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Erstes Kapitel

Die Höhen mit ihren Parkanlagen erglühten noch im pomphaften Lichte eines stahlklaren Winterabends.

Durch die unter der Last des Schnees sich beugenden Bäume brach die Gloriole der scheidenden Sonne.

Sie spielte um bunte Minaretts, um dunkelbraune norwegische Giebel, um langgestreckte Pavillons, um seltsam zusammengewürfeltes Bauwerk, das überall zwischen den Bäumen hindurchblickte. – Das wüste Geschrei eines Arras, das Geschnatter alles erdenklichen Wasserviehes, dann und wann das dumpfe Grollen eines Löwen, ließ keinen Zweifel über den Zweck dieses Bautenkonglomerates, – der Zoologische Garten hatte sich hier, hoch über den Dünsten der Stadt, eingenistet.

Nur eine breite, wohlgepflegte Chaussee trennte ihn von dem steilen Abhang, mit dem das Terrain gegen den Strom abfiel.

Jenseits desselben breitete sich die Stadt, in einen schmutzig grauen Nebel zerfließend.

Auch dort stritt noch das Licht um die langsam erlöschenden Kuppeln und Kreuze, während die Häusermassen schon der Dämmer umgab, dessen Melancholie die allerorten aufzuckenden Gasflammen nur erhöhten.

Und doch vermißte man dieselben in dem dichtgedrängten Häuserviertel, das, zwischen dem steilen Abhang und dem Flusse eingekeilt, bereits im tiefen Schatten der Nacht ruhte.

Eine einfache Holzbrücke, ohne jeden Zierat, nur für Fußgänger passierbar, welche die Verbindung mit der Stadt herstellte, machte fast den Eindruck, als wolle man sich da drüben gegen eine zu plötzliche Invasion seiner Insassen wahren.

Das Viertel bestand aus winkligen Giebelhäusern, geschwärzt, geknickt von Alter und Elend, unsymmetrisch zusammengerückt, zerbrochenen Zäunen, ungepflegten, vom Kohlenrauch geschwärzten Höfen. Es neigte sich dem Strome zu, an dessen Ufern es sich verdichtete, wie eine vor einem unübersteiglichen Hindernisse zusammengepferchte Volksmasse.

An seinem Rande gegen Westen erhoben sich wie Zwingburgen hohe einförmige Bauten, aus deren endlosen Fensterzeilen, fünfmal übereinander sich wiederholend, ein grelles, rotes Licht brach.

Aber das Licht leuchtete nicht. Es glich einem sich nach innen zu verzehrenden Brande.

Kein Strahl erreichte die schwarzen Giebel und Gassen des Viertels. Auch die Lichter, die sich da und dort hinter blinden Scheiben, oder sorgfältig geschlossenen roten Vorhängen entzündeten, oder aus irgend einer offenstehenden Türe brachen, taten der Finsternis keinen Abbruch, die hier trotzig über ihrem Eigentum brütete.

Das Viertel hieß der »Wall«.

Der Name spielte in den Kriminalakten eine große Rolle. Wiederholt ging man mit dem Plane um, dem ›Wall‹ durch völligen Umbau seinen bedenklichen Charakter zu nehmen, – aber seltsamerweise gaben diese Absicht nicht nur die Stadtverwaltung, sondern die Spekulanten selbst immer wieder auf.

Eine bestimmte Furcht schien alle diese ebenso rücksichtslosen als emsigen Hände zu hemmen.

Vielleicht die Besorgnis, wohin sich der aufgestörte Schwarm wenden würde. Vielleicht die Scheu vor der Verletzung eines uralten Asylrechtes, dessen Notwendigkeit man einsah. Vielleicht die Furcht vor dieser Finsternis, die sich ihr Eigentum nicht rauben lassen will, der man gewissermaßen tributär verpflichtet ist, auf daß sie nicht, auch hier vertrieben, ihre düsteren Schwingen zu verhängnisvollem Fluge regt.

Kurz, der ›Wall‹ war und blieb, wie die Ältesten sich erinnern konnten, die Heimstätte der untersten Gestrandeten und Enterbten, die Zuflucht aller Ausgestoßenen und Verfemten.

Die Arbeit mied ihn ebenso wie die Armut. Nur das Laster und das Verbrechen, die Furcht vor dem Licht und die Krankheit der Seele suchten ihn auf.

Die grausame Härte des Schicksals, der Natur und der Menschen, sorgte redlich dafür, daß die Bevölkerung des ›Walles‹ nicht geringer wurde.

Auf dem ›Wall‹ herrschte ständiger Friede, Tag und Nacht. Kein Laut drang herauf. Selten nur, daß man von der oberen Chaussee aus einen Menschen darin erblickte, das Weinen eines Kindes, das Schelten einer Frau hörte.

Der ›Wall‹ machte nicht gerne unnütz von sich reden. Vom Flusse heraus, der an den zerbröckelten Mauern seiner letzten Häuser vorbeischlürfte, und von der steilen Höhe herab drang eine ständige Feuchtigkeit auf ihn ein, die ihm einen besonderen unangenehmen Atem verlieh. Der Bürger ging etwas rascher, wenn er zwischen dem Tiergarten und dem »Wall« hindurchging.

Der kleine Mann, der an diesem Winterabend gegen fünf Uhr aus dem mit zwei Elefantenköpfen gezierten, bunt bemalten Tore des Zoologischen Gartens trat, ein rundes Paket unter dem Arme, schien weniger feine Geruchsnerven zu besitzen.

Er unterhielt sich noch geraume Zeit mit dem Diener, der ihn hinausgeleitete.

Also, hören Sie, Mann! Wenn es mit dem Emir zu Ende geht, dann benachrichtigen Sie mich sofort. – Aber sofort! Und niemand hat ihn anzurühren, bis ich komme. Verstanden, Thomas?

Na, hoffentlich macht er sich noch, Herr Professor. Der Herr Direktor hofft noch immer. Es ist ja ein wahres Kreuz, was wir für ein Pech haben diesen Monat! Drei Jungen von dem Emir, und jetzt noch ihn selbst! Da könnt' man schon bald allerhand glauben –

Was könnt' man glauben? fragte der kleine Mann mit dem Paket unter dem rechten Flügel seines Radmantels.

Na, wenn man so ein Tier aufgezogen hat, – es gibt keinen zweiten Emir, – dann – gerade heraus, Herr Professor, – ich, – wenn ich der Herr Direktor wär' – ich ließ Sie nicht herein zum Emir –

So, du nicht? Der kleine Mann kicherte spöttisch. Du glaubst wohl an den bösen Blick? Aber, daß ein einziger meiner Versuche wertvoller ist, als dein Emir und eure ganze Bande da, das glaubst du nicht, nicht wahr?

Nein, Herr Professor, das glaub' ich nicht, und der Herr Direktor glaubt's auch nicht.

Glaubt's auch nicht? Ah! Na, dann glaubt er's eben nicht. Grüßen Sie mir ihn schön.

Der kleine Mann schob das Paket noch tiefer unter den Arm und entfernte sich rasch.

Der Zylinder saß ihm tief im Genick, das scharf geprägte Gesicht mit der weit vorspringenden Nase und dem vorgebildeten Kinn, den zusammengekniffenen kleinen Augen machte jetzt einen habsüchtigen Eindruck.

Der Mann glich eher einem Händler, der mit seinem erlisteten Kauf unter dem Arme nach Hause eilt, als einem Professor, und noch dazu einem so berühmten, die Welt der Wissenschaft mit dem Klange seines Namens füllenden, wie der Professor der Anatomie Doktor Cassan.

Doktor Cassan war kein Kathedergelehrter, der trockene Inhalt seines Studiums genügte ihm nicht. Wie er anfing, war alles Name, tote Überlieferung; und er wollte das Leben finden in der stummen und doch so deutlich sprechenden Materie.

Die vergleichende Anatomie dämmerte auf, die Lehre vom All-einen in der Natur, bemächtigte sich aller Geister.

