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III.
Das Geheimnis der Anziehung

– Dem Leben der Provinz fehlt die Überraschung. Doch zuweilen trifft man sie, und zwar seltsamer, als man zu sagen wüßte.

So sprach Fräulein von Romanil, in elegantem Kleide, zu Fräulein von Pierrefeu; nachdem sie ihre Cousine geküßt hatte, setzte sie sich an ihre Seite.

– Es ist sicher das erste Mal, daß wir fast zwanzig Tage vergehen lassen, ohne einander zu sehen! Denke dir, ich habe ein Abenteuer gehabt … ohne Worte, mit einem Unbekannten … es ist dein Mieter! Was ist das für ein Mensch?

– Ein junger Mann, den mir Jausserande de Claustral empfohlen hat, die jetzt in Lyon wohnt. Da er mir keusch erschien, da er allein steht, habe ich ihm die zweite Etage gegeben, mit der ich nichts anzufangen weiß. Aber wie hast du, Emezinde, ihn kennen gelernt? Das interessiert mich: du kannst dein Abenteuer ausführlich erzählen.

– Es war am 6. April, während der Messe von sieben Uhr: als ich mich umdrehte, sah ich einen jungen Mann, der mich betrachtete. Ohne Eleganz gekleidet, entsprach er dem vagen Typus eines Dichters, Künstlers oder Träumers. Er folgte mir bis zu meiner Tür. Da der Pförtner nicht sofort öffnete, kam er dicht an mich heran, während ich wartete. Statt vorbei zu gehen, hob er den Kopf und las mit lauter Stimme (eine angenehme Stimme, die ich nur dieses eine Mal gehört habe): »Auf blauem, mit Sternen besäeten Felde eine Wölfin mit drei silbernen Lilien: Roma locuta est.« Diese Lektüre bedeutete: »Ich weiß, daß Sie Fräulein von Romanil sind.« Jeden Morgen, bis auf einen, das macht zwanzig Male, hat dieser Mensch mich um sieben Uhr in St. Agricola am selben Pfeiler erwartet, um mich andächtig zu betrachten, ohne sich ablenken zu lassen; dann ist er mir von weitem oder auf dem andern Trottoir gefolgt.

– Das ist alles?

– Äußerlich ja. Er hat nicht geschrieben, er hat nicht versucht mich anzureden. Übrigens hat er mir nichts zu sagen … Dieser bescheidene Mensch ist ein Ungeheuer.

– Ein Ungeheuer, weil er dich anblickt? Das Gegenteil würde gegen ihn sprechen. Was wirfst du ihm vor? Seine Blicke? Du kennst das Sprichwort Un chien regarde bien un évêque, deutsch etwa: Sieht doch die Katz' den Kaiser an. …

– Er blickt mich wirklich wie ein Hund an, wie ein entarteter Hund; er zergliedert mich, er entkleidet mich, er liebkost mich.

– In St. Agricola und in der Stephanstraße um sieben Uhr morgens, im Sommer, entkleidet man, liebkost man? … Ich kenne meine Cousine nicht wieder: eine unvergleichliche Schönheit, aber eine vernünftige Person … Deine Phantasie hat gearbeitet …

– Adelaïde, ich habe schmachtende und lüsterne Blicke zu oft gesehen, um mich zu täuschen: dieser junge Mann ist kein Verliebter. Er betrachtet jeden Morgen eine Jungfrau, wie er die Messe hört, und dann geht er, ich weiß nicht wohin.

– Abgesehen von gestern … kehrt er vor acht Uhr zurück und arbeitet den ganzen Tag. Die Einförmigkeit unseres Provinzlebens führt dazu, Umstände zu vergrößern und zu färben, die wir sonst kaum bemerken würden. Was du mir erzählst, erstaunt mich nicht, empört mich nicht. Dein Anblick tut ihm wohl, und er hat kaum eine Zerstreuung.

– Ich verzichte darauf, Cousine, dir mein Gefühl verständlich zu machen, aber ich bitte dich um einen Gefallen: ersuche deinen Mieter, nicht mehr nach St. Agricola in die Messe von sieben Uhr zu kommen.

– Ich bedauere sehr, dir etwas abschlagen zu müssen, Liebling … Aber wie soll ich mein Ersuchen begründen? Ich kann ihm doch nicht sagen: »Mein Herr, Sie entkleiden, Sie liebkosen meine Cousine in St. Agricola …«

– Gut, dann werde ich selbst ihn sehen, sagte das junge Mädchen entschlossen. Was ist das für ein Bursche?

– Bezaubernd, sehr sanft, sehr gelehrt, sehr fromm.

– Was tut er hier?

– Er schreibt ein Buch, sein erstes Werk; er lebt im Norden, aber als geborener Provenzale hat er in der Heimatluft arbeiten wollen.

