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Drittes Kapitel

Es war gekommen, wie Cassan es vorher geahnt: das großherzige Testament erregte allgemeine Bewunderung.

Obwohl über den großen Reichtum des Cassanschen Hauses in nahestehenden Kreisen, vor allem in der Mandelgasse, kein Zweifel bestand, ging das doch über alle Erwartung hinaus, streifte anderseits schon wieder an eine Marotte, wenn man bedachte, daß er Frau und Kind hinterließ.

Da hörte man von einer alle zehn Jahre zu verteilenden Prämie für die beste Lösung einer Preisfrage: »Das Verhalten des Staates dem Verbrechertum gegenüber!«, von einer aus den Zinsen eines dazu festgesetzten Kapitals fortwährend zu ergänzenden anatomischen Sammlung im Cassanschen Hause, die der Öffentlichkeit zugänglich sein sollte.

Vor allem aber war es die »Kolonie Gundlach«, Erziehungsanstalt für arme und verwahrloste Kinder, so war ihr öffentlicher Titel, welche sich der größten Sympathie erfreute.

Man machte sich eine Ehre daraus, die Anstalt zu patronisieren, als deren Leiterin die schönste und geistreichste Frau der Stadt erst jetzt an die Öffentlichkeit trat. Frau Professor Cassan, deren trauriges Schicksal alle Herzen bewegte, die es auf ebenso hinreißende als aufopfernde Weise verstand, für das hochherzige Vermächtnis ihres Gatten Propaganda zu machen. Wer hätte da noch daran gedacht, irgend eine Rechenschaft über Verwendung der Gelder oder nähere Auskunft über den Betrieb der Anstalt zu verlangen!

»Frau Marianne«, wie sie bald überall hieß, war unumschränkte Herrin auf Gundlach, vom ersten Stein an, der zu dem jetzt weithin sichtbaren Bau gelegt wurde.

Auf diese Weise erwies sich das Hindernis völlig gehoben, welches Cassan seinerzeit am meisten zu schaffen gemacht: die Geheimhaltung des eigentlichen Zweckes den Insassen der Anstalt sowohl als der Öffentlichkeit gegenüber.

Marianne war die erste und letzte Instanz für alle Maßnahmen, für Aufnahme, Buchführung und Statistik.

Vorderhand konnte es sich nur um rein menschliche Zwecke handeln, die wissenschaftlichen kamen erst in Jahren in Betracht. Sie trug keine Sorge, daß sich bis dahin nicht die vertrauenswerten Elemente finden sollten, welche im Sinne des Gründers weiter schafften.

Die Kolonie Gundlach unterschied sich schon äußerlich völlig von anderen derartigen Anstalten. Das gewöhnliche Kasernensystem, dem jede Heimlichkeit fehlt, war von vornherein ausgeschlossen. Kleinere und größere, durchweg im ländlichen Stile gehaltene Häuser, von in sich wieder begrenzten Gärten umgeben, fügten sich in loser Verbindung um ein Hauptgebäude, dem ebenso durch eine vielseitige Gliederung, Vorsprünge, Erker, Türme, Wein- und Obstspaliere jedes System genommen war. Es glich eher einem behäbigen Herrschaftshaus, um das sich in patriarchalischem Sinne die Dörfler drängten. Auch eine geräumige Kapelle fehlte nicht im Anbau.

Da war alles Erdenkliche vorgebildet, was zu einer Niederlassung gehörte: Schmiede, Schreinerwerkstatt, Schlosserei, das verschiedenste Gewerk, während in dem Hauptgebäude die allgemeinen Unterrichtsräume sich befanden.

Die durch Zäune getrennten Anwesen, mit ihren Obst- und Gemüsegärten, ermöglichten gewisse, sehr wohl angezeigte Gruppierungen der Kinder, die sich dann doch wieder im großen Hause zu allgemeinen Zwecken vereinigt sahen. So wurde nicht nur das Heimatsgefühl wachgerufen, sondern auch der Gemeinsinn geweckt; während die förmliche Trennung in einzelne Haushalts- und Wirtschaftsbetriebe den regen Wettstreit der Kräfte in jeder Art von Führung weckte.

»Wer der Finsternis ihr Eigentum entreißen will, muß stark sein wie sie selbst, abstreifen muß er jedes Vorurteil, jeden Haß. Nur drei Dinge dürfen in ihm wohnen: die Gerechtigkeit, die Wahrheit und die Liebe!«

Diesen Schlußsatz des Cassanschen Testamentes hatte Marianne zum Motive des Ganzen genommen. Der beste Beweis, wie ernst es ihr damit war und daß ihr auch die Kraft nicht dazu fehle, war die Wahl des ersten Zöglings.

Sie fiel auf Benno Stubensand, den Sohn des vor einem Jahre zur Sühne seiner blutigen Tat auf dem Schafott gestorbenen Mörders ihres Gatten, den kleinen Bini, den Prachtkerl, welchen Cassan noch mit eigener Hand für sein geliebtes Gundlach vorgemerkt. Alle, unwillkürlich in ihr sich geltend machenden, dem Kleinen feindlichen Gefühle konnten sie davon nicht abhalten. Die gehörten der weiblichen Schwäche an, gegen welche eben die drei Dinge Cassans ins Feld geführt werden mußten.

Sofort nach der Verhaftung der Eltern – Frau Stubensand wurde der Mitschuld verdächtig mit eingezogen – übernahm sie die entsprechende Unterbringung des Knaben bis zur Eröffnung der Kolonie.

An diesem Tage trat Johannes Ohnesorg, wie Marianne ihn taufte, in die Anstalt als erster Zögling ein. Der Name Stubensand war für immer gestrichen von seiner Lebenstafel. Nicht einmal in dem geheimen Akte Mariannens war er zu finden. Nur am Schlusse stand in einer von Cassan selbst hinterlassenen, nur Marianne und ihren allenfalsigen späteren Vertrauten verständlichen Chiffreschrift: »Aufgenommen im Jahre 19.. im Alter von vier Jahren, als Sohn eines wegen Raubmordes zum Tode Verurteilten.«

Der kleine Johannes war an diesem Tage der Held, dem jeder der zahlreichen Gönner irgend ein Angebinde hinterließ. Aus seinen großen blauen Augen sprach eine schwere Anklage und zugleich eine köstliche Verheißung.

Da stand eines von den Tausenden von Kindern, die man bisher achtlos untergehen ließ in dem Schlamme des Elends und des Verbrechens, um sie dann später, wenn sie reif zur furchtbaren Ernte, vor den Richter zu stellen und auf ewig zu verdammen.

Der Monarch selbst schickte einen Glückwunsch, dem sich noch ein besonderer Gnadenakt anschloß: der erste Zögling sollte nach Verlassen der Anstalt auf Kosten des Kabinetts, seiner Fähigkeit entsprechend, weiter ausgebildet werden. Der Glückliche war wieder kein anderer als Johannes Ohnesorg, der von der glücklichen Wendung seines Schicksals keine Ahnung hatte und alle die überströmenden Liebes- und Gunstbezeigungen mit einem gewissen erhabenen Gleichmut hinnahm, die den Kindern mit den Königen gemeinsam ist.

Frau Marianne hatte an diesem Tage um den Knaben einen neuen harten Kampf zu bestehen. Das Antlitz des Mörders, das, im Gerichtssaale von ihr erblickt, einen unauslöschlichen Eindruck hinterließ, starrte ihr immer wieder aus seinen Zügen entgegen. Und seltsamerweise zog sich auch dieser, wie von einer instinktiven Ahnung ergriffen, auffallend scheu von ihr zurück, während er sonst gegen jedermann ein offenes furchtloses Wesen zur Schau trug.

Der kleine Johannes war jetzt schon der Probier- und Wetzstein ihrer Fähigkeiten zu dem schweren Amte, das sie übernommen.

*

Fünf Jahre waren seitdem vergangen. Gundlach stand bereits in vollster Blüte! 54 Kinder, Knaben und Mädchen, bildeten die Bewohnerschaft.

Es wimmelte von kleinen Feld- und Gartenarbeitern, und alle Werkstätten waren in voller Tätigkeit.

Die Anstalt fußte auf der Prämisse der eigenen Ernährung, wenn auch vorderhand, bei der großen Jugend der Insassen, an eine volle Verwirklichung dieses Planes noch nicht gedacht werden konnte.

Marianne war derart aufgegangen in ihrem neuen Berufe, daß sie sich genötigt sah, diesem das größte Opfer zu bringen, indem sie Klärchen in ein Pensionat brachte. Es leiteten sie dabei zwei Beweggründe: sah sie einerseits die Unmöglichkeit, unter diesen Umständen ihren mütterlichen Pflichten ganz und voll nachzukommen, war ihr anderseits auch daran gelegen, ihr Klärchen von der immerhin gewisse Gefahr bringenden Atmosphäre Gundlachs fernzuhalten.