War sie es gerade, welche die meisten auf die Bahn des Materialismus drängte, so wirkte sie auf den jungen Arzt ganz entgegengesetzt. Für ihn war der Geist nicht die bloße Funktion der Materie, sondern er sah die Materie durchdrungen vom Geist.

Von dem Augenblicke an gewannen die Totengerippe um ihn herum ein neues, bisher unbegriffenes Leben.

Eine weitere Folge für ihn war der Satz: Der Geist drückt der Materie den Stempel auf. Die Materie ist nur das Symbol des Geistes, die Bildersprache, in der er sich ausdrückt.

Ein Zufall führte ihn auf die Spuren Galls, des Begründers der Schädellehre. – Daß dieser gerade zu jener Zeit verlacht, als Scharlatan verschrien war, reizte ihn nur, der neuen Spur zu folgen. Er fand viel Überwundenes, aber auch viel Beachtenswertes. Er sichtete und hielt sich dabei selbst an die Natur, an das Experiment.

Sein Interesse wuchs ins Ungemessene. Eine neue Welt tat sich ihm auf, von einer Bedeutung, die ihm weit über die engen Grenzen seiner Wissenschaft hinauszugehen schien.

Die Menschen kennen, heißt sie beherrschen!

Um aber einen Menschen ganz und voll zu kennen, muß man in die Werkstatt seiner Gedanken sehen können, und zwar solange in der Werkstatt noch gearbeitet wird, nicht erst, wenn die Maschinen darin alle stillstehen. – Und das kann man, so lehrte Gall.

Man braucht nur die Wände der Werkstätte genau zu beobachten, sie verraten in ihrer Form untrüglich die Vorgänge im Innern, die Art der Arbeit, die da geleistet wird, ob geregelt oder ungeregelt, ob heilsam für das Ganze, oder verderblich, ob grob, oder zart, kunstvoll oder roh.

Gall machte nur den einen Fehler aller Entdecker, er wurde dogmatisch, zwängte die große Idee in zu fest umschlossene Formen, und dann wieder alles Beobachtete in diese.

Doktor Cassan vermied von Anfang den Fehler und sicherte sich dadurch eine größere Freiheit der Beobachtung.

Vergleichende Studien an Menschen- und Tierschädeln, verbunden mit sorgfältiger Beobachtung der lebendigen Individuen, festigten seine Überzeugung von der organischen Bedingtheit aller Triebe und Charaktereigenschaften.

Mensch und Tier denken, fühlen und handeln, wie sie vermöge ihrer organischen Beschaffenheit denken und handeln müssen. Alle Abweichungen vom Typus sind nur künstlich, durch Erziehung, äußere Umstände herbeigeführt, Umkehrungen oder Verbiegungen der an sich unveränderlichen Grundtriebe.

Diese Erfahrung zeigte ihm völlig neue Wege, weit ab von seinem Fache. Es konnte nicht ausbleiben, daß ihn die stärksten Abweichungen vom Normaltypus am meisten fesselten, indem sie die augenscheinlichsten Resultate lieferten, – das Verbrechen und das Genie!

Sie waren für ihn beide nahe Verwandte, mehr eine Erscheinungsform, nur nach verschiedenen Richtungen divergierend (und beide gleich unschuldig an ihrem Zustand).

Bei dem Betrachten des ersteren trat das Mitleid hinzu, zuletzt noch eine sittliche Entrüstung über das Unrecht, das die Gesellschaft fortgesetzt an ihm begeht.

Bald konzentrierte sich seine ganze Aufmerksamkeit darauf. Er wurde ständiger Gast der Strafanstalten und Irrenhäuser. Sein Werk »Anatomie des Verbrechens« richtete aller Augen auf ihn.

Er machte Schule, wurde in den schwierigsten Fällen als Sachverständiger zugezogen. Der humane Zug der Zeit unterstützte nur seine Bestrebungen.

Nur die zünftigen Juristen traten geschlossen gegen ihn auf, vor der Bresche erschreckend, die er in die verknöcherte Justizführung geschlagen. Das aber erhöhte nur seinen Eifer. Jetzt war er der Anwalt aller Unnormalen, aller moralisch Kranken und Degenerierten, aller Abgeschürften und Ausgestoßenen. Er begann sich in das Seelenleben seiner Modelle zu vertiefen, indem er die äußeren dem Organismus eingedrückten Symbole immer mehr als Wegweiser benützte. – Er begann sie zu lieben, und zwar je nach der Dankbarkeit der Probleme, – nach dem plastischen Erfolg seiner Untersuchungen.

Professor Cassan ging bald völlig ungefährdet in dieser dunklen Welt aus und ein. Ja, man behandelte ihn dort gewissermaßen als Freund und Parteigänger, nachdem er sich den Ruf absoluter Verläßlichkeit und Verschwiegenheit gesichert.

Sein Diener Ferrol war vor fünf Jahren nach Verbüßung einer zehnjährigen Zuchthausstrafe in sein Haus gekommen, diente ihm seit der Zeit treu und redlich, und bildete einen geeigneten Vermittler zwischen dem Gelehrten und seinem Versuchsmaterial.

So hatte er auch heute den Tod des kleinen Emirsprößlings, eines Löwenjungen im Zoologischen Garten, ermittelt, trotz aller Verheimlichungsversuche der Direktion, welche in diesem aufdringlichen Professor den reinsten Totenvogel sah.

Der Direktor hatte diesmal zähen Widerstand geleistet, zuletzt mußte er dem Verlangen Cassans doch nachgeben und ihm das Haupt des erst einen Tag alten Emirsohns ausliefern. Der Professor war in den höchsten Kreisen zu angesehen, um es direkt mit ihm verderben zu können.

Was war sein Dank? – Daß dieser Mensch sich vor den schwererkrankten Emir stellte, einen prächtigen Sudanlöwen, und seiner Hoffnung Ausdruck gab, daß ihm in den nächsten Tagen auch dieses edle Haupt verfalle, zu höchst wichtigen vergleichenden Untersuchungen mit dem Eintägigen, den er schon unter dem Arme trug.

Er drückte den kleinen Löwenkopf ganz zärtlich an seine Brust, ungeachtet des scharfen Geruches, der von ihm ausging und bereits einige Vorübergehende zum Stehenbleiben oder bedenklichen Nachschauen veranlaßt hatte.

Wenn er nur bald den Emirkopf dazu bekam!

Das war sehr wichtig. Was versteht denn dieser Direktor davon!

Der Emir war nämlich der Vater des verendeten Jungen, dessen Kopf er mitgenommen hatte. Es war für ihn vom höchsten Interesse zu untersuchen, welche Veränderung im Schädelbau des letzteren infolge langjähriger Gefangenschaft und gewissermaßen Domestizierung des Vaters sich zeigen würde.

Ob zum Beispiel das Organ des Mordsinnes sich etwas degeneriert zeigte? Oder irgend ein anderes sich auf dessen Kosten weiter ausgebildet?

Aber mit diesem stupiden Thomas war ja nichts anzufangen! Der uninteressanteste Schädel, der ihm je vorgekommen! Alles verwischt, abgeschwächt, höchstens an der oberen Seite des Stirnbandes, unmittelbar vor der Fontanelle eine starke Erhöhung, das Organ des Wohlwollens, das sich bei den meisten Dummköpfen stark geltend macht.

Der Gelehrte ging jetzt über den »Wall«.

Er war dort wohlbekannt; es gab kein Haus dort, das ihm nicht schon Material geliefert.

Plötzlich hielt er an. Ein schmaler, jetzt verschneiter Pfad führte den Abhang hinab; einige Spuren ließen ihn deutlich erkennen.

Ferrol hatte ihm eine Kunde gebracht, die er über dem jungen Löwen fast vergessen hätte. – Ein alter Bekannter von der schönen, tatenreichen Jugendzeit her, erst vor einigen Tagen aus der Strafanstalt entlassen, steckte im »Viertel«. Ein Prachtexemplar der Schilderung Ferrols nach. Seines Berufes Mechaniker, von ausgezeichneten Geistesanlagen, geradezu ein Erfindertalent, von außerordentlicher Kühnheit, die sich bis zur Ungebührlichkeit und Frechheit steigerte, dazu eine unüberwindliche Neigung, Personen, denen er sich geistig überlegen fühlte, zu hintergehen, zu persiflieren, ein Hang, durch natürlichen Witz nicht wenig unterstützt, strotzend von Eitelkeit auf seine Gaben; dabei wilden, abenteuerlichen Sinnes, zu jedem Exzeß bereit, wegen Körperverletzung in Verbindung mit einem Einbruchsversuch zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt, ohne vorher bestraft zu sein.