– Gott sei mir gnädig! Er wird mich in sein Buch bringen.

– Das spielt in Paris und malt die große Welt, so wie er sie sich vorstellt; es giebt da viel Ehebrüche, und kein junges Mädchen.

– Also schlechte Literatur!

– Vielleicht. Die andere, scheint es, verkauft sich nicht.

– Er schreibt, um zu leben?

– Das ist das einzige Werkzeug, das er in Händen hat.

– Und du sagst, daß er als Einsiedler lebt?

– Durchaus, er kennt niemand und besucht nur die Messe.

– Und du hast ihm für längere Zeit vermietet?

– Solange er will, aber er wird nicht länger als sechs Monate bleiben. Übrigens ist er augenblicklich ausgegangen: komm und sieh, was er aus meinem Speicher gemacht hat. Daraus wirst du diesen Menschen besser kennen lernen, als ich ihn dir schildern könnte. Er hat sich sogar eine Kapelle eingerichtet!

Statt ein Echo ihrer Entrüstung zu hören, stieß Fräulein von Romanil auf eine so glänzende Meinung über den Schuldigen, daß ihr Urteil, zu schnell und heftig ausgesprochen, sich gegen sie selbst kehrte, als habe sie Hallucinationen gesehen oder Chimären erfunden, die Töchter der Träumerei und der Einsamkeit. Gedemütigt, unfähig, ihre Behauptungen zu beweisen, verbarg sie ihren Verdruß und folgte ihrer Cousine in die zweite Etage.

Fräulein von Pierrefeu zeigte einen eigenartigen Stolz, daß ihr sonderbarer Mieter so erfinderisch gewesen.

– Es war eine Rumpelkammer, eine Niederlage, die nur an einen Lumpensammler denken ließ: in einem Tage hat er daraus das Heim eines Künstlers gemacht, beinahe die Sammlung eines Kunstliebhabers, und der Speicher sieht wie ein Museum aus.

Trotz ihrer feindlichen Stimmung mußte Emezinde einräumen, daß ihr Verfolger in hohem Grade den künstlerischen Sinn besaß. Besonders über die Kapelle erstaunte sie.

– Ich hätte nie geglaubt, daß du so viel seltsame Dinge besitzest!

– Ich auch nicht. Und wenn er sein Ordnen beendet hat, wird es wirklich sehenswert sein. Seitdem ich mein … Pfandhaus geöffnet habe, verlor ich die Erinnerung an das, was es birgt. Die Zimmer nach dem Hofe sind voll von Kisten! …

– Offenbar ist der Herr der geborene Kustode, den ein günstiger Stern führt: in ganz Avignon würde er nichts Ähnliches finden! Ich bin nur erstaunt, daß du, so eifersüchtig auf deinen Frieden, ihn aufgenommen hast, einen Unbekannten, und in dieser Weise.

– Meine schöne Cousine, ich habe mich genug mit Leuten abgeben müssen, die mir nicht gefielen: dieses Mal habe ich mir selbst einen Gefallen tun wollen.

Das junge Mädchen blickte ihre Cousine etwas erstaunt an. Adelaïde hatte sich selbst einen Gefallen tun wollen! Dieses ruhige Geständnis klang wirklich ernst.

Virginia kam dazu. Es war der Empfangstag von Fräulein von Pierrefeu: die Besuche hatten schon begonnen.

– Ich lasse dich hier, erwarte ihn: er muß bald kommen. Sei freundlich!

– Diese Empfehlung für einen so kleinen Herrn!

– Er ist viel größer als alle, die du je gesehen hast, versicherte Adelaïde.

– Dein Mieter? fragte sie bestürzt.

– Mein Gast, sage ich dir.

– Für mich ist es nur ein Mensch, den ich auf der Straße kennen gelernt habe.

– Den deine Cousine Pierrefeu beschützt!

Diese Worte hatten viel Sinn für eine so stolze Person wie Emezinde, die in ihre Rasse vernarrt war; indem Adelaïde sie aussprach, beschützte sie den jungen Mann wirklich!

– Ach, ich bedauere wahrhaftig, daß ich diesem Gespräch nicht beiwohnen kann. Wenn du fortgehst, wirst du in den Salon kommen, um mir in zwei Worten zu sagen, wie es abgelaufen ist … Ich bitte dich noch ein Mal: sei freundlich!

Im Studio allein geblieben, empfand Emezinde einen Nervenreiz. Bei ihrer Cousine übertraf die Güte die Fähigkeit; als sie für ihren Gast sprach und ihn gegen einen drohenden Unwillen zu verteidigen suchte, hatte sie dieses hochmütige Herz, das keinen Einfluß ertrug, hart gemacht.