Gundlach war nun einmal, was es war und sein sollte! Aller idyllische Friede, der darüber gebreitet schien, all die balsamische Luft konnten daran nichts ändern. Da wurden Keime eingeschleppt, von denen Marianne anfangs keine Ahnung hatte, häßliche, gefährliche Keime, die eine Welt von Verderben in sich bargen, von denen man nicht begreifen konnte, wie sie in diesen unschuldigen Kinderseelen so fest haften konnten, wie sie unter ihnen so ungünstigen Bedingungen Wurzel fassen und sich entfalten konnten.

Mariannens Auge mußte sich erst allmählich schärfen für diesen listigen Schmuggel, der da getrieben wurde.

Da gab es kein Verbrechen, das nicht wenigstens in der Anlage, oder auch gewissermaßen en miniature ausgeführt sich zeigte. Vom raffinierten Diebstahl eines Apfels, der fühllosen Grausamkeit gegen einen Käfer bis zum wohlüberlegten Anschlag auf das Leben eines Genossen; aber auch keine kleine Großtat, von all den rührenden Ritterlichkeiten des Kinderspiels und der Kameradschaft bis zur Opferung des Lebens in todesmutigem Rettungswerk. Es war ein ständiges Ringen niederer Gewalt um die Herrschaft, und oft dachte sie mit Wehmut des Gatten, mit welcher Forscherwollust er den Kampf beobachtet hätte.

Frau Marianne hatte ihren Wohnsitz völlig nach Gundlach verlegt. Das Haus in der Mandelgasse mit dem die furchtbarste Erinnerung ihres Lebens bergenden Rückgebäude zwischen den rauchschwarzen Erlen war für sie ohne Klärchen nicht mehr bewohnbar.

Es hüllte sich in immer tiefere Schatten. Man wich ihm selbst in der Mandelgasse aus, soweit es möglich war. Dann und wann, daß ein wissensdurstiger Besucher kam, der die Cassansche Sammlung besehen wollte, dann tönte die Glocke wie geborsten durch die Halle, und ein altes verkrümmtes Männchen öffnete, selbst eine Mumie, der Nachfolger Ferrols, der nach langer Untersuchungshaft, als unschuldig entlassen, trotz aller Aufforderung Mariannens, die ihn gewissermaßen als zur Hinterlassenschaft ihres Gatten gehörig betrachtete, trotzig seinen Abschied nahm.

Es war Osterwoche, – sonniger Frühlingstag! – Weiße Blütenwolken hüllten die Kolonie ein.

Zum ersten Male war Klärchen in Gundlach. Marianne hatte es diesmal nicht verwinden können, ihren Liebling, der in die Ferien gekommen, wenigstens einige Tage in die herrliche Natur herauszunehmen; war es doch ein karger Lohn für die monatlange, schmerzlich empfundene Trennung. Und doch saß sie mit sorgenvoller Miene in ihrem Arbeitszimmer vor dem mit Schriften und Briefschaften angefüllten Tische.

Sie war sichtlich gealtert. Etwas Matronenhaftes war an die Stelle der blühenden Weiblichkeit getreten; ein entsagungsvoller Zug um Mund und Nase trug dazu bei, der dann und wann hart und herbe erscheinen konnte. Die gewählt einfache Kleidung in farblosem Grau, eine weiße Haube mit Rüsche auf dem schon leise ergrauenden Haare, eilte wohl etwas zu sehr dem Alter voraus. Sie hätte jetzt vorzüglich an die Seite Cassans gepaßt. Ja es war, als ob Marianne bei dem völligen Aufgehen in die Intention des Toten unwillkürlich sich auch seiner äußeren Form angeschmiegt habe.

Frau Marianne griff immer wieder kopfschüttelnd zu einem Brief, der offenbar die einzige Ursache ihrer Sorge war, denn unten im Obstgarten, unter den weißen Blütenwolken, tollten die Kolonisten in jugendlichen Spielen und erfüllten die Luft mit ihrem Jubel. – Gewiß für die Hausmutter kein unangenehmer Lärm.

Vor dem hohen Fenster, dicht neben ihr, kniete Klärchen, in österliches Weiß gekleidet, auf einem Schemel und sah mit leuchtenden Augen dem lustigen Volke im Garten zu, jedes besondere Ereignis, einen Sieg im Wettlauf, oder einen gelungenen Spieltrick mit lautem Rufen, Händeklatschen und treffenden Bemerkungen begleitend.

Und es war wirklich der Brief, der sie so verstimmte, die wenigen Stunden raubte, die sie noch für Klärchen übrig hatte. Es war eigentlich kein Brief, sondern ein grober, mit Bleistift geschriebener Bogen, dreimal zusammengefaltet und mit rotem Wachs gesiegelt. So fand er sich bereits seit drei Tagen, ohne Marke, also persönlich aufgegeben, in dem Briefschalter der Anstalt.

Frau Marianne hatte schon viele Briefe ähnlichen Inhaltes erhalten, voll der Schmähungen, törichter Forderungen und Anklagen. Es war auch nichts Ungewöhnliches, daß in der Anstalt aufgenommene Kinder aus irgendwelchen, teils eigennützigen, teils von wirklicher mütterlicher Sehnsucht angegebenen Gründen zurückverlangt wurden, mit Gewalt gedroht oder auf Recht gepocht wurde.

Marianne wußte dem stets zu begegnen, bald mit liebevollem Zureden und Aufklärung, bald mit eiserner Strenge. Sie schreckte selbst vor einem scheinbaren Gewaltakt nicht zurück und ging bis an die äußerste vom Gesetz gestattete Grenze, wenn es galt, einen ihrer Schützlinge vor dem Verderben zu bewahren. Aber dieser Brief weckte all die Schauer in ihrer Brust, die sie in Jahren strenger Pflichterfüllung zurückgedrängt.

Es war eine klobige, unbeholfene Schrift, schief, die Buchstaben verschoben.

 

An die Frau Cassan in Gundlach!

Nicht daß Sie glauben, eine Mutter, weil sie arm und elend ist, hätte kein Recht mehr auf ihr Kind. Das werde ich Ihnen schon zeigen! Ich bin aus dem Zuchthaus entlassen, in das Sie mich unschuldig hineingesteckt, weil ich hätt' meinen Mann verführen sollen – wissen schon –, ist aber nicht wahr. Nun erzählt hab' ich ihm, was ihr reiche Leut' unnütz Geld in den Laden habt und wir Armen nichts zu essen dabei. Mein Sohn Bini ist bei Ihnen in der Anstalt, ich weiß es, Ohnesorg heißt er jetzt. Es hat ihn einer dort gesehen und gesprochen, der ihn gut kennt – und Sie kennen ihn auch – der Ferrol, der jetzt mein Mann ist. Jawohl, er hat's auch erfahren müssen, was es um die Freundschaft mit euch ist. Ein Jahr ist er gesessen! Wir müssen uns zusammentun gegen euch, jawohl! Das haben wir auch getan und eine Wirtschaft aufgetan, – und bringen uns jetzt ehrlich fort. Und darum will ich meinen Bini zurückhaben. Und wenn Sie ihn nicht gutwillig geben, holen wir ihn! – Jawohl! – Sie haben kein Recht auf mein Kind, und Wohltaten brauch' ich keine von Ihnen, wohl aber meinen Buben für die Wirtschaft! Also schicken Sie mir ihn, oder lassen's mir wissen, wann ich ihn holen kann. – Sonst geh' ich zu Gericht! – Wenn ich auch Stubensand heiß', – ich fürcht' mich nicht.

Susanne Ferrol.

 

Stubensand! – Ferrol! – Die Verbindung dieser beiden Namen hatte etwas Ungeheuerliches für Marianne, etwas Erschütterndes!

Das war ein Bund, wie ihn nur die unterste der Finsternisse stiften konnte.

Marianne fühlte ihren giftigen Brodem aufsteigen aus dem Schreiben in ihren Händen.

Etwas mußte geschehen! – Geht sie zu Gericht, – wer weiß, wie da entschieden wird! Marianne hatte schon einmal einen ähnlichen Fall erlebt. An ein vernünftiges Zureden, einen Appell an die Mutter, war in diesem Falle nicht zu denken.

Johannes Ohnesorg war das Sorgenkind der Anstalt! Alle erdenklichen guten und gefährlichen Eigenschaften waren in ihm vereinigt. Voll Begabung nach allen Seiten, war er in seiner sonstigen Führung unberechenbar, ein ständiges drohendes Geheimnis! – Zeiten unbegrenzter Fügsamkeit, musterhaften Betragens wurden von Momenten unbezähmbarer Widerspenstigkeit, geradezu der Umgebung gefährlichen Gewalttätigkeiten unterbrochen; kindliche Liebe, geradezu schwärmerischer Anhänglichkeit an Mutter Marianne wechselten mit haßerfüllten Zornesausbrüchen, unbeugsamem Trotz. Mehr wie einmal hatte er weitverzweigte Empörungen gegen die Vorstandschaft angezettelt, um dann vor wirklichem Ausbruch derselben reumütig seine Schuld zu bekennen und alles auf sich zu nehmen.