Cassan reizten verschiedene Punkte in dieser gedrängten Charakteristik seines Dieners, der sich bereits völlig der Ausdrucksweise seines Herrn angepaßt hatte.

Ferrol, dem er den Auftrag gegeben, den Menschen rasch herbeizuschaffen, machte eine bedenkliche Miene. Dem Kerl sei schwer beizukommen, seit er aus dem Zuchthaus entlassen, stecke er voll Mißtrauen und Groll, es sei ihm nicht zu trauen!

Wenn er ihn selbst aufsuchte? Ferrol meldete ihm die genaue Adresse. Er wohnte bei einer Frauensperson, seiner Geliebten wohl. Wassersteig Nr. 6, Rückgebäude.

Professor Cassan hatte schon einmal dort gute Beute gemacht. Zu machen war was mit dem Menschen, mehr noch als mit dem Emir. Versuch's doch!

Cassan bog in den Steig ein und stapfte, in die alten Spuren tretend, in die Finsternis des »Walles« hinab, die ihn hastig verschlang.

Der schmelzende Schnee bildete schwarze Seen, in deren Spiegel sich nur dann und wann ein Lichtfunke spiegelte; ein übler Geruch stieg auf aus den Winkeln.

Trotz seiner Ortskenntnis hätte der Gelehrte sich bald verirrt; ein Schatten, der vorüberhuschte, gab keine Antwort auf seine Frage.

Die Finsternis kroch als feuchtes, kaltes Wesen an ihm herauf, umpreßte ihn ganz. Zum erstenmal in seiner langen Praxis kam ihn ein fröstelnder Schauer an. Dann faßte ihn etwas wie zorniger Kampfesmut. Ringen will er mit ihr bis an sein Lebensende, um ihr Eigentum; mit der Leuchte der Wissenschaft will er sie aus allen ihren Winkeln treiben, und der ganzen Welt ihre unglückseligen Opfer zeigen.

»Da seht eure Brüder und Schwestern, gegen die ihr mit Schwert und Feuer und Rechtsspruch gewütet, seit Hunderten von Jahren, nicht schlechter und schlimmer wie Tausende von euch, nur daß in der Finsternis ihres verfluchten Seins mancher Trieb verkümmerte, den in euch das Licht geweckt, mancher ins Maßlose gewachsen, der sich in euch vor dem Lichte verkrochen.«

Jetzt fror es den Professor nicht mehr, und er achtete nicht mehr des klebrigen Schmutzes, in dem er tappte.

Richtig, da war er schon am Wassersteig, ein steil gegen den Fluß zu führendes Gäßchen. Einige Zündhölzchen verhalfen ihm rasch zu Nummer 6.

Es war ein niederes Haus, nur Erdgeschoß. Die Türe stand offen, aber kein Licht brannte. Natürlich ist der Kerl nicht zu Hause.

Cassan klopfte an das Fenster. Es war aber eine Türe, die so heftig aufgerissen wurde, daß er sein Paket fallen ließ.

Eine große, starkgebaute Person stand vor ihm, ein fast nacktes Kind auf dem Arm, das sein Weinen ließ, und den Fremden mit großen Augen ansah.

Wohnt hier Herr Stubensand? fragte der Professor.

Die Frau kniff die schwarzen Augen zusammen und warf die derben Lippen trotzig auf, während sie den Kleinen fest an sich drückte.

Ich weiß, daß er hier wohnt, fuhr der Professor fort, an derartige Begegnung gewohnt.

Was frag'n S' mich denn da noch? lautete die unwirsche Antwort.

Ich konnte mich ja in der Nummer geirrt haben. Zu Hause, der Herr Stubensand?

Da heben S' Ihre Sach' auf!

Die Frau wies auf das Paket am Boden.

Der Professor hob das Paket auf.

Also nicht zu Hause? Würden Sie ihm wohl was ausrichten? Es würde nur sein Vorteil sein, er soll ordentlich verdienen dabei –

In dem fleischigen Gesicht der Frau leuchtete die Habsucht auf.

Was denn nachher?

Er soll morgen abend um – sagen wir – um acht Uhr zu mir kommen, nur auf eine halbe Stunde. Doktor Cassan, er weiß schon, wenn Sie meinen Namen nennen. Niemand soll ihn sehen oder etwas erfahren, nicht einmal sein Freund, mein Diener. Sagen Sie ihm das, fünfzig Mark geb' ich ihm auf die Hand. Reden Sie ihm nur zu!

Wenn er hören tät' auf mich, meinte die Frau.

Wär' noch schöner! Auf seinen Schatz! Cassan lachte ganz kokett.

Ich bin seine Frau.

Na, dann um so besser, Frau Stubensand. Seine Frau, sagen Sie?

Cassans Blick ruhte auf dem Knaben. Er war ein auffallend wohlgebildetes Kind. Dem Gelehrten fiel die hohe Stirn auf. Begehrlich strich er mit seiner Hand über das blonde Haar, das Hinterhaupt, bis zum Nacken herab. Das konnte er nicht lassen. Ein Gedanke kam ihm plötzlich.

Und das Kind, – doch nicht sein Kind?

Von wem denn sonst? Die Frau lachte zynisch. Ein richtiger Stubensand! Gel' Bini? Sie herzte den Kleinen.

Cassan hörte nur die Worte: Ein richtiger Stubensand!

Sagen Sie, Frau, dann könnten wenigstens Sie mit dem Jungen zu mir heut abend vielleicht um neun Uhr kommen, das wär' mir fast –

Aber fünfzig Mark zahl'n S' net für ihn, – gel' Bini? So viel bist net wert –

Sagen wir zwanzig Mark, handelte Cassan. Und morgen der Vater! Was, nicht genug?

Die Frau zögerte noch. Die Verführung war sichtlich groß. Wo soll ich denn hinkommen?

Mandelstraße dreizehn. Jedes Kind führt sie zu Professor Cassan. Also Sie kommen? Zwanzig Mark auf die Hand. Um neun Uhr.

Und wenn er mich derschlagt in sein Zorn?

Er erschlägt Sie nicht, im Gegenteil – er kommt morgen selber. Das mach' ich schon.

Was woll'n S' denn eigentlich mit dem Buben?

Nur mich überzeugen, ob er ein richtiger Stubensand ist – wie Sie sagen. Aber das kann Ihnen ja gleichgültig sein. Also Sie kommen schon –

Grad' ein Draufgeld, wenn S' zahlen täten, dann komm' ich sicher.

Cassan griff willig in die Tasche und gab der Frau einen Taler.

Also um neun Uhr, mein kleiner Bini!

Cassan wollte den Jungen in die Backen kneifen, doch der schlug mit geballter Faust nach ihm.

Die Frau lachte. Was hab' ich g'sagt, ein richtiger Stubensand! Schlag neun Uhr bin ich in der Mandelgasse.

Cassan verließ hochbefriedigt das Haus. Das war ja ein großartiger Erfolg. Heute das Junge des Stubensand und das des Emir, morgen der Alte, und wenn das Glück wollte, den Emir!

Besseres Material für seine Entwicklungstheorie konnte er nicht finden.

*

In der Mandelgasse herrschte noch in unbeirrter Sitte ein kleiner Bürgerstand, der es in der Sicherheit seiner Existenz verschmähte, der neuen Zeit mit ihrer unruhigen Großmannssucht irgendwelche Zugeständnisse zu machen; unbekümmert um den Vorwurf des Krämertums, der ihm nicht erspart blieb.

