare: schwarz, – Augen: schwarz, artistische Hand.«

Oh, diese artistische Hand! Die sah er wohl oft, auch bei dem Knaben.

Er blätterte zurück. Ganz richtig! Die Maße in der schematischen Zeichnung waren nicht eingetragen, dazu ließ ihm der fürchterliche Künstler wohl keine Zeit mehr.

»Außerordentliche Entwicklung des Cerebellums!« Johannes stutzte. Sehr abwechslungsreich waren diese Untersuchungen nicht.

»Die Intelligenz überwiegt die Instinkte, diese die Gefühle!« Jetzt lachte er ärgerlich auf. Der gute Cassan machte es sich doch leicht mit seinem Formelwesen.

»Allgemeiner Eindruck ungünstig, starker Triebmensch, brutal, jähzornig, aber ausgesprochen intellektuell, epileptische Symptome.«

Johannes wallte das Blut gegen den Kopf. Dieses Urteil des Opfers erschütterte ihn. Und wie richtig er urteilte! Das war der Mensch zu der Tat.

Oh, Cassan sah doch tiefer, tiefer wie alle, die ihn über seine Altertümlichkeit belächelten. Das Schema war ihm nur die Form, den Inhalt schaffte er selbst mit seinem genialen Blick, der wohl jede Seele durchdrang.

Diese Übereinstimmung in den Hauptmerkmalen, mit dem Mann und dem Knaben!

Johannes verglich immer wieder die beiden Tabellen. Und der Vater des Knaben war auch ein Verbrecher, deshalb wird ihn Cassan wohl gewählt haben. Den einen Tag das belastete Kind, den anderen den – fertigen Verbrecher.

G . . S . . und B . . S . . – vielleicht Sohn – und – Vater!

Da sprang er auf und lachte laut über sich. – Das fehlte noch zur völligen Narrheit. Johannes, nimm dich in acht! Er schritt durch das Zimmer. Aber was denn? Daß dieser Mann und dieser Knabe vielleicht in Beziehung miteinander gestanden! Gut, sagen wir sogar, wie Vater und Sohn! Was dann weiter? Was dann weiter?

Er trat vor den Glasschrank und starrte auf den Schädel Stubensands. Schurke, elender! Was hast du für ein Unglück angerichtet, und brütest wohl jetzt noch neues da drinnen –

Eine Uhr schlug irgendwo. Jetzt mußte er gehen, es war die höchste Zeit! Es ist nicht gut so allein hier, und sie kommt ja doch nicht, Klärchen! Seine einzige Retterin vor dem Dunkeln allen, was gegen ihn herankroch! Ob er ohne sie je die Kraft – –?

Aber nur fort aus diesem Raume! Es liegt da etwas in der Luft, etwas Gespensterhaftes. Johannes nahm seinen Hut. – Er hatte vergessen, die Tabellen wieder in den Kasten zu legen. Rasch trat er vor den Tisch, die beiden letzten lagen abseits. Er nahm sie mit zitternden Händen, überflog sie noch einmal, – – da hörte er Tritte draußen.

Johannes warf einen seltsamen, lauernden Blick hinter sich, gegen das Fenster, dann raffte er die beiden Blätter auf, ließ sie mit einer raschen Bewegung in seiner Brusttasche verschwinden.

Es war Soran, der ihn abholen wollte, wie abgemacht war.

Er trat vor gegen die Türe. – Wer da? Keine Antwort. Jetzt trat er hinaus, – Klärchen stand vor ihm. Sie war von seinem Erscheinen sichtlich verwirrt, es war, als ob sie fliehen wollte, da hielt er sie an der Hand fest.

Warum kamen Sie nicht herein, Klärchen?

Ich wollte nur nachsehen, ich dachte, Sie seien schon fort, – dann – dann – schämte ich mich zu fliehen.

Sie beugte das Haupt wie eine Schuldige.

Schämen, Klärchen? Sie sich schämen, weil Sie so barmherzig waren, mich nicht ziehen zu lassen ohne das erlösende Wort. Kommen Sie, Klärchen, nur auf eine Minute! Sie genügt, um über mein Schicksal zu entscheiden.