War diese exzessive Seite seines Wesens auch nicht die vorherrschende, ein bedenkliches Element im Hause war er immer, zumal eine Eigenschaft konstant blieb: ein maßloser Freiheitstrieb, der sich mit einem für ein Kind von zehn Jahren überraschend scharfen Urteil über alles um ihn Bestehende verband.

Marianne bedachte in diesem Augenblick das alles, und trotzdem war es ihr, als müsse das ganze Gundlach mit diesem Knaben verloren gehen! Cassan selbst rief es ihr zu: Halte, rette ihn!

Ein Plan stieg in ihr auf. In diesem Augenblick erschütterte gelles Geschrei aus Kinderkehlen die Luft.

Klärchen am Fenster fuhr jäh auf. Mama! Komm doch – komm doch! Er schlägt ihn tot!

Marianne stand hastig auf und trat an das Fenster. Das Geschrei hatte seinen Höhepunkt erreicht. Von einem dichten Kinderhaufen umringt, fand ein erbitterter Kampf statt. Ein kräftiger Junge, bloßfüßig, in Hemdärmeln, hielt einen zweiten am Boden fest, während seine Faust immer von neuem herabsauste. In dem Griff der Hand, in der Energie seiner Bewegungen lag schon etwas Männliches. Dichtes blondes Gelock fiel ihm weit in die erhitzte Stirne.

Marianne riß mit einer kräftigen Bewegung die Fensterflügel auf. Johannes! rief sie mit einer zornigen Stimme, die den Schwarm unten auseinanderstieben und den mutigen Kämpfer, wie von einem elektrischen Strom berührt, auf die Beine springen ließ.

Er warf den Kopf auf und schüttelte die Locken aus der Stirne, während der Besiegte, offenbar der ältere, mit einem höhnischen Lachen sich hinter der Masse verbarg.

Du kommst sofort herauf! Marianne befahl es mit erregter Stimme.

Der Knabe schürzte die Lippen und zögerte einen Augenblick, den Kopf trotzig nach vorwärts beugend.

Sofort zu mir! wiederholte Marianne ihren Befehl. Da ging er langsam, die Schultern hochgezogen, noch einen wegwerfenden Blick auf die schadenfrohe Jugend um ihn her werfend, dem Hause zu.

Klärchen sah atemlos dem Vorgange zu. Sie nahm sich nicht einmal Zeit, das reiche Schwarzhaar zurückzustreichen, das ihr im Eifer in das Gesicht fiel. Was tust du ihm denn? Klärchen fragte es in sichtlicher Besorgnis. Der Garstige hat ja angefangen.

Geh in dein Zimmer, Klärchen! erwiderte die Marianne ernst.

Nicht böse mit ihm sein, Mama! Ich habe es ja mitangesehen. Der Rothaarige ist an allem schuld.

Er braucht dich nicht zu seiner Verteidigung! Es ist mir peinlich genug, daß du den rohen Auftritt mitangesehen hast. Geh jetzt, Klärchen!

Der Ton duldete keinen Widerspruch. Klärchen ging in das Nebenzimmer.

Marianne atmete tief auf, griff noch einmal nach dem Brief vor ihr. Wenn dieser Ferrol, der ihn gesprochen haben will, ihn aufgeklärt hätte über alles? Dann war Johannes eine Gefahr für Gundlach, die sofort entfernt werden mußte.

Da klopfte es ganz resolut. Furcht hatte er keine.

Herein!

Johannes Ohnesorg trat ein. Eine schlanke, aber sehnige Kindergestalt. Die vom Schweiße des Kampfes gelösten Locken hingen ihm noch wirr in das gebräunte Antlitz von tadelloser Reinheit der Linien, das Hemd hing zerrissen von der rechten Schulter und entblößte eine schneeweiße Brust. Er hielt den Kopf hoch, und sein ausdruckvolles Auge wich dem Blicke Mariannens nicht aus.

Du führst dich einmal wieder gut auf! begann Marianne. Johannes, das geht nicht so fort –

Geht auch nicht, Mutter Marianne, ich lasse mich nicht immer verspotten! – Das blaue Auge glänzte jetzt feucht.

Wer verspottet dich denn?

Alle! Aber von dem roten Mathes schon gar nicht. Der stiehlt! Ja, er stiehlt! Und sein Vater hat auch schon gestohlen! Von dem schon gar nicht!

Das Mitleid, das bei diesen Worten in Marianne aufstieg, milderte ihre Erregung. Ich habe euch schon wiederholt auf das strengste jeden gegenseitigen Vorwurf verboten, das kommt Kindern nicht zu. Wenn der Mathes etwas Schlimmes getan hat, so ist er auch dafür bestraft worden, alles andere ist bösartiges Gerede, das ich ein für allemal über niemand dulde im Hause. Hörst du?

Ja, Mutter Marianne! erwiderte Johannes, ohne Demut, aber offenbar sein Unrecht einsehend.

Über was spottete denn der Mathes und alle, wie du sagst? fragte Marianne weiter.

Johannes zögerte einen Augenblick. Den »Prinz Hannes« heißen mich alle, weil – weil's heißt, – der König tät' mich studieren lassen. Das ist doch keine Schand'! Der König wird schon wissen, warum er's tut. – Keinenfalls einem, dem sein Vater gestohlen hat, hab' ich dem Mathes gesagt. Ich bin stolz darauf. Ja, das bin ich auch! Johannes warf den Kopf selbstbewußt auf.

Marianne bewegte der traurige Irrtum des Knaben, zugleich aber löste er in ihr eine gewisse Bitterkeit, den unedlen Wunsch, ihn darüber aufzuklären, als gönnte sie ihm dieses stolze Bewußtsein nicht. Dazu hast du wirklich keinen Grund, Johannes, stolz zu sein! bemerkte sie herb. Du hast diesen Vorzug lediglich dem Zufall zu danken, daß du als erster Zögling in die Anstalt aufgenommen wurdest. Das hätte gerade so gut dem Mathes passieren können. Daß du es nur weißt.

Johannes' Antlitz verfinsterte sich. Gerade so gut dem Mathes? Dann – dann pfeife ich darauf! Er machte eine wegwerfende Bewegung.

Johannes, nimm dich in acht! drohte Marianne.

Dann will ich gar nicht mehr bleiben, dann lauf' ich davon. Jawohl! Die hellen Tränen liefen ihm über die Backen.

Marianne überraschte diese Drohung, die hatte er noch nie ausgesprochen. Die war nicht von ihm – der Mann, der ihn gesprochen, – tauchte der Gedanke in ihr auf, – Ferrol! Jetzt mußte sie alles erfahren! Sie mäßigte ihren Eifer.

Du hast dieser Tage jemand gesprochen. – Einen Fremden! – Lüge nicht!

Ich habe noch nie gelogen, Mutter Marianne!

Also ja?

Auf dem Weg ins Dorf, – vorgestern.

Er hat dich um deinen Namen gefragt?

Ja.

Sonst nichts? Ich will jedes Wort wissen, was er zu dir gesprochen!

Johannes schwieg.

Er hat dir den Rat gegeben, davonzulaufen? Gestehe es nur!

Das hat er nicht getan! Er hat mich nur gefragt, wie es mir gefällt in der Anstalt. Gut, hab' ich gesagt.

Und dann?

Dann hat er mich gefragt, ob ich von meinen Eltern was weiß. – Nein, hab' ich gesagt.

Weiter, weiter! drängte Marianne.

Aber er wüßt' was davon, hat er gesagt. – Ob ich nicht zu meiner Mutter möcht'? – Sie möchte mich schon lange gern sehen.

Und was hast du darauf gesagt?

Sie soll herkommen, hab' ich gesagt. – Das leid' deine Frau da oben nicht, hat er gesagt.

Da hat er vollkommen recht, der Mann. – Sie leidet es auch nicht, die Frau da oben! brach jetzt in Marianne eine heftige Erregung sich Bahn.

Johannes zuckte sichtlich überrascht zusammen. Wenn es aber meine Mutter ist? Seine Augen leuchteten plötzlich auf.

Eben wenn es deine Mutter ist! Marianne reute sofort dieses Wort. Du kannst das nicht verstehen, setzte sie in mildem Tone hinzu, es ist das einmal Vorschrift in der Anstalt.

Doch es war zu spät, die unbedachten Worte hatten bereits gezündet. Johannes sah sie groß an. Ja, wer ist denn dann meine Mutter?