Nummer dreizehn aber war die schwarze Perle der Mandelgasse. Mit fünf Fenstern Front, um die sich altergeschwärztes Renaissancewerk schlang, einem zweiten Stock, wenn auch nur in Fachwerk konstruiert, einem stattlichen Torweg aus Granit, der, an den Seiten arg ausgewetzt, die Spuren von Jahrhunderten trug, wirkte sie in der Enge der Gasse doppelt vornehm.

Hier hausten die Cassans seit zwei Jahrhunderten als ehrsame Kolonialwarenhändler, bis sich aus dem letzten der Reihe der berühmte Viktor Cassan entwickelte, – der jetzige Stern der Mandelgasse.

Als der Gelehrte in die Gasse einbog, sah er schon von weitem den lichten Schein, welcher, aus dem ersten Stockwerk seines Hauses brechend, den heimlichen Dämmer des Gäßchens störte. – Er tat seinem Auge ordentlich wehe.

Er hatte ganz den Donnerstag vergessen. Den Tag ließ sich die Frau Professorin nicht nehmen. – Zweiunddreißig Jahre alt und eine schöne Frau, das ist einmal was anderes, als achtundfünfzig und ein häßlicher Gelehrter! Das hätte er vor drei Jahren bedenken müssen, als er das Kühne wagte und um die blühende Tochter seines Kollegen Moseli warb. – Zuletzt kann er noch zufrieden sein, daß sie sich so vernünftig in die Atmosphäre der Mandelgasse fügte, zu deren Verbesserung sein ominöses Laboratorium, rückwärts im Garten, gerade nicht beitrug.

Marianne war seinem Töchterchen, das sie ihm vor zwei Jahren schenkte, eine treffliche Mutter, ihm selbst eine rastlose Pflegerin seines Ruhmes, und aus diesen beiden Quellen – er wußte selbst nicht, welcher er den Vorzug gab – stammten alle seine Freuden.

So war er auch jetzt wieder mit dem Anblick rasch ausgesöhnt, ja es kam ihm fast die seltene Laune, zur Überraschung Mariannens selbst in dem Kreise zu erscheinen; so freudig stimmte ihn der Erfolg seines Ganges.

Die Glocke tönte sonor, wie nur alte Glocken tönen.

Ein kräftig gebauter Mann, mit glattrasiertem Gesicht, das auch einem Komödianten hätte angehören können, öffnete, – Ferrol, der Diener Cassans.

Der Gelehrte übergab ihm das Paket. Auf meinen Arbeitstisch! – Nicht auspacken! – Mach' ich selber!

Jedes Wort hallte seltsam in der mit roten Ziegeln gepflasterten, nur von der Kerze in des Dieners Hand erleuchteten Halle. Ein alter, muffiger Geruch herrschte.

Ferrol beschnüffelte das Paket, und machte ein verständnisvolles Gesicht.

Wer ist alles oben? fragte Cassan weiter.

Oh nichts Besonderes. Der Medizinalrat Lassen mit Frau, der Herr Rat Schäfer und der Herr Schwiegervater.

Cassan lachte wohlgefällig. Und das nennst du nichts Bedeutendes, – der Herr Schwiegervater? Das mußt du ihm selber sagen, Ferrol.

Cassan öffnete das schwere Eisengitter von edelster Arbeit, welches die nach oben führende Freitreppe verschloß.

Aber, Herr Professor, so können Sie doch nicht – Sie sind ja voll Schmutz – meinte der Diener, auf das beschmutzte Schuhwerk seines Herrn blickend.

Cassan achtete nicht darauf. Paß auf, Ferrol, um neun Uhr kommt eine Frau mit einem Kinde. Führe sie sofort in mein Arbeitszimmer. Niemand soll sie sehen.

Sie waren doch nicht bei Stubensand, Herr Professor?

Du weißt, ich liebe das Fragen nicht. Tue deine Pflicht.

Die tue ich eben, wenn ich frage. Ich warne Sie vor dem Menschen! Er ist ganz toll, seit er aus dem Zuchthaus ist.

Toll? Er war immer toll. Alle seid ihr toll, sonst kämet ihr nicht hinein!

Ferrol empörte sichtlich diese Erinnerung an seine Vergangenheit, ein böser Zug zeigte sich auf seinem Gesicht. Es gibt Tollere, die draußen sind, entgegnete er.

Cassan nahm die Antwort lachend hin. Zugestanden, Ferrol, ganz meine Theorie! Du bestiehlst mich ja. – Also, um neun Uhr! – Das Paket legst du auf meinen Tisch!

Er ging die Treppe hinauf. Das alte Holzwerk knisterte und krachte unter seinen Tritten.

Der Professor zog seinen Radmantel aus, fuhr sich mit beiden Händen durch sein immer noch volles, wenn auch schon ergrautes Haar, daß es nach allen Seiten auseinander stand, und trat in das Empfangszimmer seiner Gattin, welches in seiner vornehmen Schlichtheit sich dem Ernst des Hauses völlig anpaßte.

Eine hohe Erscheinung erhob sich sichtlich überrascht vom Teetische und kam ihm entgegen. Das schwarze Haar zu beiden Seiten tief hereingekämmt, ließ eine schneeweiße, geistvolle Stirne frei, – Frau Cassan.

Ja, wo soll ich denn das hinschreiben? Mein Professor kommt zum Tee! Und wie er aussieht, als ob er von der Jagd käme!

Kommt er auch, von der Jagd! bemerkte der Schwiegervater, ein behäbiger alter Herr, dem die Wissenschaft vortrefflich anzuschlagen schien.

Hast du den Direktor Schirmer schon wieder um einen Liebling gekränkt, deinen guten Freund?

Sauberer Freund, der, entgegnete Cassan, sich immer wieder mit Leiden Händen durch die Haare fahrend.

Also mit leeren Händen? fragte der Rat Schäfer, seine Brille putzend, – ein ausgeprägter Juristenkopf, mit wasserblauen, unergründlichen Augen.

Oh das nicht, – durchaus nicht, – im Gegenteil. Cassan rieb sich die Hände, stellte sich mit dem Rücken gegen den Ofen, kicherte und schüttelte den Kopf, wie es seine Art war, wenn er sich recht wohl befand.

Sollte der arme Emir wirklich –? fragte Frau Cassan.

Der alte Emir noch nicht, aber der junge Emir, der Emir von einem Tage. Cassan nickte dem Schwiegervater triumphierend zu und nahm dann seiner Gattin die dargereichte Tasse Tee aus der Hand.

Von einem Tage? – Was nützt Ihnen denn das Vieh? fragte der Rat.

Meinen Sie? Cassan setzte die Tasse ab und sah den Rat mit einem listigen Lächeln an.

Da ist doch nichts ausgeprägt!

Meinen Sie? Cassan amüsierte der Rat.

Alles höchstens angedeutet.

Wenn es sich nun aber gerade um das Angedeutete handelte? Herr Rat, – he? Ihr liebt die schönen klaren Fälle wie die Ärzte, so einen richtigen Krebs oder ein Geschwür, wo es tüchtig zu schneiden gibt. Bei uns handelt es sich gerade nur um das »Angedeutete«.

Und was hoffst du denn eigentlich besonders Angedeutetes in deinem Emirsohn zu finden, Viktor? fragte der Schwiegervater, Kollege Moseli, seine Brust blähend und die Stirne in überlegene Falten ziehend Doch wieder einen Emir?

Sehr fein beobachtet, Schwiegervater, – jedenfalls keinen Feldmann! Cassan wieherte vor Lachen.

Viktor wird jedenfalls die Einwirkung der völlig veränderten Lebensart im Käfig auf die Nachkommenschaft interessieren, erklärte Frau Cassan.

Nicht wahr, das leuchtet dir doch ein? Cassans Gesicht drückte die höchste Freude aus. Ja, meine Marianne, die beobachtet! Die macht euch alle noch zuschanden.