Sie betrachtete die Gemälde ohne Rahmen, die steinerne Madonna des Kamins, die vergoldeten gedrehten Säulen einer Altarwand, welche die vier Ecken schmückten, die Kirchenlampe, die von der Decke herabhing. Zum Tisch zurückkehrend, setzte sie sich auf den einzigen Sitz.

Im vorletzten Bilde der »Meistersinger« giebt es einen köstlichen Augenblick: Ritter Walter tritt aus der Kammer des Hans Sachs, zum Wettbewerb gekleidet, und bemerkt Eva, die dem dichtenden Schuster einen Fuß hinstreckt, damit er ihren hübschen Schuh nachsieht.

Statt Schritte hinter sich zu hören, die sie mit dem Ohr erspähte, sah Emezinde, wie sich die Tür im Hintergrunde öffnete. Ramman erschien in seiner Arbeitskutte.

Ein Ausruf kam von seinen Lippen. Er öffnete die Arme und sprach:

– Benedicta quae venis, Domina mea Sei gesegnet, daß du kommst, meine Herrin.!

Seine Hände auf seine Brust legend, betrachtete er sie mit einer lächelnden Andacht, die so tief war, daß Fräulein von Romanil ihrerseits eine wirkliche Neugier empfand. Was sie sich vorgenommen hatte, um den frechen Menschen zu vernichten, fiel vor dieser theatralischen Haltung, die in den Augen eines romantischen Mädchens von allem Provinziellen stark abstach.

Er blieb eigensinnig auf der Schwelle stehen. Er betrachtete sie jetzt von vorn, wie er sie zwanzig Tage auf der Straße angesehen hatte. Es war derselbe andächtige Ausdruck, derselbe ruhige Rausch. An ihren Brüsten, die gegen ihr Mieder schlugen, fühlte sie die magnetische Berührung, die sie so verwirrte und reizte, daß sie sich zu diesem Schritte zwang.

– Mein Herr, Sie halten sich etwas fern, um zu hören, was ich Ihnen zu sagen habe.

– Wenn man sich den Erscheinungen nähert, verschwinden sie.

Seine schmeichelnde und geschmeidige Stimme machte das junge Mädchen verlegen.

Langsam durchschritt er den Raum, der ihn von Emezinde trennte, und beugte ein Knie auf die Erde.

– Diese Stellung paßt schlecht zu dem, was Sie hören werden.

– Sie paßt zu dem, was ich antworten werde.

Sie machte eine abweisende Gebärde.

– Ich wollte meine Cousine bitten, mit Ihnen zu sprechen; aber ich fand sie zu meinem Erstaunen so parteiisch, Ihnen so geneigt, daß ich es vorzog, selbst zu kommen. Oh, die Sache ist sehr einfach! Ich ersuche Sie, zu einer andern Stunde nach St. Agricola zu gehen. Oder muß ich Ihnen diese Kirche überlassen?

Sie erhob sich.

Ramman war erbleicht; eine unaussprechliche Traurigkeit breitete sich über seine Züge, er senkte den Kopf.

– Ein Wunsch von Ihnen ist für mich Befehl.

Seine Stimme erblaßte auch.

Alles war gesagt, und sie wendete sich, um zu gehen.

– Ah, rief sie.

Auf einer gewissen Höhe verstehen die Menschen einander, ohne deutlich und taktlos zu werden. In diesem Ausruf lag ein Zugeständnis, das der junge Mann zwar nicht bemerkte, das ihn aber etwas getröstet hätte, denn er war sichtlich aufs Tiefste betrübt.

– Nicht nur auf die Messe müssen Sie verzichten, auch darauf mir zu folgen. Ich bin zu Ende und Sie können sich wieder erheben.

Er hatte seinen Arm auf sein Knie gestützt und hielt seinen Kopf gebeugt.

– Adieu, mein Herr, sagte Emezinde.

Sie erreichte die Tür und ging hindurch, ohne sie zu schließen, durchschritt den Speisesaal und kam ins Vorzimmer, als sie diesen Stein in den Rücken erhielt, jähzornig geschleudert, mit einer zugleich schmerzlichen wie beleidigenden Stimme:

– Fera bella e cruda Wilde und grausame Schöne..

Was verstand sie? Die italienischen Klänge erschienen ihr als die Form irgend einer Beleidigung. Ihre stolze Natur bäumte sich; mit einem kühnen Schritt kehrte sie zu Ramman zurück, der, scheu und wild, die Arme kreuzend, nicht erwartete, daß sie ihn bitten würde, seine Verwünschung zu wiederholen.

Seine schwarzen Augen, ängstlich, aber stolz, schossen einen heftigen Vorwurf in die erzürnten Goldaugen; leiser, deutlicher hämmerte er:

– Fera bella e cruda.