Geh jetzt, Johannes, ich will dir deine Strafe für dein rohes Benehmen erlassen, beschwichtigte ihn Marianne.

Wer ist denn dann meine Mutter? fragte der Knabe noch einmal mit zitternder Stimme. Es lag etwas Drohendes in seiner vorgebeugten Haltung, und die kleinen Fäuste ballten sich.

Der Anblick empörte Marianne. Das war der Sohn des Mörders, der jetzt vor ihr stand! Du gehst jetzt augenblicklich und verläßt heute die Abteilung nicht mehr. Morgen wirst du das Weitere erfahren!

Klärchens Kopf erschien jetzt in der Türspalte. Das Mädchen erblickte Johannes und trat ein. – Mama! Sie erhob flehend die Hände zur Mutter. Nicht böse sein! Dann wandte sie sich rasch zu dem Knaben und nahm ihn bei der Hand. Komm, die Mama ist schon wieder gut!

Johannes blickte unverwandt auf das weiße Mädchen mit dem schwarzen Haar. Eben wollte er ihre Hand fassen, da trat Marianne vor und entriß sie ihm mit einer heftigen Bewegung.

Schäme dich, Klärchen, du hast mit diesem Knaben nichts zu tun! Mit einer raschen Bewegung schob sie das verdutzte Kind in das Nebenzimmer und schloß die Türe.

Johannes war wachsbleich geworden, ein heftiges Zittern ging durch seine Züge. Schämen? Warum schämen? fragte er.

Marianne wußte so rasch keine Antwort. Sie wandte sich ab und trat an das Fenster, um sich zu sammeln. Da ging die Türe hinter ihr, – als sie sich umsah, war Johannes verschwunden. Sie wollte ihn zurückrufen, besann sich, und ließ es. Was wollte sie ihm auch sagen? – Für Johannes Ohnesorg war hier kein Platz mehr. Diese Menschen werden nicht ruhen, und er war ein dankbares Objekt für ihre Bosheit. Noch war es Zeit, noch hatte Ferrol dem Knaben nichts verraten, er wird damit nicht lange warten.

Marianne traf alle Vorbereitung, den Knaben bereits den andern Tag in das Seminar zu schicken, dem er im Herbst übergeben werden sollte. Das war die einfachste Lösung der Frage.

Wie schwer es doch war, den Worten des edlen Toten nachzukommen: »Wer der Finsternis ihr Eigentum entreißen will, muß stark sein, wie sie selbst. Abstreifen muß er jedes Vorurteil, jeden Haß. Nur drei Dinge dürfen in ihm wohnen, – die Gerechtigkeit, – die Wahrheit – und die Liebe!«

*

Jedes der Häuser, die das Hauptgebäude in ungezwungener Weise, durch Gärten und Höfe getrennt, umgaben, führte seine eigene Wirtschaft, unter einem angestellten Werkmeister, dessen Frau die der Abteilung zugeteilten Mädchen unter sich hatte. Jedes bildete ein eigenes, in sich abgeschlossenes Heim, mit eigentümlichem Wirtschaftsbetrieb.

Johannes gehörte in die Schmiede, mit der ein vom Flusse getriebener Eisenhammer in Verbindung stand, der, bereits vor Gründung der Anstalt tätig, dazu erworben worden war.

Das heimliche Holzhaus stand am Uferrand, von Obstbäumen dicht umgeben.

Es war Feiertag, der Hammer stand still, im Garten saßen die Mädchen mit Handarbeit beschäftigt, um eine derbe Matrone, die, mit einer Hornbrille bewaffnet, aus einem Buche vorlas, – die Werkmeisterin Margold. Ihr Mann und Vorstand der Abteilung band wilden Wein auf, der schon kräftig zu treiben anfing.

Diesem friedlichen Orte näherte sich Johannes, aber nicht auf dem geraden Wege, der von dem Hauptgebäude hinführte, sondern schleichend wie ein Fuchs, jede Deckung benutzend.

Der Werkmeister wird ihn um alles Erdenkliche fragen, wenn er ohne seinen Kameraden nach Hause kommt, wo er sein Hemd zerrissen, – dem wollte er ausweichen, indem er sich von rückwärts in das Haus schlich.

In seinem Innern kochte und brodelte es. Der Anblick der Mädchen im Garten, des Friedens ringsum reizte ihn noch mehr. Das war alles nicht mehr für ihn. »Schäme dich!« hat sie zu dem Mädchen gesagt. »Schäme dich!« – Daß sie seine Hand berührt? – Das war also eine Schande! – Warum arbeitete er denn? Und die alle um ihn her? Aber die wußten ja alle nichts davon, – aber er weiß es jetzt, – und der ganze Ort ist ihm verhaßt. Und warum, – warum? – Die Mutter? Warum darf die Mutter ihn nicht sehen? Wer kann ihr das verwehren? – Warum verwehrt man es ihr? – Wer war sie denn? Warum behielt sie ihn nicht bei sich, wenn sie ihn doch liebhatte? –

Johannes stand jetzt hinter der Radkammer des Hammers und starrte in den ziehenden Fluß, in dem sich schon der Abend spiegelte.

Sehen möchte er sie doch einmal. Ob sie wohl der Frau Margold glich, mit der Hornbrille? Etwas wie eine dunkle Erinnerung stieg in ihm auf, – an einen schmutzigen Hof, einen schwarzen Mann. – – Seltsame Bilder woben sich in dem Hirne des Knaben.

Der rote Schimmer im Wasser verschwand, ein kühler Wind fegte heran.

Johannes wollte in das Haus, – da pfiff einer drüben über dem Flusse. Hinter den Weiden ging der Fußweg dem Dorfe zu. Ein schmaler Steg führte dicht hinter dem Radkasten vorbei, hinüber. Johannes blieb stehen, sah hinüber. Ein Mann winkte ihm. Er erkannte ihn sofort, es war der Mann von gestern, er trug dieselbe Schiffsmütze mit geradem Schirme, tief im Genick.

Unwiderstehlich zog es ihn hinüber. Fragen konnte er ihn wenigstens, um Auskunft bitten.

Er sah sich nach allen Seiten um. Alles still! Niemand da! – Da war er schon über dem Steg. Er hatte sich nicht geirrt, es war der Mann.

Kommst du mit? flüsterte er ihm zu. Diese unerwartete Frage machte Johannes stutzig. Der Mann gefiel ihm nicht, er fürchtete sich fast vor ihm. Wohin? fragte er zögernd.

Nun, zu deiner Mutter. Ich warte schon eine Stunde auf dich.

Ich darf ja nicht.

Wenn du fragst, freilich nicht. – Ich wart, hier. Wenn es dunkel wird, kommst! Kannst dich nicht fortstehlen? – Eh's Tag wird, bring' ich dich wieder her!

Johannes war seit fünf Jahren nicht mehr aus der Anstalt hinausgekommen. Das Abenteuer reizte ihn, abgesehen von allem anderen. – Wenn man die Mutter nicht zu ihm läßt, hat er das Recht dazu.

Ist's weit, wohin Sie mich führen?

In die Stadt halt –

Und meine Mutter erwartet mich? – Warum hat sie mich denn herein getan? – Ist sie recht arm?

Frage nicht so viel mein Junge. – Gehst mit oder nicht?

Wo ist denn der Vater?

Der? Der ist schon lange tot. Also, willst du? Ich glaub' gar, du fürchst mich! Was wär' denn an dir zu holen, – he? Der Mann lachte.

An Johannes' Seele zerrte jedes Wort, – die letzte Bemerkung des Mannes gab den Entscheid.

In einer halben Stunde geht alles schlafen, dann komm' ich daher, flüsterte er.

Es wurde laut im Hause. Mit einem Sprunge war er über den Steg, die Stiege hinauf, in der Schlafkammer. Rasch zog er ein anderes Hemd an, seinen Sonntagsrock. Unten in der Stube sammelten sich die Kinder zum Abendbrot. Der Werkmeister sprach das Gebet vor.

Johannes schwankte schon wieder in seinem Vorsatze. Es war doch schön hier und der Werkmeister war ein tüchtiger Mann, bei dem man was lernen konnte. Wenn er den Fremden verglich dagegen! – Aber er kommt ja wieder! Und was er alles sehen wird! – Die Stadt! – Die Mutter! – Er will doch erfahren, ob das weiße Mädchen sich schämen muß, ihn bei der Hand zu nehmen.

Sein Entschluß war gefaßt. Er ging hinunter zum Abendbrot.

Der Werkmeister war besonders freundlich mit ihm. Für den anderen Tag hatte er eine Arbeit für ihn, auf die er sich schon lange freute. Eine neue Maschine sollte im Hammer montiert werden.

Da wird der Johannes euch zeigen, was er gelernt hat! sagte der Werkmeister vor allen Knaben.