So, meinen Sie? Na, da kann ich Ihnen ein schlagendes Beispiel aus meiner Praxis anführen. Der Rat erhob sich jetzt und stützte beide Hände auf den Tisch, als ob er im Gerichtssaal spräche. Einen Mann, – dessen Vater aus einer solchen notorischen Verbrecherfamilie stammt; aber wie ich eben bemerkte, in seiner frühesten Jugend seinem Lebenskreise entzogen, ein äußerst tüchtiger Mensch wurde. Der Mann war fünfundzwanzig Jahre Werkmeister in den Grusonwerken bei tadelloser Führung. Vor drei Jahren hatte ich seinen Sohn zu verhandeln. Ein Genie, wie man von allen Seiten hörte. Er hatte als junger Mensch von achtzehn Jahren eine Kuppelung der Eisenbahnwagen eingereicht, die von höchstem Scharfsinne zeugte. Der Mann stand als ausgemachter Vagabund vor mir, ein Verbrecher vom Scheitel bis zur Sohle! Er hatte seinen Freund und Stubennachbar ausgeraubt, – und wäre an ihm auch zum Mörder geworden, dem Schmiedehammer nach, den er zu der Tat mit sich genommen, wenn der andere nicht das Glück gehabt hätte, die Nacht in einer Kneipe zuzubringen. – Wenn Sie nicht glauben, kann ich Ihnen die Akten »Stubensand« vorlegen.

Cassan zuckte auf. Stubensand, sagen Sie? – Stubensand?

Ja, so heißt der Verbrecher. Sollten Sie ihn bereits schon in das Bereich Ihrer Untersuchungen gezogen haben? – Dann warne ich Sie vor dem Menschen. – Man sieht ihm den Schurken nicht an, der er in Wirklichkeit ist.

Cassan konnte verschlagen sein wie seine Freunde aus dem »Wall«. Aber wie sollte ich, Herr Rat? sagte er mit harmlosem Lächeln. Der sonderbare Name fiel mir auf. Interessant wäre es freilich –

Oder gar ein Junges von ihm! erklärte der Schwiegervater lachend. Da wäre der Emirsprößling ja nichts dagegen, den du heute erobert.

Cassan sah nach der Uhr. Halb neun Uhr. Es war Zeit für ihn, es gab noch allerhand vorzubereiten, und die Erzählung des Rates hatte seinen Eifer noch mehr entflammt.

Ist Klara schon zu Bette? fragte er, völlige Ruhe heuchelnd, seine Frau. Dann empfehle ich mich den Herrschaften. Ich möchte meinem kleinen Liebling noch Gute Nacht sagen.

Kennen wir schon, deinen kleinen Liebling! rief ihm der Schwiegerpapa nach. Aus dem Sudan! setzte er dann laut lachend hinzu.

Cassan kehrte sich nicht daran und ging, von Marianne begleitet, in die Kinderstube.

Die kleine Klara lag schon im Bette, mit einem Bilderbuchs beschäftigt. Das rosige Gesichtchen strahlte beim Anblick des Vaters, und zwei fette Ärmchen streckten sich ihm entgegen.

Cassan liebte sein Kind mit der abgöttischen Liebe alternder Männer. Er behauptete, noch nie unter den Tausenden Kinderköpfen, die er untersucht, einen gefunden zu haben, der alle menschlichen Glücksbedingungen, soweit Charakter und Anlagen damit zu tun haben, derart in sich vereinigt habe, wie der der kleinen Klara.

Er beugte sich über das Kind, herzte und küßte es und ließ sich von ihm den Bart raufen, dann betastete er wieder mit seinen langen schmalen Fingern rundum das Köpfchen mit dem schwarzen Gelock, dessen geheimnisvolle Harmonien er allein verstand.

Marianne, an dem Kinde erlebst du noch deine Freude – und dann erzählst du ihm von dem alten Papa, der es so lieb gehabt.

Wie du redest, Viktor! Innige Zärtlichkeit sprach aus den Worten der Gattin.

Der jeden bösen Hauch von ihm – Mein Gott, wenn ich an andere Kinder denke, Marianne! – an die Unglücklichen alle, die von Geburt aus Verdammten! Er ließ das Spiel mit dem Kinde, ein erhabener Ernst verklärte die Züge des Gelehrten. Nicht wahr, Marianne, wenn es einmal so weit ist, – du versprichst mir, an meinem letzten Willen nicht zu rütteln. – Sie werden vielleicht sagen, er war ein Narr, als er ihn aufsetzte, – glaube ihnen nicht, Marianne! Seine Stimme zitterte.

Viktor! Die Gattin legte den Arm um seinen Nacken. Wie kannst du mich so beunruhigen? – Ich verehre dich! – Ich liebe dich! Ja, ich liebe dich! Cassan störte die sonderbare Bekräftigung nicht, die in den Worten lag, so dank- und glückerfüllt war er in diesem Augenblick. Er schloß die Gattin in seine Arme und küßte sie auf die weiße Stirne zwischen das kohlschwarze Haar.

In diesem Augenblick schlug es dreiviertel auf neun. Cassan riß sich etwas zu hastig los. Die Gattin stutzte.

Was hast du denn heute noch vor?

Oh nichts weiter, ein – kleines Präparat, – du weißt ja, – der junge Emir. Es gelang ihm nicht ganz, seine Frau zu täuschen. Und das muß heute noch sein? fragte sie.

So rasch als möglich! Darum verzeih! Er ging zur Türe.

Papa! Da bleiben! Papa! rief die kleine Klara. Er winkte nur zerstreut mit der Hand und ging hinaus.

*

Rückwärts im Garten, zwischen den kohlenrauchgeschwärzten Ulmen, von deren Ästen eine trübe Feuchtigkeit herabsickerte, stand ein niedriges Gebäude, mit schwarzer Dachpappe gedeckt, – das Laboratorium Cassans.

Der Gelehrte durchschritt eilig den Garten. Aus dem Fenster im Erdgeschoß fiel ein schwacher Lichtschimmer.

Das war nichts Ungewöhnliches. Ferrol war die Sorgsamkeit selbst und heute wußte er ja, daß es noch zu tun gab.

Wird doch die Frau nicht schon da sein, das wäre ihm unangenehm gewesen. Der Gelehrte liebte es, das Hereinkommen seiner Objekte genau zu beobachten, jede Bewegung war für den aufmerksamen Beobachter wichtig.

Er trat etwas aufgeregt ein. Das Zimmer war leer. Da atmete er erleichtert auf. Bei so einem Experiment muß alles stimmen.

Es war ein kleiner Raum, er erschien wenigstens so, so überfüllt war er. In der Mitte ein massiver Schreibtisch, auf welchem Bücher, Schriften, alle erdenklichen Gegenstände, in dem Durcheinander einer sichtlich etwas nervösen Arbeit sich herumtrieben Die Flut der Bücher setzte sich noch am Boden fort.

An den Wänden hohe Schränke, mit Büchern gefüllt, bis auf einen, gerade gegenüber dem Schreibtische. Aus diesem leuchteten, in Reihen übereinander, gleichmäßig weiße Gegenstände, welche das schwache Licht der Lampe nicht gleich erkennen ließ. Aber als Cassan an den Tisch trat und die Lampe höher schraubte, traten sie plötzlich grell hervor, – es waren menschliche Schädel, die jetzt in dem Schiller der Glasscheiben, hinter denen sie wohl geborgen lagen, ein seltsames Leben gewannen. – Kleine, große, niedere, hohe! Dem unwissendsten Beschauer mußte sofort die Verschiedenheit der Formen ausfallen.

Cassan atmete erleichtert auf. – Hier war seine wahre Heimat. Hier sproßten seine reinsten Freuden.

Er trat an den Schreibtisch und ergriff das Paket mit dem Löwenkopf, das Ferrol pflichtschuldigst dahin gelegt.

Plötzlich griff er sich mit einer raschen Bewegung an die Brusttasche seines schwarzen Rockes. Es knisterte etwas darin. Er schüttelte über sich selbst bedenklich den Kopf. – So eine Zerstreutheit! – Und damit geht er durch den »Wall«! – Er nahm ein kleines Kuvert heraus, öffnete es, und entnahm ihm ein Paket Banknoten, 16 Stück, je zu Tausend, zählte er auf den Tisch. Dann griff er noch einmal hinein. Eine Geldrolle kam zum Vorschein. Sie entglitt ihm, fiel zu Boden und barst. Er bückte sich, hob die Goldstücke auf und legte sie auf den Schreibtisch.