– Fera? fragte sie, in ihrer Bewegung zurückgehalten, weil sie den Sinn des einen Adjektivs nicht verstand.

– Wildes Tier, erklärte er.

– Sie wissen es, denke ich. Sie haben an meiner Tür eine Warnung für die Unvorsichtigen gesehen: »eine Wölfin in natürlichen Farben« …

Sie ahmte den Ton nach, mit dem er das Wappen gelesen hatte! Diese Nachahmung hätte einen weniger verstörten Menschen etwas beruhigt:

Um nicht unwissend zu erscheinen, sprach sie auch italienisch:

– Cacciatore rapace e lurcho (raubgieriger und gefräßiger Jäger).

Er antwortete:

– Occhiata non tasta (blicken ist nicht berühren).

Sie sandte den Ball zurück:

– Ladronneggiare non è amare (rauben ist nicht lieben).

Ein Schweigen befiel beide. Die Scene ging weiter, die Personen wechselten. Die Cousine von Adelaïde, das hohe Fräulein Emezinde von Romanil, hatte die Schranke des Anstandes durchbrochen und Ramman gestand seine Sünde. Die Punkte funkelten jetzt auf dem i! Nachdem der konventionelle Firnis abgesprungen war, standen sich nur noch die ewige Jungfrau und der ewige Jüngling gegenüber, zwei streitbare Willen: das war der grausame Kampf feindlicher Seelen, die nur vom gegenseitigen Schmerz leben werden, die wie Gladiatoren entweder töten oder sterben, ja vielleicht töten und sterben.

– Das Italienische verachtet in den Worten die Scham, da ich Ihnen die Schande habe vorwerfen, Sie mir diese haben gestehen können.

– Oh, beflecken Sie nicht Ihre Ausstrahlung: ich habe Ihnen einen Eindruck von Unreinheit gegeben, während Sie unter den Lilien, Ihren Schwestern, und unter den Sternen, Ihren Brüdern, schweben. Die selbe Sonne bringt einen feinen Geist zum blühen, erinnert ihn an die wunderbare Ordnung der Welt und die Gnade der Vorsehung, während dieser Strahl nur eine Wärme für den Hund ist, der sich vor Befriedigung wälzt und allein die Wärme genießt, ohne an ihre göttliche Quelle zu denken.

– Sie sprechen gut, und ich begreife, daß Sie meine Cousine verführt haben; aber Sie haben nicht mit mir gesprochen, Sie haben mir nur die Zuneigung eines Hundes gezeigt: die beleidigt mich.

– Die Reinheit bei den Engeln vereinigt sich mit der angeborenen Erkenntnis: auf der Erde sind die Engel unwissend. Unsere Natur ohne die Gnade, die uns nur nach der Prüfung gegeben wird, bemerkt nur das Gute oder das Böse, aber nicht das eine und das andere.

– Sie beginnen einen Vortrag: ich werde ihn abkürzen. Die Kunst, die Sie darauf verwenden, gefiele mir vielleicht, wenn meine Würde und mein Friede nicht auf dem Spiele ständen. Die Ehre, die ich Ihnen erweise, indem ich mit Ihnen spreche, trotzdem ich die stärksten Gründe habe, Sie zu verabscheuen, verpflichtet Sie, ganz aufrichtig zu sein: ich spiele ehrlich und mit der Offenheit einer Beichte. Übrigens würde die geringste Lüge Ihnen sofort meine Verachtung zuziehen. Sie haben mich gezwungen, zu glauben, daß mein Urteil Ihnen etwas bedeutet. Die seelische Tapferkeit schätze ich mehr als alles Andere. Wenn Sie sich feige fühlen, Ihrem Interesse nachgeben wollen, so lassen wir das.

– Ich schwöre Ihnen, mich nicht zu verteidigen und wahr zu sein, selbst wenn ich verlieren sollte. Wollen Sie sich setzen.

Ohne an den geistigen Zustand zu denken, in dem sie erschienen war, setzte Emezinde sich sogleich und sprach also:

– Nach Avignon gekommen, um besser arbeiten zu können, an Frömmigkeit gewöhnt, zu strenger Zucht entschlossen, haben Sie, als Sie mich sahen, den Plan gefaßt, mich in den Kreis Ihres Lebens aufzunehmen, um mit der Messe etwas Liebe zu genießen, in einer Mischung, über die ich nicht urteilen will. Wie Sie aus dem Speicher meiner Cousine die merkwürdige Dekoration einer Wohnung machen, so schöpfen Sie aus meinem Anblick eine seelische Erfrischung und zugleich einen künstlerischen Vorteil. Man erhebt sich, man wäscht sich den Körper, man geht zur Kirche; man reinigt die Seele, findet dort eine Jungfrau, die schön ist; man atmet ihren Duft ein, weidet sich an ihrer Schönheit; dann kommt man um acht Uhr an diesen Tisch, in der besten Verfassung zum schreiben! Ist das wahr?