Das Blut stieg dem Johannes in den Kopf vor Stolz. Was war dagegen die Geringschätzung, die er bei Frau Marianne erfahren! Selig wäre er gewesen, wenn nicht das Vorhaben auf ihm gelastet hätte.

Alles ging zur Ruhe. – Der Schlaf kommt wie ein Räuber über die Jugend, besonders nach so wonnigen Frühjahrstagen! In einer Viertelstunde rührte sich nichts mehr im Hause, nur Johannes wachte.

Um alles gerne wäre er geblieben, aber das Abenteuerliche reizte ihn, die falsche Scham, der Mann könnte ihn für feige halten.

Es war stockfinster, als er über den Steg huschte. Da stand schon der Mann an seiner Seite und nahm ihn bei der Hand. Johannes empfand einen seltsamen Schauer. Er wollte sich losreißen, doch der Mann ließ ihn nicht.

Jetzt mußt schon mit, Bürschl, für'n Narr'n halten, – gibt's nicht!

Er folgte ihm über die schwarzen Felder wie im Taumel – mehr gezogen als freiwillig.

Ferrol stand in dem Prozeß Cassan unter schwerer Anklage. Seine von ihm selbst nicht geleugnete Bekanntschaft mit Stubensand, der, durch den vorgefundenen Steckbrief seines Opfers überwiesen, seine Tat eingestand; sein übler Leumund als ehemaliger Zuchthaussträfling, dazu die gravierende Aussage des Universitätsboten, der den Professor und seinen Diener wenige Stunden vor dem Morde in heftigem Dispute angetroffen hatte, verschiedene andere Umstände ergaben ein erdrückendes Material gegen ihn.

Er hatte es größtenteils den für ihn äußerst günstigen Aussagen der Frau Stubensand, die eher auf eine feindliche Stellung Ferrols zu ihrem Gatten schließen ließen, zu danken, daß er mit einer einjährigen Untersuchungshaft davon kam, während diese selbst, der moralischen Beeinflussung, in Verbindung mit Spionage im Cassanschen Hause, überführt, zu drei Jahren verurteilt wurde.

Ferrol schied mit einem tiefen Groll aus dem Gefängnis. Sein Bruch mit der Gesellschaft war jetzt vollständig. Der einzige, der ihn zu überbrücken verstand, Professor Cassan, war tot. – Die alten Kräfte wirkten.

Frau Cassan hatte ihn stets mit Mißtrauen betrachtet, ihr Antrag, ihn nach seiner Entlassung wieder in Dienst zu nehmen, galt mehr dem Verstorbenen als eigener Überzeugung. Die stolze Frau, die in ihm immer nur den entlassenen Sträfling gesehen, war ihm von jeher verhaßt; und vor allem: er wollte nicht mehr dienen. Das Jahr im Gefängnis hatte ihn von der Torheit geheilt. Er hatte sich bei der Sorglosigkeit des Professors ein kleines Vermögen auf die Seite gebracht, mit dem etwas anzufangen war.

Eine Kneipe in der Nähe des »Walls« war frei. Eine Art Heimatsgefühl packte ihn. Das war etwas anderes als die Mandelgasse. Er pachtete den »Krebs«. Seine Lage dicht an der Brücke über dem Strom war äußerst günstig.

Er gehörte eigentlich noch nicht zum »Wall«, von dem ihn ein schmaler Kanal trennte, so daß er auf einer Art Landzunge lag. An den Fest- und Sonntagen kamen sogar die kleinen Leute aus der Stadt in den »Krebs« und vergnügten sich mit Bootfahren und Fischfang, so primitiv auch beides war.

Dadurch gewann er einen gewissen vertrauenerweckenden Anstrich, selbst der Behörde gegenüber.

Andererseits lieferte ihm der »Wall« seine ständigen Gäste, die in dem neuen Wirte mit dem bekannten Korpsgeist dieses Kreises einen alten Kameraden begrüßten.

Fehlte Ferrol nur noch eines, – eine passende Wirtin. – Das Schicksal kargte nicht mit ihm. Eines Tages erschien Frau Stubensand im »Krebs«. Er hatte ihr ihre großmütige Hilfe vor Gericht nicht vergessen. Schon damals regte sich in ihm eine gewisse Sympathie für die »unglückliche« Frau, wie er sie nannte. Was konnte sie denn für die ganze Geschichte? Der Stubensand war nicht der Mann, der eine Frau braucht zu so einer Tat.

Die Gefängnisluft hatte sie ordentlich verjüngt, sie war schlanker geworden, auch die bleiche Farbe stand ihr ganz gut zu dem pechschwarzen Haare. Immer noch ein Prachtweib, beim Lichte betrachtet. Daß ihr Mann am Schafott gestorben! Was ging das ihn an! Und er war zehn Jahre im Zuchthaus, – das gleicht sich aus. Für die Welt draußen waren sie beide Ausgestoßene, da konnten sie sich getrost die Hand reichen. Gar so wählerisch durfte er auch nicht mehr sein, in seinen Jahren. Dasselbe sagte sich wohl Frau Stubensand. Die Seelen fanden sich. Es verging kein Monat und Frau Stubensand war Wirtin im »Krebs«.

Jetzt, unter Dach und Fach, mit behäbigem Auskommen, erwachte in ihr etwas wie Muttergefühl. Im Grunde genommen war es das mit dem Besitze erwachende Selbstgefühl, Trotz und noch etwas, – Bini war jetzt gut zu gebrauchen.

So mußte er her. Wer hat das Recht, einer Mutter ihr Kind zu nehmen?

Sie wußte, daß Frau Cassan, gleich nach ihrer Verhaftung, den Knaben in ihre Obhut genommen. Damals mußte sie im stillen noch dankbar sein. Jetzt kehrte sich ihr ganzer Haß gegen die Frau. Sie war für sie die Personifizierung aller ihrer feindlichen Mächte. Den Mann hat sie auf das Schafott gebracht, und jetzt will sie mit ihrem Kinde vor der Welt schön tun! – Nichts haßte sie mehr als diesen Edelmut der Reichen auf Kosten der Armen.

Ferrol mußte den Buben ausbaldowern. Es fiel ihm nicht schwer. Die Annahme, daß er in der Kolonie Gundlach stecke, lag nahe. – Aber wie herausbringen?

Und die Frau drängte, drohte mit persönlichem Eingreifen, durch das nur alles verdorben werden konnte.

Da gelang ihm auf zweimal der gewagte Streich, der ihm persönlich, weil er der verhaßten Frau Cassan galt, eine höllische Freude machte.

Ferrol spann seine Pläne, während er mit dem Knaben querfeldein der Stadt zueilte, die, gekrönt von ihrer Nachtaureole, sich gegen Westen ausbreitete.

Für das erste hielt er es nicht angezeigt, daß der Knabe sogleich in das Schicksal seiner Eltern eingeweiht werde, das konnte höchstens abschreckend auf ihn wirken. Er wird Sanne dringend davor warnen. Ferner handelt es sich um die Stellung zu den Gerichten. Frau Cassan wird alle möglichen Schritte tun, den Knaben wieder nach Gundlach zu bekommen. Am besten wird es sein, er machte gleich morgen selbst die Anzeige. Der Bube sei ihm freiwillig gefolgt, ohne sein Zutun. Daß dieser so aussagt, dafür kann man ja sorgen. Am Ende war es ja auch nicht anders.

Er stellte jetzt schon so verfängliche Fragen. Sie scheiterten aber an dem beharrlichen Schweigen des Knaben.

Zweimal sah sich Johannes nach Gundlach um, doch es war längst im Dunkel versunken, und sein Begleiter hielt ihn mit eiserner Hand fest.

Jetzt betraten sie die Stadt. Das dumpfe, fremdartige Geräusch, das von ihr ausging, das Lichtmeer, das ihm förmlich entgegenwallte, nahm alle Sinne Johannes' in Beschlag.

Es war wohl berechnete Absicht Ferrols, daß er den Knaben durch die belebtesten und vornehmsten Straßen der Stadt schleifte, um ihn völlig zu verwirren und zu blenden, seine Phantasie zu reizen.

Plötzlich änderte sich das Bild. Die Straßen wurden immer dunkler, unscheinbarer, eine enge Gasse nahm sie auf, die zu dem Strome führte.

Johannes kam wieder die Angst, das Bewußtsein seiner verwegenen Tat. Ob es denn noch weit sei zur Mutter? Ob er ihn denn sicher zurückbringen werde, ehe es Tag wird? – Ferrol versprach es hoch und teuer.

Sie betraten die schmale Holzbrücke über den Strom. Es gurgelte und rauschte unheimlich um die Pfeiler. Drüben lag der »Wall«, der mit seinen schwarzen Giebeln und Kaminen eine düstere Silhouette bildete. – Eine feuchte, üble Luft wehte herüber.