Klärchen folgte ihm willenlos. Sie haben alles gelesen? Alles? Sie wissen, wer allein die Wohltat Gundlachs genießen durfte?

Klärchen nickte nur stumm.

Sie haben auch den Brief Ihrer Mutter gelesen? Von dem Letzten, das sie mit hinüber genommen? – Was denken Sie sich unter dem Letzten? – Was könnte es sein? – Fürchten Sie es nicht? – Auch dieses Letzte nicht?

Nein!

Obwohl Sie es nicht kennen? Und wenn es einmal doch sich melden würde, aus dem Dunkel heraus? Auch dann nicht, Klärchen?

Auch dann nicht.

Klärchen! rief er in wildem Drange seines Erlösungsgefühles.

Die Frage ist nur, ob Sie es nicht fürchten, Johannes. Deshalb bat ich Sie ja zu lesen.

Ich, ich soll fürchten, wo Sie vertrauen? – Ich Klärchen? Er ergriff ihre Hand und küßte sie im Überschwang seines Gefühles.

Das wäre wohl möglich! Klärchen sprach es mit sichtlichem Bangen.

Johannes erschrak, die Worte waren bedenklich. Wie meinen Sie das, Klärchen, wie möglich?

Ich bin nur ein Mädchen, ich weiß nicht wie ein Mann empfindet, darum muß ich Ihnen vertrauen, Johannes. Sie wissen jetzt alles!

Johannes schreckte auf. Nicht mehr wie Sie, Klärchen. Hören Sie wohl auf. Ich bin der Sohn eines Verbrechers, eines Verbrecherpaares, das vielleicht in Schmach gelebt, in Schmach gestorben. Ihr Vater hat mich aus dem Dunkel meiner Geburt gerettet, mich neu geboren, ich fühle mich losgelöst von dem, was vorher war. Das ist alles, was ich weiß, was wir beide wissen! Und jetzt die große Frage: Schreckt Sie dieses alles nicht –? Wollen Sie dem Werke Ihres Vaters die höchste Weihe geben, wollen Sie den letzten Anspruch der Finsternis an Johannes Ohnesorg tilgen, mit Ihrer Lichtseele, Klärchen!? Sein Blick hing mit einem dringenden Flehen an ihr, während Klärchen ihm, mit dem Ausdruck einer letzten Besorgnis, ins Auge sah.

Dazu brauchen Sie mich wohl nicht mehr, Johannes.

Sagen Sie das nicht, Klärchen, beschwören Sie sie nicht. Sie kennen sie nicht, wie Ihr Vater sie kannte, wie ich sie kenne. Nur ein Wort, Klärchen, und sie flieht für immer. Wollen Sie ihren letzten Anspruch an mich tilgen?

Ja, Johannes! Klärchen sprach es fest und klar. Da hielt er sie schon umfaßt, wortlos, bebend, während ihr die schmerzvolle Lust der völligen Besitzergreifung die Besinnung raubte.

Sie liebte Johannes schon als Kind, unablässig trug sie sein Bild im Herzen, das ihr von dem des Vaters unzertrennlich schien, was jetzt geschah, war nur die Erfüllung. Sie hatte ihn so ausgestattet mit allem Guten und Großen, er stand so losgelöst von seiner Vergangenheit vor ihr, daß die neue Erfahrung, noch dazu in einer ihm möglichst günstigen Weise aus dem Vermächtnis des Vaters gezogen, keinen abschwächenden Eindruck mehr machen konnte. Im Gegenteil vollendete sie in ihr nur das Bild des Märtyrers, für den ihr Vater gestritten.

Die Schwärmerei der Tochter gesellte sich dem Feuer der ersten Liebe und gab sie Johannes vollends zu eigen.

Es war ganz still im Gemach, nur der grüne Kreis an der Decke zitterte unruhig, wie von einer geheimnisvollen Ätherwelle bewegt.