Bevor er in den Zoologischen Garten gegangen, hatte er bei seinem Bankier das Geld geholt, – und das beste dabei war, es gehörte zum Ankauf eines Grundstückes, mit dem er ganz besondere Dinge vorhatte, die ihn schon lange angelegentlich beschäftigten.

Wie vergeßlich man sein kann! Er zählte die Goldstücke, sie sollten 500 Mark betragen, es fehlten zwei daran.

So setzte er seine Brille auf, bückte sich und griff auf dem Boden danach herum. – Nicht zu finden! Und wie so etwas die Sinne ablenkt, die Hand unsicher macht! –

In dem Augenblicke klopfte es, – gerade daß er sich noch erheben konnte!

Ferrol trat ein und meldete die Frau mit dem Kinde. Cassan fuhr sich mit gespreizten Fingern durch das Haar, rückte die Brille zurecht, stellte rasch einen kleinen Schirm vor die Lampe, daß nur ein sanfter Schein auf ihn fiel.

Sie sollen eintreten, Ferrol.

Lassen Sie sich mit Stubensand nicht ein. – Ich bitte Sie, Herr Professor, meinte Ferrol.

Eintreten lassen! befahl Cassan unwillig. Der Diener ging hinaus.

Frau Stubensand, mit dem Knaben am Arme trat ein, Schritt für Schritt, als ob sie dem Boden nicht traue.

Sie blickte erstaunt in dem Räume umher, dann fiel ihr Blick auf den Schrank mit den Schädeln. Sie machte eine Bewegung des Schreckens.

Die tun Ihnen nichts mehr. – Nur näher, Frau! Nehmen Sie sich doch ein Beispiel an Ihrem Jungen! Der lacht ja!

Der Kleine lächelte wirklich und streckte die Arme nach dem Schreibtisch aus. Es war ein kräftig gebautes Kind. Sein Blick war frei und groß, ein Schelm sprach daraus, aber ein kindlicher, herzgewinnender. Keine Spur von Tückischem, Verschlagenem.

Cassan beobachtete es genau. Das Mitleid regte sich in ihm, eine große Liebe, die er sich nur selbst nicht gestehen wollte, als »unwissenschaftlich«, wie er sich ausdrückte.

Und so ein Wesen soll nicht zu retten sein, wenn man sein Triebwerk versteht?

Lang' hab' ich nicht Zeit, Herr. Wenn der Stubensand was merkt, geht's mir schlecht.

Diese Worte weckten den Gelehrten aus seinen Träumen. Er nahm den Jungen auf den Schoß, der es sich ruhig gefallen ließ. All das Neue in dem Raume nahm ihn zu sehr gefangen.

Cassan befühlte mit leisem Griff das Haupt des Kindes. Sein Auge hatte ihn nicht getäuscht, der Zerstörungssinn zeigte sich unverkennbar ausgeprägt, als aber sein Finger begierig weiter schlich, jeder unmerklichen Erhöhung des Schädelknochens folgend, entgingen ihm nicht, diese Erbschaft des Vaters, stark kompensierende Merkmale.

Cassan war verliebt in seine Theorie. Er wurde nur zu oft zum Dichter, wenn er einen Kopf unter seinen Fingern hatte.

Die Gefahr nahte ihm auch jetzt wieder. Der Knabe gefiel ihm, er hatte noch nicht leicht einen so ausdrucksvollen Kopf vor sich gehabt, aus dessen zarten Formen, Erhöhungen und Vertiefungen eine so reiche Welt von Anlagen und Seelenkräften sprach. Die auffallenden Widersprüche, die er fand, reizten nur seine Phantasie.

Er hielt den Knaben mit beiden Händen vor sich und betrachtete ihn lange. Seine ganze Zukunft trat in Bildern vor den Gelehrten. – Ein heroischer Ringkampf böser und guter Dämonen stritten mit neuen hoffnungsreichen Bildungen, – die Finsternis mit dem Licht!

Eine mitleidsvolle Liebe zu dem Kinde stieg in ihm auf, der heftige Wunsch, der ihn stets beseelte, helfend, rettend eingreifen zu können. – Er war ja auf dem besten Wege. Auf dem Grunde, den er morgen kaufen wollte, sollte ja einst nach seinem Tode eine Versuchs- und Erziehungsanstalt für solche Unglückliche errichtet werden, – sein Testament verfügte deutlich und klar darüber.

Unwillkürlich kam ihm der Gedanke, ein wie dankbares Objekt dieser Knabe da vor ihm sein könnte.

Er vergaß das Experiment, die Mutter, die vor ihm aus einem Sessel saß und unverständiges Zeug schwatzte von ihrer Qual und Not, mit Leben, Mann und Nachbarn.

Plötzlich kam er wieder zu sich und schämte sich seiner Träume. Daß es ihm immer so gehen mußte!

Rasch griff er nach Zirkel und Maß, und stellte ziffernmäßig, auf einer bereitliegenden Tabelle, alle Befunde fest, während der Kleine auf dem Boden mit den aufgeschlagenen Büchern spielte.

Doch die Ziffern behagten ihm heute nicht, und die Tabellen mit ihren schematischen Überschriften flößten ihm geradezu Widerwillen ein. Quälerische Zweifel beschlichen ihn an seinem mit aller Glut der Begeisterung gepflegten langjährigen Glauben. Es kam ihm plötzlich vor, als ob ihm der strahlende Blick des Kleinen am Boden, die unbewußte Sympathie, die er für ihn empfand, mehr sage, als wie alle diese toten Zahlen.

Ganz mechanisch stellte er an die Mutter die gewohnten Fragen, nach der Geburt des Kindes, nach seinem Gesundheitszustand, nach der Art der Kost und Pflege, nach den mütterlichen und väterlichen Großeltern.

Die Antworten waren kurz, sichtlich von Mißtrauen beherrscht, aber doch klang zwischen aller Verbitterung ein starkes Muttergefühl daraus, welches diesem derben, fast brutalem Antlitze kaum zuzutrauen war.

Der Kleine am Boden lallte seine unverständliche Sprache und blätterte in den Büchern, – plötzlich stieß er einen hellen Freudenschrei aus.

Cassan ließ sich augenblicklich nicht stören und setzte seine Fragen, besonders nach dem Gatten fort, doch die Antwort blieb aus.

Bitte, Frau, sprechen Sie ohne Scheu, – wie zu einem Arzt –

Keine Antwort, auch der Kleine gab keinen Laut mehr von sich.

Jetzt sah Cassan doch von seinen Notizen auf. Der Anblick, der ihm wurde, war ein überraschender.

Der Knabe hielt ein Goldstück und wollte es eben in die Hand der Mutter legen. Bei der Bewegung Cassans wandte sich der Knabe mit einem scheuen Blick, während die Mutter, sichtlich eben im Begriffe, das Goldstück verschwinden zu lassen, es mit einem grinsenden Diebeslachen Cassan reichte.

Der Bini hat's am Boden gefunden.

Über Cassan kam eine plötzliche Trauer. Der Blick des Knaben war ihm nicht entgangen, in dem das volle Verständnis für den Vorgang lag, und es war der Blick aus demselben Auge, dessen kindliche Klarheit ihn eben noch entzückte! Als ob die Wissenschaft ihm einen Stoß versetzen wollte! Was hast du dich um Augen und Sympathien zu kümmern! Merk auf deine Zahlen und Maße, und dichte nichts dazu und nichts hinweg.

Legen Sie das Stück dorthin, sagte Cassan völlig verstimmt zu der Frau, mit der Hand hinter sich auf den Schreibtisch deutend.

Die Frau folgte mit einer hastigen Gefälligkeit seinem Befehl. Sie stand auf, trat einen Schritt näher und neigte sich etwas vor den Gelehrten, um seiner Anweisung zu folgen.

Da bemerkte dieser ein völliges Erstarren ihrer Gesichtszüge. Die Farbe wechselte merklich, eine häßliche Gier leuchtete aus den dunklen Augen.