Johannes gedachte seines Häuschens am Fluß, er erinnerte sich des Werkmeisters Margold, mit dem er morgen früh an der Maschine arbeiten sollte!

Plötzlich stemmte er sich gegen seinen Führer und weigerte sich entschieden, weiter zu gehen.

Erst wandte dieser Gewalt an, dann ließ er ihn plötzlich los. Nun, dann lauf halt! rief er ihm zu und machte wirklich Miene, sich zu entfernen. Schon hatte ihn der dunkle Hintergrund des Walles aufgesaugt.

Wohin in der Finsternis? Wie sollte er allein nach Gundlach finden? Die Tränen traten Johannes in die Augen, er lief freiwillig seinem Begleiter nach. Jetzt mußte er es schon durchmachen.

Ferrol bog in den Dammweg ein, dem Strome entlang, an niedrigen Holzhäusern vorbei, verfallene Zäune entlang, dann traten sie in einen dunklen, feuchten Garten. Dicht am Ufer des Kanals, in dessen Wassern grelle Lichter sich spiegelten, lag der »Krebs«.

War es bisher still, unheimlich in der engen Gasse, herrschte hier reges Leben. Stimmengewirr drang heraus, Klaviergeklimper.

Johannes, an die reinliche Atmosphäre Gundlachs gewöhnt, flößte die ganze Umgebung einen unklaren Schrecken ein. Das weiße Mädchen fiel ihm plötzlich ein. – Wenn es ihn hier sähe!!

Da wohnt meine Mutter? fragte er beklommen.

Ferrol zog ihn in das Haus. Schrecke dich nicht, Kleiner, sind lauter brave Leut', nur ein bißchen lauter als eure Duckmäuser in Gundlach. Sanne! rief er in die Wirtsstube hinein. Komm heraus!

Johannes sah durch die halbgeöffnete Türe einen Tisch voll Männer in Tabakqualm gehüllt. Das Herz schlug ihm in Erwartung der Mutter.

Eine große Frau trat heraus in den matt erleuchteten Gang. Sie hatte eine unsaubere, grellrote Jacke an, deren Ärmel, aufgestülpt, muskulöse Arme zeigten. Sie stutzte, als sie den Knaben sah, und schlug klatschend die derben Hände zusammen.

Ja hast ihn wirklich bracht, mein' Bini? Ja, bist du's denn wirklich, Bini?

Johannes heißt er jetzt, lassen wir's dabei! erklärte Ferrol.

Frau Ferrol achtete nicht auf seine Worte. Sie beugte sich herab, ergriff Johannes mit beiden Armen und hob ihn in die Höhe. Ein Ausdruck wirklicher Zärtlichkeit zeigte sich auf ihrem geröteten Gesichte. Kennst mich nimmer, – deine eigene Mutter? Sie drückte ihm einen derben Schmatz auf die Backen. No, wir werden schon wieder bekannt werden! Gelt, Bini? – Aber groß und stark bist worden! Red doch! Freust dich, daß d' wieder bei deiner Mutter bist? – Oder fürchst dich gar?

Johannes sprach kein Wort. Die ungestüme Liebkosung, die rauhe Stimme, das ganze Wesen der Frau – – kein anderes Gefühl als Schrecken regte sich in ihm. Das ist deine Mutter nicht, schoß der Gedanke in ihm auf, der Mann hat dich betrogen.

Laß ihn jetzt, Sanne! mahnte Ferrol, dann flüsterte er mit ihr.

Die Frau war sichtlich nicht einverstanden mit ihm. Die lange G'schicht! – Zum Lachen! sagte sie.

Ich will's aber! erklärte Ferrol befehlend.

No ja, es ist ja recht, sei nur nicht gleich so! erwiderte sie. Hast Hunger, Bini, – Johannes, will ich sagen? wandte sie sich an den Knaben. Z' essen haben wir g'nug, mehr schon, als in dein'm Gundlach draußen. – Ja red'n mußt schon, Bursch! setzte sie dann, über das ängstliche Schweigen verdrossen, scharfen Tones hinzu.

Ich dank' schön, ich hab' zu Hause schon gegessen, sagte Johannes kleinlaut.

Z' Haus, – so? Jetzt bist aber da z' Haus, Bübl. Verstehst das? Bei deiner Mutter –

Ferrol machte eine ärgerliche Bewegung.

Frau Sanne nahm Johannes bei der Hand und führte ihn in einen kleinen Raum neben der Wirtsstube. Ein unaufgeräumtes Bett, herumliegende Kleidungsstücke, auf dem Tische die unsauberen Überreste einer Mahlzeit, ein zerrissenes, rotgeblümtes Kanapee, das alles von einer kohlenden Küchenlampe beleuchtet, ergab den Eindruck einer liederlichen Wirtschaft, die den an die peinliche Ordnung der Anstalt gewohnten Johannes geradezu abstieß. Es war eine andere Welt, in die er seit einigen Minuten blickte, und sie erfüllte ihn mit unüberwindlichem Widerwillen.

So, jetzt setz dich einmal! Trink und iß!

Frau Sanne schenkte Bier aus einer Flasche ein und stellte einen Teller mit Fleisch vor Johannes. Ferrol winkte ihr und sie folgte.

Johannes blieb allein. Er rührte keinen Bissen an, aber das Glas trank er hastig aus, so brannte ihm der Gaumen von den Aufregungen der letzten Stunden.

Unwillkürlich mußte er daran denken, wie er oft andächtig dem Spiele der Mutter Marianne zuhörte, wie das ganz feierlich herausquoll aus dem geöffneten Fenster. Diese häßlichen Töne dagegen! Er fühlte unbewußt den ganzen schneidenden Kontrast zwischen dort und da heraus.

– – Wenn er da bleiben mußte? – Nimmermehr! – Wenn es aber doch seine Mutter wäre! – Auch dann nicht! Er soll aber auch nicht dableiben, nur sehen wollte sie ihn, sagte der Mann. Warum wollte sie ihn aber sehen, wenn es nicht seine Mutter war, einen armen Buben wie er? – Also ist sie es doch, – und von ihm ist es recht garstig, daß er nicht lieber mit ihr ist. Das muß sie ja kränken. – Arm ist sie halt. Dann macht er es ja gerade so wie die Frau Marianne, die sie darum verachtet.

Was fürchtet er sich denn? – Fremd ist ihm halt alles. Er war ja auch noch nirgends in seinem Leben, und überall kann es nicht so sein wie in Gundlach.

Helles Gelächter erscholl in der Wirtsstube. Da, die machen sich das Herz nicht schwer.

Zuerst hat es ihn gedrängt, auch einmal ein Abenteuer zu bestehen, einen Flug in die Welt zu machen, und jetzt läßt er den Kopf hängen!

Er schenkte sich noch einmal aus der Flasche ein, der Durst quälte ihn so. Und das gibt Mut!

Da öffnete sich die Türe zur Wirtsstube, und Frau Sanne erschien. Komm da herein, Hannes! Tut dir kein Mensch was!

Er hätte sich jetzt geschämt, nur einen Augenblick Furcht zu zeigen, und folgte der Aufforderung.

Da trink, Hannes! rief ihm ein Gast zu. Trink!

Er wagte nicht, es zurückzuweisen. Als er dann das widerliche Getränk ausspuckte, hustete und ihm die Augen überliefen, da erhob sich lautes Gelächter in der Runde.

Das ärgerte ihn, das Auslachen konnte er nicht vertragen. Er ergriff das Glas, leerte es mit einem Ruck und stellte es wieder hin, ohne eine Miene zu verziehen.

Allgemeiner Jubel! Man schlug ihm auf die Schulter und lobte ihn.

Johannes mußte selber lachen; auch das Klavier kam ihm nicht mehr so häßlich vor. Die dicke Luft, der ungewohnte, hastige Trunk übte seine Wirkung auf ihn. Er erzählte seine Kindergeschichten. Man hörte ihm so aufmerksam zu, daß er zuletzt alles Erdenkliche erfand, so reizte ihn der Erfolg. Der Tisch leerte sich und er schwätzte noch immer.

Da tippte ihm jemand auf die Schulter, – Ferrol war's. Alles fiel ihm wieder ein. Das Abenteuer war zu Ende, – er mußte nach Hause – in die Anstalt.

Jetzt legst du dich eine Stunde aufs Bett, dann gehen wir. 's ist erst ein Uhr, wir haben schon noch Zeit! flüsterte ihm Ferrol zu. Am liebsten hätte Johannes ihn gebeten, er soll ihn die Stunde noch da lassen bei den lustigen Leuten.

Als er aber aufstand, der Kopf ihm schwindelte, das Zimmer sich drehte, folgte er dem Mahner.

Frau Sanne führte ihn über eine schmale Stiege hinauf in eine dunkle Kammer, in der ein Bett stand.