Ein Klopfen weckte die Versunkenen. Es war wohl nicht das erste, seiner unwilligen Stärke nach.

Klärchen schrak auf, Johannes runzelte die Stirn. Dieser Soran!

Soran? Klärchen beruhigte sich sichtlich. Der soll nur eintreten!

Herein! rief Johannes, sichtlich weniger versöhnt.

Der alte Dominik war's. Er torkelte einen Schritt zurück, wohl im Erstaunen, das Fräulein hier zu treffen. Dann hob er den Blick nicht mehr vom Boden. Der Herr Graf Soran will Sie holen, Herr Doktor. Ich konnte ja nicht wissen. – Entschuldigen Sie schon, gnädiges Fräulein.

Nichts zu entschuldigen, Dominik! Erhebe ruhig die Augen und begrüße deinen künftigen Herrn! Sage dem Grafen, daß Doktor Ohnesorg ihn hier erwarte. Hörst du, Doktor Ohnesorg, – nichts von mir!

Das war das alte Klärchen in Stimme und Ausdruck. Der Schleier war gefallen, der eben noch ihr ganzes Wesen umhüllte, klar und hell stand sie da.

Dominik glotzte einen Augenblick sprachlos, dann schüttelte er den Kopf und ging.

Klärchen lachte. So werden sie ihn alle schütteln.

Auch Soran! Wirst sehen. Klärchen!

Soran? Das glaub' ich nicht. Da kommt er schon.

Soran trat ein. Dominik hatte nichts verraten. Er war sichtlich überrascht von dem Anblick des Paares, doch war es schwer, es aus seiner Miene zu erkennen, welcher Art die Überraschung.

Ich stelle dir hiermit Fräulein Klärchen Cassan als meine Braut vor! erklärte Johannes mit etwas stark betontem Hochgefühl.

In diesem Raume war für mich keine andere Deutung möglich! Es sprach ein versteckter Vorwurf daraus, der Klärchen erröten machte. Mögen Sie ihn damit für immer entsühnt haben. Soran küßte ihr die Hand, dann reichte er sie Johannes. Meinen herzlichsten Glückwunsch! Ich zweifelte keinen Augenblick, daß zwei Menschenkindern wie euch volle Klarheit zum Ziele führen müsse. Ihr seid euch doch klar?

Völlig klar! bekräftigte Klärchen.

Nein, anders, Klärchen! verbesserte Johannes. Dieser Graf ist gefährlich, er hängt am Worte, und wir wollen ganz ehrlich sein. Du bist großherzig und teilst dich mit mir in unsere Unklarheit!

Wenn ihr nur ehrlich geteilt, dann kann es nicht fehlen, meinte Soran.

Johannes verdroß die Rede. Hörst du ihn, Klärchen, den ewig Bedenklichen? Ja, meinst du denn, wandte er sich an den Freund, mir wäre es nicht auch lieber, ich könnte einen ganzen Stammbaum aufweisen wie die Sorans? Das habe ich nun einmal verscherzt.

Um dich dafür in einem andern Baum festzunisten, der edler ist als mancher Edle, in dem Baum der Cassans! Laß deine Schärfe, Johannes, sie hat dir schon manche kostbare Stunde geraubt! Er reichte ihm ritterlich die Hand. Ich gratuliere dir, Johannes, von ganzem Herzen, und Ihnen, Fräulein Klärchen, der würdigen Tochter ihres Vaters. Wahrlich, ich fühle seinen Geist, der diesen Bund gestiftet.

Sie sagen nicht zu viel, er hat ihn wirklich gestiftet, bemerkte Klärchen, gerade hier hat er ihn gestiftet. Sie wies auf den Schreibtisch.

Soran trat andächtig hin. Sein Blick fiel auf die Schrift »Mein letzter Wille«. Er betrachtete schweigend die Züge, dann glitt er beiseite auf den Karton mit den Tabellen. Sieh nur, Johannes! Er nahm eines der Blätter heraus, eine phrenologische Tabelle. Wenn ich bedenke, daß er diesem heiligen Eifer zum Opfer fiel.