– Das ist wahr.

– Man ist jung und Mann, das heißt zu leichtfertigen und gemeinen Sünden geneigt; infolge von etwas Idealität und viel praktischem Sinn findet man, daß die Jungfrau von St. Agricola in kleiner Dosis, aber regelmäßig, etwas Wollust giebt, bei der die Qualität die kleine Quantität aufwiegt; so wird sie ein lebendiger Schirm gegen die niedrigen Triebe, die der guten Arbeit schaden würden. Ist das wahr?

– Das ist wahr.

– Wir sind beim einundzwanzigsten Tage; wie mir meine Cousine gesagt hat, bleiben Sie ein halbes Jahr. Das junge Mädchen wird also noch hunderteinundsechzig Messen hören, während hinter ihr oder neben ihr beständig eine tiefe starke Begierde bebt, ohne müde zu werden. Sie beginnt ihre Tage, indem sie diesen unreinen Betrachter erblickt. So sieht das aus, was Sie beschlossen haben. Und Sie finden es überraschend, daß sie protestiert. Entweder halten Sie sie für gefühllos wie die Statue einer Vorhalle oder Sie verachten sie über jedes Maß. Die Gleichgiltigkeit, der rechtmäßige Ausdruck der Seele, kann körperlich nicht in Frage kommen. Kein Eindruck, der nicht gefällt oder mißfällt; keine Wiederholung, die nicht wirkt: angenommen als Lust, zurückgestoßen als Übel. Das ist Ihre Hypothese. Ich langweile mich, wie es jeder in der Provinz tut. Wenn ich nicht zu arbeiten habe, muß ich mich in Acht nehmen; halte ich Ihre Mischung des Heiligen und Weltlichen für eine praktische Erfindung, so ahme ich Ihnen darin nach und atme etwas Liebe ein, während ich die Messe höre; kehre ich aber um acht Uhr heim, wird nichts mich fesseln, denn ich schreibe keinen Roman. Der Ruhm verlangt nicht von mir, daß ich ihn durch Fleiß erringe: ich würde an Sie denken oder an die Liebe, vielleicht an beide. Wenn an Sie, so würde ich Sie lieben, sobald die hunderteinundsechzig Andachten zu Ende sind; wenn an die Liebe, so würde ich ihr bei der ersten Gelegenheit unterliegen. In beiden Fällen bin ich am Ende der hunderteinundsechzig Tage unglücklich oder ich werde es sein, weil Sie mich auf den Weg der Verdammnis geführt haben. Mindestens, wenn ich sehr tugendhaft bin, werden Sie mich zu einer übereilten Ehe drängen, die nur den Wert einer Liebelei haben wird.

Unter der Hellsicht dieser Klugheit brach er zusammen. Sein gerades Wesen erlaubte ihm nicht zu antworten. Er fühlte sich verloren. Vor Schwäche zitternd, hatte er sich mit einem Bein auf die Ecke des Tisches gesetzt und hielt seine Arme ausgestreckt und seine Hände gefaltet.

Sie fuhr fort, mit langsamerer Stimme, wie man hochherzig einen Rat erteilt. Ihr Sieg war so groß, daß sie edelmütig wurde.