Cassan folgte der Richtung des Blickes. – Da lag das Gold, welches der Rolle entfallen, daneben das Paket Banknoten. – Wieder das Geld! Und wieder diese furchtbare Wirkung; auf Mutter und Kind!

Mein Gott, ist das viel Geld! sagte die Frau, noch immer von dem Anblick gebannt.

Das würde Sie wohl glücklich machen? – Glauben Sie? fragte Cassan.

Die Frau fuhr wie von etwas Unrechtem ertappt zusammen. Mich? – Oh – weg'n dem, – grad' wenn man's so sieht – dann – dann meint man's! Wenn man so gar nicht g'wohnt ist – aber ich hab' mir nichts g'dacht dabei, gewiß net, verteidigte sich Frau Stubensand, feuerrot vor Erregung. Und das lassen Sie g'rad so liegen, – ein ganzes Vermögen?

Cassan fühlte die Berechtigung dieses Vorwurfes. Nur seine Vergeßlichkeit war daran schuld. Was mußte sich die arme Frau für eine Vorstellung machen von seinem Reichtum! Recht haben Sie, – aber ich bin einmal so leichtsinnig. Er ergriff die Banknoten, die Rolle Gold, riß eine Lade des Schreibtisches auf, warf alles mit einer ärgerlichen, verächtlichen Bewegung hinein und stieß die Lade wieder zu, ohne den Schlüssel abzuziehen. Es entging ihm dabei der starre Blick, mit welchem die Frau den ganzen Vorgang verfolgte. Hier nehmen Sie! Er reichte ihr ein Goldstück.

Ich habe auch noch keines leichter verdient, – glauben Sie mir. Die Frau nahm das Geld.

Also Ihr Mann ist nicht zu haben? Glauben Sie? – Auch um fünfzig Mark nicht? sagte Cassan. Es läge mir viel daran.

Die Frau wartete einen Augenblick mit der Antwort.

Wenn ich Ihnen einen Brief mitgebe, wenn ich ihm verspreche, daß er von niemand gesehen werden soll, auch von meinem Diener nicht?

Frau Stubensand wich seinem Blick aus und sah zu Boden. Ja, wenn S' das tät'n, – wär's schon möglich –

Cassan fiel die Unsicherheit ihrer sonst so harten Stimme auf. Ja, aber da müßten Sie ihm ja gestehen, daß Sie bei mir waren, – und Sie sagten doch vorhin –

Frau Stubensand schoß von neuem das Blut in das Gesicht. Ja freilich, das schon! – Aber, mein Gott, was tut man nicht alles ums Geld, – wenn man Kinder hat? Wenn er mich auch schlägt, – ein Ding!

Also soll ich Ihnen ein paar Zeilen mitgeben? fragte Cassan.

Frau Stubensand zögerte noch einen Augenblick. Sie strich mit dem Finger um die Kante des Goldstückes in ihrer Hand.

Ja, sagte sie dann fester.

Cassan nickte, nahm einen Briefbogen und schrieb.

Ich kann's mir ja immer noch überlegen, – net wahr? meinte die Frau, von neuem schwankend.

Cassan hörte nicht mehr darauf, schloß den Brief und gab ihn der Frau. Morgen, um neun Uhr abends. Er braucht gar nicht beim Tore vorne herein zu gehen, sondern die Gartentüre von dem Wassergäßchen aus. Gar nicht zu verfehlen. Nur pünktlich soll er sein. Ich erwarte ihn selber dort. Keine Menschenseele soll ihn sehen. Mehr kann man doch nicht tun. Jetzt gehen Sie, es ist nicht notwendig, daß man Ihnen begegnet. Er drückte auf die elektrische Klingel. Sie können dann den Eingang durch den Garten selber sehen und ihrem Mann erklären.

Der Diener erschien.

Du führst die Frau durch die Gartentüre nach dem Wassergäßchen zu.

Es ist aber niemand mehr im Hause, bemerkte der Diener.

Das ewige Gerede! – Tue, was ich dir sage! Cassan stampfte ärgerlich mit dem Fuße auf den Boden.

Ferrol machte ein erstauntes Gesicht und winkte der Frau, mit dem Knaben ihm zu folgen.

Der machte Miene, als ob er sich sträuben wollte, er hatte sich zu gut mit dem Allerlei unterhalten, das sich ihm hier bot.

Da regte sich in dem Gelehrten von neuem das Mitgefühl mit dem Kinde. Nun willst du am Ende gar bei mir bleiben, Bini? fragte er in warmem Tone. Gefiel dir's da?

Der Knabe nickte stumm mit dem Kopfe, seine großen Augen schweiften über den Tisch, den Bücherschränken, als ob er sich das alles fest einprägen wollte, und kehrte dann wieder zu Cassan zurück.

Und wenn ich dich einmal hole, – gehst du dann mit? fragte Cassan, von einem zwingenden Gedanken erfaßt.

Ja. Der Knabe nickte energisch mit dem Kopfe. Haben Sie gehört, Frau? fragte Cassan.

Da hätten S' einen schönen Dank! meinte diese.

Um den wäre es mir nicht, bemerkte Cassan mehr für sich. Gib mir eine schöne Hand, Bini! Er reichte dem Kleinen die Hand.

Der sah ihn erst mit staunendem Mißtrauen an, dann reichte er dem Gelehrten langsam und vorsichtig die Hand.

Als dieser sie aber herzhaft schüttelte, da flog ein sonniges Lächeln über das Antlitz des Knaben.

Die Mutter zog ihn rasch fort. Jetzt mach dich weiter!

Der Knabe verlor rückgewandt keinen Blick von dem Gelehrten; unter der Türe noch, vom Dunkel fast aufgesaugt, winkte er ihm mit der kleinen Hand.

*

Cassan ließ sich in seinem Lehnstuhl nieder. Er fühlte sich abgespannt wie noch nie nach solcher Untersuchung.

Das war ja sein Fehler, er machte immer noch eine Gefühlssache daraus, anstatt daß er kalt und nüchtern blieb, wie es einem Diener der Wissenschaft ziemt. Das trübt den Blick, schafft Täuschungen aller Art. Gefühl und Verstand sind uralte Feinde. Man muß zu wählen wissen, wenn man Großes erreichen will!

Aber es ging ihm immer so. Einen fertigen Verbrecher sah er sich an wie ein wildes Tier, mit rein sachlichem Interesse, wenn ihm aber ein Kind unterkam von dem unglücklichen Stamme, dann stieg ein bitteres Weh in ihm auf, ein großes Mitleid, das seinen Geist beschattete, – dann war ihm die erbarmungslose Wissenschaft nichts, etwas Totes, und die lebendige Liebe beherrschte ihn ganz.

Kein Zweifel, der Knabe hatte das Erbe seiner Eltern schon angetreten, der Diebesblick, den er ihm zuwarf, als er sich bei der Entwendung des Goldstückes entdeckt glaubte, sagte Cassan alles, – und doch war es nur ein flüchtiger Schatten, der über das sonst so kindliche Antlitz huschte. – Eine Mahnung der Finsternis: »Rühre nicht an mein Eigentum, ich bin unerbittlich.«

Und da wartete er mit seinem großen Plane, anstatt daß er der Furchtbaren, Verhaßten mit kühnem Griffe das nächstbeste Opfer entriß, – dieses Kind zum Beispiel, das ihr unwiderbringlich verfallen.

Der Gedanke der Mitschuld wälzte sich auf ihn. Erregt sprang er auf, wühlte in seinen Papieren, bis er endlich ein Aktenpaket in blauem Umschlag hervorzog. »Mein letzter Wille« stand auf dem Deckel. Lang blätterte er darin. Da waren genau ausgeführte Baupläne, Kostenvoranschläge, Gutachten von Fachgelehrten und Ärzten, seine eigenen Vorschriften, Willensmeinungen, Proklamationen an die Wohltätigkeit des Publikums, sich an seinem großen Werke zu beteiligen, das er mit seinen schwachen Kräften nur begründen könne.