So, da ruh dich aus, in einer Stunde weck' ich dich schon. Hat dir net so schlecht g'fall'n, gelt? – Kannst ja wieder kommen, werd' ich schon machen, sorg dich net! Jetzt ruh dich nur aus, Hannesle!

Johannes fiel wie betäubt auf das Bett. Frau Sanne entfernte sich mit dem Lichte. Ein seltsamer Ton fiel ihm noch auf, als ob draußen jemand den Schlüssel umdrehte, aber er hatte nicht mehr die Kraft, darüber nachzudenken. – Ein unruhiger Schlaf kam über ihn.

*

War das Licht ausgegangen unter dem Herrgottsbild? Er tappte mit der Hand nach rechts, nach seinem Schlafnachbarn, nach links, – da stieß er an die Wand. – Das weckte ihn vollends. – – – Das Geschehene tauchte allmählich auf, – immer deutlicher – die Wirtsstube, – die Frau mit der roten Jacke, der Weg mit dem Manne über die Felder, – sein ganzes Abenteuer.

Die Frau versprach, ihn zu wecken. Wenn sie es vergessen hätte? – Wenn er zu spät nach Gundlach – der Werkmeister, – die neue Maschine! – – Da sprang er schon auf, ging zur Türe, nachzuschauen wenigstens. Er rüttelte vergebens, sie war verschlossen. Eingesperrt! Das Blut stieg ihm in den Kopf. – – Warum? Wozu? – – Gedanken reihten sich an Gedanken! Angst packte ihn, jähe Angst! Erzähltes, Gehörtes tauchte auf, die Erlebnisse der Nacht verbanden sich damit zu einer verzerrten Phantasie, – – und immer wieder tauchte es ihm auf: diese Frau ist nicht deine Mutter, man hat Böses mit dir im Sinne, – du kommst nicht mehr nach Hause, nicht mehr zu Werkmeister Margold, die Maschine wird ohne dich montiert, – und dann kommt die Frau mit der roten Jacke und die Männer. – – Fast hätte er um Hilfe geschrien. Da erblickte er den Ausschnitt eines Fensters. Es war, als ob sich draußen die Nacht schon etwas helle.

Er eilte hin, öffnete. Ein frischer Luftzug labte seinen schmerzenden Kopf. Unwillkürlich sah er hinunter, wie hoch es sei.

Ein schiefes Dach sprang eine Körperlänge unterhalb dem Fenster vor, von da aus konnte es nicht weit zum Boden sein.

Wahrhaftig, der Himmel hellte sich schon, wenigstens schien es ihm so. Eine heiße Sehnsucht nach Gundlach erfaßte ihn, nach dem weißen Mädchen, nach Mutter Marianne, – wie ein Lichtkreis hob sich das alles aus der Finsternis!

Nur fort aus diesem Hause! Er schwang sich auf das Fensterbrett, ließ sich von da ab auf das Dach herab. Es ging vortrefflich! Dann glitt er bis zum Rande. Ein Baum streckte ihm hilfreich einen Ast entgegen. Er schwang sich hinauf, rutschte gegen den Stamm, an diesem hinab und stand auf dem Boden.

Er war in dem Garten, den er mit dem Mann durchschritten, – das wußte er bestimmt. Jetzt galt's, den Weg zu finden – nach Gundlach!

Neue Mutlosigkeit ergriff ihn. Wenn er sich nur bis zur Brücke, bis zum Strome fand, dann war er wenigstens vor diesem entsetzlichen Hause sicher, das ihm jetzt wie ein drohendes Ungeheuer vorkam.

Er nahm seine Sinne zusammen, kam an die Zäune, die enge Gasse entlang mit den holprigen Steinen. Das Rauschen des Stromes zur Linken leitete ihn. Glücklich kam er an die Brücke.

Johannes ging auf das Geratewohl. Nur so viel wußte er: vom Flusse mußte er weg, der Höhe zu, auf der die Straße nach Gundlach führte.

Ein Polizist kam die Straße herunter; sein schlechtes Gewissen hieß Johannes in eine Seitengasse schlüpfen, anstatt zu fragen. Ein andermal kreuzten zwei Betrunkene seinen Weg, vor denen er sich noch mehr fürchtete.

Die Straße, in die er jetzt einbog, kam ihm bekannt vor. Ein großes rotes Schild war ihm bei seinem Herwege aufgefallen. Er war also bis jetzt auf dem rechten Wege. Das gab ihm neuen Mut.

Vornehme Herren kamen aus grell erleuchteten Lokalen. Wagen rollten hin und her, – er hatte die eigentliche Stadt betreten.

Endlich wagte er es, einen Herrn anzureden, der, eine Dame am Arme, ihm entgegenkam, – wo der Weg nach Gundlach gehe? Der musterte den Jungen von Kopf zu Fuß.

Gundlach? – Faule Fische! – Geh zur Mutter heim, du Spitzbube! Die Dame lachte. Gib ihm doch was! sagte sie, und der Herr griff wirklich in seine Tasche. Johannes schämte sich und lief davon. Jetzt wagte er es nicht mehr, zu fragen, ja er wich jedem aus, – zuletzt nahm man ihn noch als Betteljungen fest. – Immer fort!

Ein Zweiräder hielt; der Kutscher, ein Bauer mit einer Zipfelkappe, sprang ab und richtete etwas an dem Geschirre. Da faßte Johannes noch einmal Mut zu seiner Frage.

Mei' Büabl, wo kommst denn du schon her in aller Früh? erwiderte der Mann in gutmütiger Weise.

Das Wort »früh« erschreckte Johannes nicht wenig.

Geh nur alleweil der Straß' nach, wie's Fuhrwerk reinkommt, nachher kannst nicht fehlen.

Ist's noch weit? fragte Johannes.

A Stündl, gut Ding. – Laß dir nur Weil'! Da schlaft alles noch, bis d' nauskommst!

Das war ein Trost für Johannes. Er wäre am liebsten dem Menschen um den Hals gefallen. Jetzt fühlte er neue Kraft. Kam er zur rechten Zeit, war alles wie ein böser Traum.

Oh wie freute er sich auf das Haus mit den Weinranken, auf den Hammer am Fluß, auf den Werkmeister Margold. Nie mehr! Nie mehr! schwur er sich im stillen.

Jetzt war er auf der Landstraße. Über die Äcker links und rechts rang sich der Tag durch feuchte Nebel. Hinter ihm wuchs das Tosen. Schrille Pfiffe durchschnitten es. Und immer neue Wagen fuhren dem Rachen des Ungeheuers zu, dem er gerade noch glücklich entwischt.

Wenn er sich nicht eilte, kam er doch zu spät. Da rasselte ein Fuhrwerk hinter ihm her. Rasch sprang er rückwärts hinauf, vom Kutscher unbemerkt. Jetzt ging's im Saus! Der kalte Wind, der ihm die Locken zauste, tat ihm gerade wohl. Rote Streifen erschienen im Osten, – der Tag!

Und da blitzte schon das Dach vom Gundlachturme rechts auf der Höhe!

Da sprang er ab. Alles umsonst, – doch zu spät! Das Kreuz am Turme flammte schon, die Glocken tönten zur Frühmesse. Also fünf Uhr! Bis er nach Hause kommt, ist alles schon auf den Beinen und sein nächtlicher Ausflug entdeckt.

Was tun? Seine Schuld eingestehen? Dann wird man ihn fragen, wo er war. Lieber alles, als das gestehen! Der Mutter Marianne, dem weißen Mädchen? Lieber sterben!

Ein rettender Gedanke kam ihm. Warten, bis alles auf dem Felde oder in den Werkstätten an der Arbeit, dann zum Werkmeister schleichen. Er kann ja früh aufgestanden sein, um im Wald zu streunen, zu fischen, – sich verspätet haben.

Jetzt ist Lügen keine Sünde, und der alte Margold ist ihm gut gesinnt und wird nicht weiter fragen.

Johannes ging in den Park; kein Platz war ihm sicher genug. Da stand er plötzlich vor einem Postament aus rotem Stein. Eine Büste aus Erz stand oben, ein Mannskopf mit einem spitzen Bart und seltsam nach allen Seiten sich sträubendem Haupthaar. Auf den Stufen vor dem Postamente lag ein verwelkter Kranz.

Johannes erinnerte sich jetzt deutlich des Tages, an dem er selbst vor Jahren an der Spitze aller Zöglinge an derselben Stelle ebenso einen Kranz niederlegte. Es war das Denkmal des Gründers der Anstalt, das an jenem Tage feierlich enthüllt wurde; er war noch ein ganz kleiner Junge; seitdem war er nicht mehr hergekommen.