– Sie haben nicht überlegt, wie verrucht Ihr Plan ist: Sie sind nicht entartet. Sie tun das Böse instinktiv, aber Sie empfinden dabei eine heilsame Verwirrung. Um so besser. Ich verfluche nicht: ich wehre mich. Führen wir die Analyse weiter. Das ist ja Ihr Beruf als Psychologe, da Sie Romane schreiben. Ich brauchte nicht zu sehen, wie künstlerisch Sie diese Wohnung eingerichtet haben, um zu wissen, daß Sie ein Künstler sind. Bei Ihnen ist der Vergleich zwischen der Kunst und dem Leben, dem menschlichen Wesen und der Person eine Gewohnheit. Sie haben mich studiert, erklärt, gemessen, geschätzt; haben mich einer Klasse zugeteilt, diesem oder jenem verglichen, mit schmeichelhaftem Eifer; und Sie sind zu einer wirklichen Bewunderung gelangt, für welche Sie, glaube ich, den Beweis erbringen könnten. Mag das hingehen, obgleich es hart für eine Jungfrau ist, Modell stehen zu müssen! Nun, ich bin ein Weib und kann verzeihen, zumal meine Schönheit allen Probiersteinen widerstanden hat. Niemand wird jemals so wie Sie überzeugt sein, daß ich schön bin … Das Verbrechen (Sie wissen, was ich Verbrechen nenne … wenn die Worte mich auch verlegen machen, werde ich es doch formulieren) das Verbrechen, das Attentat, die Schmach, das ist nicht das Bewundern, das ist nicht das Betrachten … das Verbrechen … das ist die Wollust, die Sie aus mir geschöpft haben … gegen meinen Willen … Sie sind niedrig und gemein gewesen. Sie hatten nicht das Recht, einer Jungfrau die Sinnenwelt zu enthüllen, die allein die Liebe ihr öffnen darf, während Sie nicht lieben … Oh, fassen Sie meine Worte nicht falsch auf … Der Salamander, der ich bin, hat das Feuer Ihrer Begierde durchlaufen, ohne es zu fühlen; aber Sie haben mir eine Neugier eingeflößt … Ich habe Ihren unerklärlichen Eindruck begreifen wollen: deshalb habe ich ihn einundzwanzig Tage lang ertragen. Das Dunkel hat sich gelichtet … Wissen Sie, wann und wie? … Gestern, am Piusplatz, auf dem Markte. Sie sind mir einen Augenblick sehr nahe gekommen, Ihr Blick war geblendet und völlig glücklich. Ich habe eine Orange genommen, vom Stande vor mir, ich habe hineingebissen und sie mit einer Grimasse weggeworfen, indem ich Sie ansah. Darauf hätte auch der Eigensinnigste mir den Rücken gekehrt: Sie haben die Frucht aufgehoben, trotzdem die Verkäuferin über Sie lachte, Sie haben die Frucht mit Ihren Lippen abgewischt. Es konnte die Haltung eines Stolzen sein. Nein, heute Morgen, waren Sie wieder in der Messe: deshalb habe ich Ihre Wohnung feststellen lassen, deshalb bin ich hier, zum ersten und einzigen Male. Habe ich das Dunkel gut erleuchtet oder soll ich noch andere Schatten verjagen?

Er krümmte sich unwillkürlich, unter der Last seiner Strafe.

– Erlauben Sie mir? …

– Sich zu verteidigen?

– Ich bin verloren!

– Das heißt, Sie haben Ihre heidnische Messe verloren.

Das bittere Lächeln des Orest zog über seine Züge.

– Erlauben Sie mir, Ihnen einige Erklärungen über diese Seltsamkeit zu geben, die Sie ausgesprochen haben …

– Das hängt davon ab, was ich hören werde …

– Sie werden nachsichtig sein, wenn ich langsam bin: es fällt mir schwer, zu sprechen …

– Vorhin besaßen Sie die Freiheit eines Schauspielers.

– Vorhin war ich nicht zu Boden geschlagen.

– Die Worte gehorchen Ihnen nicht mehr. Meine Hand gehört nicht, soviel ich weiß, zu denen, die schlagen …

– Sie zermalmen das Herz.

– Das Herz? Ich ergötze Sie, ich schlage Sie: ich bin stets nur ein Körper für Sie gewesen.

Er stieß ein »Oh!« aus, das röchelte.

– Herrin! So nannte mein Gedanke Sie, in kindlicher Erinnerung an meine Meister der Liebe und der Kunst. Ich habe arg gesündigt, gegen Sie, gegen die Engel, gegen das Ideal selbst. Dulden Sie, daß ich Ihnen etwas erkläre, was Sie nicht kennen und Sie im höchsten Grade interessieren wird. Es kann Ihnen in der Zukunft dienen. Damit ich es enthülle, müssen Sie ertragen, daß ich meinen Fehler mildere. Ich biete Ihnen im Voraus die Genugtuung, die Sie wünschen. Ich werde nicht lang sein … Ich denke nur an Sie: für mich sind so viel Dinge jetzt zu Ende, so viel wunderbare Dinge … Während Ihr Fuß mich unerbittlich in den Staub tritt, reiche ich Ihnen ein Kleinod: betrachten Sie es, bevor Sie es verachten.

Emezinde gab einem besonders lebhaften Interesse nach: dieser zuckende Mensch bot ihr ein unsagbares Schauspiel. Diese Haltung eines Verwundeten, dieser keuchende Atem und besonders diese entwaffnende Demut wirkten auf die Jungfrau. Gegen die Kühnheit gepanzert, wurde sie von dieser Angst überrascht: die war so groß, daß sie einen Augenblick an Heuchelei dachte.