Das war ja der Hauptgrund, warum er bei seinen Lebzeiten nicht an die Ausführung des Projektes wollte. Seine Mittel reichten nicht, wenn er seine Verpflichtungen gegen Frau und Kind in Erwägung zog. Tritt er jetzt damit an die Öffentlichkeit, werden seine Feinde den persönlichen Ehrgeiz des Gelehrten als Motiv angeben, unter Umständen ein noch viel egoistischeres: die Hoffnung auf eine einträgliche Direktorstelle. – Das hat man alles schon erlebt. – Nach seinem Tode stand dann alles anders, da war er der große, der edelmütige Doktor Cassan, die Zierde der Wissenschaft, der edle Menschenfreund! Man wird sich drängen zu freiwilligen Spenden.

An einer ebenso treuen, als für die Idee begeisterten Vollstreckerin fehlte es ihm ja nicht, das wird Marianne besorgen, und die kleine Klara wird ihre Nachfolgerin sein.

Er strich, verbesserte, machte neue Zusätze. Der Kopf brannte ihm vor Begier. Er vergaß darüber ganz das Löwenhaupt, das noch immer unausgepackt vor ihm lag, – so erfüllte ihn die lebendige Zukunft, die er sich in den sonnigsten Farben malte.

Cassans Künstlerstunde hatte geschlagen.

Cassan hatte den Grundfehler erkannt, der alle derartigen Experimente zuschanden oder wenigstens ihren Wert für die Wissenschaft fraglich machte, und sich alle Mühe gegeben, ihn zu vermeiden.

Aber darin lag die große Schwierigkeit, die er noch lange nicht überwunden sah.

Der erste Grundsatz mußte sein: völlige Geheimhaltung des eigentlichen Zweckes der Anstalt, sowohl den Insassen gegenüber als der Öffentlichkeit.

Das Kind, welches seine Abstammung von einem Verbrecher weiß, ist schon hereingezogen in den verhängnisvollen Ring, gewissen psychischen Einflüssen unterworfen, die nur schädlich wirken können.

Das Objekt müßte völlig losgelöst von allen äußeren und inneren Einflüssen heranwachsen, wenn ein Erfolg erzielt werden sollte. – Die kleinste, unvorsichtig gelassene Ritze in dem edlen Bau genügt, um die Finsternis hereinzulassen, die draußen begierig lauert.

Daraus ergibt sich die weitere Notwendigkeit: das Kind muß seinen geschändeten Familiennamen ablegen und mit einem neuen versehen werden. Ferner: die Öffentlichkeit darf von seiner Abstammung nichts erfahren, er muß als neuer Mensch, erlöst von seiner dunklen Geschichte, in den Lebenskampf eintreten.

Eine noch weitere Schwierigkeit: der Zweck der Anstalt darf dem Kinde nicht offenbar werden, auch nicht nach seiner Entlassung, – die Kenntnis dieses Zweckes würde unbedingt ein störender Faktor in der späteren Entwicklung abgeben. – Alle Brücken zur Vergangenheit müssen abgebrochen werden. – Nur bei strenger Befolgung aller dieser Maßregeln war an ein wissenschaftlich und menschlich wertvolles Resultat zu denken.

Aber welche Hindernisse türmten sich da aus. Cassan rang einen verzweifelten Kampf mit seinem Kunstwerk, das er mit der ganzen Kraft seiner Seele liebte. Und immer erschien dieses rührend schöne Kindeshaupt vor ihm, der kleine blonde Junge von eben, wie seine Verkörperung!

Der ganze Bau erschien ihm jetzt wertlos, wenn er diesen kostbaren Stein nicht einfügen konnte.

Und doch ging es nicht. – Abgesehen von allem andern, das Projekt war noch nicht reif.

Er wird morgen mit dem Vater reden, – alles tun, den Knaben dem verderblichen Einflüsse zu entziehen, was es auch koste. Der Gedanke beruhigte ihn Wieder; er versank in wonnige Träume.

Die Lampe war schon im Erlöschen. – Da trat Ferrol leise ein. Er mußte oft auf diese Weise ein Ende machen.

Herr Professor, es ist zwei Uhr!

Cassan raffte sich mit sichtlichem Schmerz auf.

Was willst du denn schon wieder, Störenfried? Zwei Uhr ist's, Herr Professor, – Schlafenszeit! Cassan legte die Akten in die Schublade, stand unwillig über die Tyrannei seines Dieners auf, der er sich doch nicht entziehen konnte.

Ferrol blickte erstaunt auf den Schreibtisch, auf dem noch immer das unberührte Paket lag.

Ja, Sie haben den Kopf noch gar nicht ausgepackt!

Laß den Kopf! – Oder ja, pack ihn selber aus! Ich hatte Wichtigeres zu tun.

Cassan strich sich durch das Haar und ging der Türe zu. Plötzlich blieb er vor Ferrol stehen. Hast du den Kleinen angeschaut? Ein Prachtkerl! Nicht?

Ganz der Vater! erklärte Ferrol.

Cassan machte eine ärgerliche Bewegung. So, wer sagt dir denn das?

Meine Augen, Herr Professor.

So, deine Augen? Cassan trat dicht vor Ferrol und sah ihm in das Gesicht. Dann taugen deine Augen eben nichts.

Ja, haben Sie ihn denn schon gesehen, den Stubensand, Herr Professor?

Ich brauche ihn nicht zu sehen. Cassan schrie es Ferrol ganz zornig zu. Ich kenne euch alle – alle! – Und der Junge gehört nicht zu euch. – Ich will nicht, daß er zu euch gehört, merk dir das! Lösch die Lampe aus! Cassan verließ trippelnd das Zimmer.

Ferrol sah ihm nach, bis er die Haustüre schließen hörte. In seinem eben noch so ergebenen Dienergesicht erschien ein böser Zug. Verrückter Alter! murmelte er zwischen den Zähnen. – Du kennst uns! Ja – natürlich! Er lachte still. – Dann trat er an den Schreibtisch, öffnete das Paket. Der wohlpräparierte Schädel des Emirsprößlings grinste ihm entgegen. Er nahm das Skelett und hielt es an das Licht; bei einer Wendung ritzten die zarten, spitzen Zähne den Finger Ferrols blutig. – Ärgerlich ließ er ihn auf die Schreibtischplatte fallen. Da hat man's: Löwe bleibt halt Löwe!

Er nahm den Kopf wieder auf, um ihn in das Laboratorium zu tragen. Da blieb er mit dem Rock an etwas hängen.

Es war der Schlüssel, welchen Cassan an der Schublade hatte stecken lassen. So ein Leichtsinn! –

Ferrol packte die Neugierde. Er zog die Lade heraus, das Gold glänzte ihm entgegen. Das wäre für den Stubensand! Und warum nicht auch für ihn? Hat der Herr Professor ihm seine zwei Jahre Zuchthaus vergessen, samt seinen Redensarten? Hat er ihn nicht eben noch mit dem Stubensand in einen Topf geworfen? – »Ich kenn' euch alle!« – Was nützt also das Ehrlich-werden-wollen? Man glaubt's einem ja doch nicht. Also sei kein Esel! Was weiß denn er, wieviel da solche Stücke liegen? Und wenn – nachher hat er halt eins liegen lassen, – und die Frau hat's gedruckt – oder der kleine Prachtkerl! – Du kennst uns! – Ja, natürlich! – Ferrol lachte diebisch, und seine Finger griffen in den Goldhaufen. Er nahm ein Stück. – Gerade so gut können zwei heraußen gelegen sein! – Er nahm das zweite und steckte beide in die Westentasche, schloß die Lade und schob den Schlüssel unter eine Zigarettenschale, die Cassan häufig als Versteck dafür benützte, öffnete die Glastüre des Schrankes, rückte einige Totenschädel und stellte das Skelett hinein.

Ferrol schraubte die Lampe ab. Mit einem leisen Schluchzer erlosch sie. Dann schlich er auf den Zehenspitzen hinaus, obwohl er nichts zu fürchten hatte. – Die Diebesnatur war in ihm erwacht.

In das Arbeitszimmer Cassans war die Finsternis gestürzt. Sie hatte alles verschlungen, nur der Kopf des Emirsohnes leuchtete in jugendlicher Weise wie ein kleiner strahlenloser Mond.


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