Da stand schon Johannes neben ihm und nahm ihm mit einer ungeschickten Hast das Blatt aus der Hand.

Wie kommst du denn gerade auf eine solche Erinnerung! Übrigens wirklich wertlose Aufzeichnungen, die besser im Verborgenen bleiben. Johannes hatte den Karton ergriffen und schob ihn in das Fach zurück. Übrigens, es ist spät geworden – – wir müssen gehen, Klärchen.

Und du bist so bleich, Johannes!

Nur müde, abgespannt, Klärchen! Auch das Glück ermüdet, wenn es zu groß, zu mächtig über uns kommt.

Unter seiner Hand auf der Brust knisterte Papier. Der Abschied von Klärchen entsprach nicht ganz der Stärke des Augenblickes.

Soran gab seiner störenden Gegenwart schuld. Klärchen fühlte nur einen Überschwall von Gefühl heraus, den Johannes mit Recht zurückdämmte. Sie war ihm nur dankbar dafür.

Vor dem Hause hielt Sorans Wagen. Du gehst wohl lieber? sagte er zu Johannes. In einer solchen Stunde hält man es nicht aus in einem solchen Kasten, ich kenne das, da ist einem die Welt zu enge.

Johannes war ihm dankbar für diese Einsicht, er hätte es wirklich nicht ausgehalten in dem Kasten.

*

Der Kopf glühte ihm, als er durch die Mandelgasse ging. Hatte er nicht allen Grund, hell aufzujauchzen, toll zu sein vor Glück? Hatte er je Ähnliches nur ahnen können? Klärchen sein eigen, ganz für immer sein eigen!

Und da kratzte er immer wieder wie ein Kind an der offenen Wunde, anstatt sie vernarben zu lassen.

Er griff sich unwillkürlich an die Brust, da knisterten wieder die Papiere in der Tasche.

Die waren schuld daran. Nicht einmal der Inhalt, was läßt sich nicht alles herauslesen aus geschriebenen Zeilen, – – – aber daß er sie zu sich steckte, heimlich zu sich steckte, – stahl!

Lächerlicher Mensch! Er wollte sie ja wieder zurücklegen, da kam Klärchen, und dann Soran – fand er denn noch Zeit dazu? Morgen, bei nächster Gelegenheit wird er sie wieder in den Schrank legen.

Als er auf seinem Zimmer war und sich auszog, kamen sie ihm wieder unter die Hände. Er las sie noch einmal und verglich sie.

B. S. könnte er ja wohl sein. Warum nicht? Obwohl auch das höchst fraglich.

Aber jeder weitere Schluß war eine Unmöglichkeit. G. S. – Weil beide Namen mit S anfingen? Höchst geistreich! Jeder Adreßkalender ist ein Gegenbeweis. Weil das Cerebellum bei beiden stark hervortritt? Sehr wichtig! Als ob man das nicht von tausend Individuen schreiben könnte.

Die Ähnlichkeit der Charakteristik, der Widerwille Frau Mariannens, damit wäre er wohl erklärt! – Je näher die Wahrheit rückte, desto mehr sträubte er sich dagegen.

Ja, zum Teufel! Wollte er denn durchaus der Sohn dieses Stubensand sein? Genügte ihm die Frau im Krebs noch nicht als Mutter, die er sich auch nur aus allen erdenklichen grausamen Schlüssen zurechtgeschaffen? Er wußte ja nichts, gar nichts, als was sie, Klärchen, mit ihm wußte – und er war ein ausgemachter Tor, wenn er weiter forschte.

Völlig mit sich im reinen, legte er sich zu Bett, löschte das Licht und beschwor Klärchens Gestalt.

Aber die Tabelle in seiner Rocktasche ruhte nicht. Der Kopf mit der Nummer belebte sich, tauchte vor ihm auf und fing ein verworrenes Gespräch mit ihm an – – und der eine Kopf war er selbst, und der andere trug dicht unter dem schwarzen Kraushaar ein feuerrotes Kreuz auf der schneeweißen Stirne.


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