»Viktor Cassan«, las er in goldenen Buchstaben. Darunter stand in kleiner Schrift ein langer Spruch. Er gab sich Mühe, sie zu entziffern, langsam, Buchstabe für Buchstabe.

»Wer der Finsternis ihr Eigentum entreißen will, muß stark sein wie sie selbst. Abstreifen muß er jedes Vorurteil, jeden Widerwillen, jeden Haß, nur drei Dinge dürfen in ihm wohnen: die Gerechtigkeit, – die Wahrheit, – und die Liebe.«

Seltsam packten ihn die Worte. Was wohl für eine Finsternis gemeint war? Da tauchte das Bild der Nacht vor ihm auf, die Gassen des Walles, das dunkle Haus am Strome. Noch einmal sah er zu dem Bildnis empor, als ob er es fragen wollte, und es war ihm, als ob es die seltsamen Worte wiederhole.

Er setzte sich auf die Stufen und verlor sich in Gedanken, die rasch ineinander verschwammen. Das Haupt sank ihm herab auf die Brust, die Glieder streckten sich auf dem kalten Marmor, als wäre er weicher Flaum.

Für Frau Marianne war ein schwerer Tag angebrochen. Klärchens Ferien waren zu Ende, um zwölf Uhr ging der Zug, der den Liebling entführen sollte.

Sie war heute früher aufgestanden als sonst, und auch Klärchen ließ die Aufregung der Abreise nicht ruhen.

Der frische Morgen lockte, der Gesang der Vögel, das zarte Grün der knospenden Birken und Buchen, der köstliche Hauch, der hereinwehte zum geöffneten Fenster. Außerdem hatte Klärchen noch ein besonderes Geschäft vor ihrer Abreise, das sie sich nicht nehmen ließ. Die Wiesen prangten schon im Schmuck, – der gute Papa sollte einen frischen Strauß bekommen zum Abschiede.

Marianne sah Klärchen, wie sie ihre sorgfältige Auswahl traf und wie ein Falter von Blume zu Blume eilte. Rasch nahmen sie jedoch ernste Gedanken in Anspruch. Dieser Johannes machte ihr Sorgen. Sie ahnte alle erdenklichen Schwierigkeiten. Und gerade in diesem Falle mußten sie überwunden werden, wenn sie sich nicht einen ewigen Vorwurf machen wollte.

Aber retten wird sie ihn vor seiner Mutter, vor diesem Ferrol, und wenn es gegen das Gesetz geschehen sollte, lieber trug sie geduldig die Folgen, und das ist mehr als abbitten.

Klärchen hatte einen mächtigen Strauß gebunden. Jetzt gehen wir zum Papa! rief sie, über die Wiese springend.

Marianne folgte ihr, sie war wieder klar mit sich selbst.

Als sie sich dem Denkmal Cassans näherte, erblickte sie Klärchen, den Strauß in der Hand, unbeweglich vor sich hinstarrend. Marianne rief ihr zu. Da winkte sie so sonderbar mit dem Strauße ab, als wolle sie der Mutter Ruhe gebieten. – Ein Vogel wohl, der nicht gestört werden sollte.

Marianne tat ihr den Gefallen und trat leise, jedes Geräusch vermeidend, vor. Plötzlich hielt sie jäh still. Sie erblickte den Schläfer auf den Stufen des Denkmals, – Johannes.

Das Haupt des Knaben lag auf dem Sockel, von dem goldenen Gelock umgeben. In dem tiefen Schlaf der Erschöpfung, der alle Härten glättete und nur den Zauber der ersten Jugend ließ, hatte es etwas Überirdisches. Ihm gerade zu Häupten flammten die Worte Cassans im Frühlicht.

Wie schön er ist! flüsterte sie dann, ohne den Blick zur Mutter zu wenden.

Die Worte schreckten Marianne auf. Johannes! rief sie laut.

Der Knabe hob verschlafen den Kopf und sah wirr umher, dann blieb sein Blick an Klärchen haften, die im weißen Kleide wie gestern mit dem Blumenstrauße vor ihm stand.

Grenzenloses Erstaunen prägte sich in ihm aus, die deutliche Frage: Traum oder Wirklichkeit?

Wie kommst du hierher?

Diese Frage Mariannens weckte ihn vollends.

Zu dieser Zeit!

Johannes suchte sich selbst noch zurecht, wurde feuerrot, während in seinem Antlitz Trotz mit Verlegenheit und Furcht kämpfte. Plötzlich kniete er vor Klärchen und hatte schon ihre Hand ergriffen. Fräulein, bitten Sie für mich! Ich habe mich arg vergangen! Ich muß fort, wenn Sie nicht für mich bitten, Fräulein.

Die Tränen standen ihm in den Augen und wirkten sofort ansteckend auf Klärchen, die nur einen flehenden Blick auf die Mutter warf, welche, Schlimmes ahnend, jede weitere Auseinandersetzung meiden wollte. Komme zu mir, Johannes! Ich erwarte dich! sagte Marianne.

Doch Johannes ließ sich in seinem Geständnis nicht mehr aufhalten. Das quoll nur so heraus, während er Klärchens Hand immer noch festhielt.

Durchgebrannt bin ich gestern abend, – die ganze Nacht war ich aus, – in der Stadt. – Oh, Mutter Marianne, – nie mehr, nie mehr, – ich verspreche es Ihnen. Verführt bin ich worden, – meine Mutter wollte mich sehen, – aber es ist gar nicht meine Mutter. Betrunken haben sie mich gemacht, dann haben sie mich eingesperrt, dann bin ich durch das Fenster entflohen. Nie mehr, gute Mutter Marianne, nie mehr! Oh, es war schrecklich! Ich habe mich so gefürchtet! Und hier ist es so schön, – so schön dagegen! Lassen Sie mich hier, Mutter Marianne, jagt mich nicht fort!

Johannes hatte Mariannens Hand ergriffen. Der hohe Schwung der jungen Seele, die der Schrecken der Nacht heilsam durchrüttelt, löste sich in einem Tränenstrom.

Klärchen sah mit staunender Erwartung auf die Mutter, sie begriff sichtlich nicht, wie diese nur einen Augenblick mit einem guten Worte zögern konnte, das die Mutter doch stets für sie bereit hatte.

Du darfst schon bleiben. Sei nur ruhig! Die Mama ist schon wieder gut, sagte Klärchen. Ich lasse dich gar nicht, armer Bub! setzte sie dann, mit einem vorwurfsvollen Blick auf die Mutter, hinzu, die noch immer schwieg.

Jetzt war es für Marianne höchste Zeit, ein Ende zu machen. Du kannst nicht bleiben, Johannes, erklärte sie, sondern mußt noch heute die Anstalt verlassen, aber nicht zur Strafe, sondern zu deinem eigenen Besten, auf daß die Finsternis nicht aufs neue nach dir greife! setzte sie ernst hinzu.

Da horchte Johannes hoch auf, – die Finsternis! Was ist das, Mutter Marianne? – Die hier steht? – Die? Johannes wies auf die leuchtende Schrift über ihm.

Die hier steht, jawohl, die meine ich, sagte Marianne. Jetzt komm!

Doch Johannes wich nicht. Und was ist denn ihr Eigentum? fragte er, den Finger zu der Schrift erhoben, auf Marianne einen Blick gerichtet, dem sie unwillkürlich auswich.

Alle Bösen! erwiderte sie. Dann nahm sie Klärchen bei der Hand und ging voran. Ich erwarte dich, Johannes!

Johannes regte sich nicht von seinem Platze. Er sah den beiden mit zitternder Brust nach. Zweimal wandte sich Klärchen und winkte ihm zu.

Ich bin aber kein Böser, brach er dann plötzlich los, als sie verschwunden waren. Ich will's ihnen noch beweisen. Ein Weinkrampf ergriff ihn und warf ihn auf die Knie, vor dem Bildnis seines Retters.

*

Denselben Tag noch verließ Johannes Ohnesorg unter gehöriger Obhut die Kolonie Gundlach, um seinem ferneren Bestimmungsort zugeführt zu werden.

Als er auf einer Kreuzungsstation zum Wagenfenster hinaussah, erblickte er Klärchen mit ihrer Mutter in einem nebenstehenden Zuge, der eben die Halle verließ.

Sie war jetzt gekleidet wie eine junge Dame. Unter einem großen Hute quoll das schwarze Haar hervor, gerade wie Mutter Marianne es trug. Wunderschön sah sie aus, nur etwas zu vornehm für ihn armen Jungen.

Der Zug drüben setzte sich in Bewegung, das Fenster, hinter dem Klärchen saß, zog vorüber.

Jetzt hatte sie ihn erkannt, ihre Blicke begegneten sich im Fluge, dann war das liebe Bild entschwunden, vor Johannes lag das häßlich brennrote Bahnhofgebäude, und die Lokomotive tat einen Pfiff, der ihm schier das Herz zerriß.


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