– Ja, Herrin, am 6. April sah ich Sie zum ersten Male und ich beschloß, mich von Ihrer Schönheit zu nähren, wie man sich an der Sonne erwärmt. Ich habe Sie mit allen Frauen verglichen, die man gemalt, modelliert oder geschildert hat, und ich fand nur Gestalten für Ihr Gefolge. Wenn ich Ihnen nur ins Gesicht gesehen hätte, wüßte ich nicht, daß Sie das Wunder der Schöpfung sind; obwohl Ihr Körper aus Licht geschaffen ist, giebt es in Ihnen eine andere Vollendung als diese Farbe der Apotheose. Sie sind die große Dame, die wild geblieben ist. Unter dem sittsamen Äußeren schlafen noch alle Triebe. Unter dem Schleier der Frömmigkeit sind Sie Dame Wölfin! Dame, das ist die Civilisation, die Tugend, das Gewissen, das Feingefühl. Wölfin, das ist die Natur, deren Trieb, deren Anziehung, deren Heftigkeit. In die Kirche bringen Sie die starken Düfte des Waldes; und in der Lichtung beschwören Sie die Kirche und deren Weihrauch. Ach, Herrin, niemals wird Ihr Ruhm göttlicher sein als in dem Geist, den Sie in diesem Augenblick zur Verzweiflung treiben. Mögen die Engel Sie niemals bereuen lassen, daß Sie den einzigen Spiegel zerbrochen haben, der das Geheimnis Ihrer Schönheit wiederzugeben wußte und der künftig kein Bild mehr empfangen wird; für immer getrübt, wird er verschleiert bleiben, denn Sie haben Ihren unerbittlichen Hauch schroff darauf ausgeatmet.

– Diese Schönheit hat Ihnen nur eingeflößt, meine Seele zu verderben, erwiderte sie.

– Ich habe Sie wie eine leidenschaftliche Madonna betrachtet, eine Mona Lisa, geschaffen, um Mystiker zu blenden. Bei meinem Seelenheil: ich habe geglaubt, meine Blicke könnten Ihnen ebenso wenig schaden wie die, welche ich einem Meisterwerk der Altarwand widme.

– Sie wollen behaupten, daß Sie mich geliebt haben?

– Nein, ich habe Sie nicht geliebt, ich habe Sie vergöttert. Lieben umfaßt die Möglichkeit, geliebt zu werden; an diese Kühnheit habe ich nie gedacht.

– Selbst gesellschaftlich besteht zwischen Ihnen und mir ein solcher Abstand …

Er zuckte die Achseln.

– Sie besitzen einen ganz andern Adel als Ihre Eltern: Sie sind das reine Blut, so typisch, wie es nie eins gegeben hat. Ihre Haut, das ist Ihr wahrer Adelsbrief, der Sie zur Königin aller menschlichen Tiere weiht. Ihre Haut, die ich so schuldig betrachtet habe, würde ich nicht zu berühren wagen, so verehre ich sie. Ihre Haut ist mehr wert als meine Seele.

– Ihre Seele ist unsterblich.

– Sie ist schmutzig, schmutzig, schmutzig, sagte er theatralisch.

– Man wäscht die Seele.

– Was nützt das jetzt?

– Dem Heil.

– Mein Heil …

Er lächelte spöttisch.

– Welcher Ausdruck! welche Lästerung! protestierte Emezinde. Ich verzeihe solchen Wahnsinn nicht … Widerrufen Sie … Ich befehle es, sonst würde ich glauben, daß Sie auf mein Mitleid rechnen: dann verlieren Sie den Rest meiner Achtung …

– Was sollte ich mit diesem Rest anfangen? … Welches ist die Strafe, die große Strafe des Verdammten? rief er schroff. Daß Gott ihm sein Angesicht entzogen hat!

Er betrachtete sie mit schmerzlichem Wahnsinn.

Sie wendete ihre Augen ab.

– Dieses Gespräch ist zu Ende, scheint es; aber Sie haben mir das unschätzbare Geheimnis nicht enthüllt, trotz all Ihren schönen Reden; dieses famose Geheimnis, das Ihre Schuld mildern soll.

– Ah, verzeihen Sie mir! Ich leide … Alles wird mir gleichgültig, selbst Ihr Interesse … Mein Gedanke zersetzt sich. Ich vergehe unter Ihrem Fluch. Ich weiß nicht mehr … Warten Sie. Hier … Es heißt in den ersten Büchern, die über die Tiere geschrieben wurden, daß die Schönheit der Pantherin die andern Tiere so sehr entzückte, daß alle kommen würden, um sie zu bewundern, wenn sie sich nicht vor ihr fürchteten. Ich habe wie die Tiere empfunden. Ich hatte keine Furcht: meine Bewunderung schadete der Pantherin nicht. Ich wurde in dieser Idee bestärkt, weil zwischen der Pantherin und mir eine Beziehung besteht, die mich zu Tribut verpflichtet. Die Furcht wäre übrigens durch die Anziehung übertroffen worden. Die menschliche Pantherin, mit ihrer Mischung von Ächtung und Güte, hätte den Dieb, der nur ein Bettler war, sich wieder erholen und erfreuen lassen.

– Warum haben Sie das nicht geschrieben? Es wäre vergeblich gewesen, aber logischer.

– Wenn ich schrieb, zwang ich Sie, meine Verfolgung anzunehmen oder abzulehnen, und Sie hätten sie nicht angenommen.

– Eine Pantherin ist ein höchst nervöses Tier, das nur die Liebkosung erträgt, die ihm gefällt, bemerkte sie.

– Ich dachte nicht, daß meine Liebkosung Sie aus der Entfernung berühren würde: aber sie hat Sie berührt … Da sind wir beim Geheimnis! Gewisse Menschen besitzen eine Anziehungskraft, die, ohne daß sie es wissen, auf andere wirkt, die mit einer entsprechenden Aufnahmefähigkeit begabt sind. Das setzt keine Gleichheit noch Gleichstellung voraus. Pflanzen unterliegen, so irdisch sie sind, dem Einfluß der Sterne. Ich wende mich zu Ihnen wie der Heliotrop, aus reinem Instinkt. Ich habe mir keine Frage über Ihre Person gestellt, ich habe mich nicht bei Ihrer Cousine erkundigt. Ich habe wie eine Pflanze gehandelt, mit der Unschuld der Natur, die der angeborenen Harmonie gehorcht. Als ich Sie sah, empfand ich alsbald Friede, inneres Glück, eine tiefe und ernste Freude.

– Sie befinden sich hier nur auf der Reise …

– Wenn man Monate von Glück erlebt, verläßt man sich für das Übrige auf Gott. Ich habe Sie beim ersten Male nicht erzürnt; und die Tragödie, die ich erlebte, habe ich zuerst nicht geahnt. Als ich fühlte, wie es mich getroffen hatte, war es zu spät. In diesem Augenblick bin ich bestürzt, daß ich durch Sie leide. Das geht nicht natürlich zu: das ist eine Erscheinung der Disharmonie. Diese Kraft, die in Ihnen lebt, die mich erhoben, mich beglückt hat, bis zu dem Tage, da sie mich niederwirft, diese feine Ausströmung habe ich erlitten, weil es mir vorher bestimmt war, denn die Vergleiche mit den Meisterwerken sind nur Spiele meines Geistes, Lockvögel, die mir gefallen. Sollten Sie häßlich, alt sein, würden Sie mich noch beherrschen, würden Sie, ohne mir Freude zu gewähren, meinen Willen unterdrücken. Von Ihren Poren geht eine Elektricität aus, ein Fluidum, das in meine Poren eintritt: niemals hat ein Tänzer, oder sonst jemand, Sie durch eine Berührung erregt. Ich allein habe Sie gepackt, trotzdem ich nur an einer Orange sog, in welche Sie gebissen hatten, weil ich allein, animalisch, chemisch, Ihre Ausströmung aufnehme … Daß Sie mich leiden lassen könnten, ohne selbst zu leiden, glaube ich nicht; und ich verzweifle … Indem Sie mich opfern, retten Sie sich nicht … Sie denken, ich glaube der Einzige, der Vorherbestimmte zu sein … Hören Sie das Geheimnis … Empfangen Sie den Talisman, den Ihnen ein Unglücklicher überreicht … Es giebt auf der Erde keinen Mann, jung und wild, reif und erfahren, alt und entsagend, der Ihrem Magnetismus widerstehen könnte, wenn Sie ihn, statt ihn treiben zu lassen, wie ein Schwert ergreifen, um damit zu schlagen. Es giebt keinen Menschen auf der Erde, der Sie verlassen kann, wenn er sich lange und oft dem Strahlen Ihres Körpers aussetzt. Sie werden geliebt sein, von wem Sie wollen. Das liegt weder an Ihrer Seele noch an Ihrer Schönheit. Sie haben einen Magnetismus, wie der Skorpion ein Gift hat: Ihre Verwundung ist tödlich. Ich habe mich sogar an Ihrem Stachel verletzt, als er nicht auf mich zielte.

Emezinde überlegte.

– Sie sind ein überspannter Geist! Wenn mein Urteil in gewissen Punkten schwankt, über die Tatsache steht es fest. Gebrauch machend von Ihrem Versprechen, mir zu bewilligen, was ich von Ihnen verlangen werde, bitte ich Sie, abzureisen. Verlassen Sie Avignon! Gehen Sie nach Arles …

Er schüttelte sanft den Kopf.

– Das ist unmöglich! Ich wäre ein Undankbarer. Ihre Cousine hat mich mit solcher Liebe aufgenommen, hat mir dieses kleine Paradies geschaffen: ich habe Pflichten gegen sie. Wenn ich Ihnen nicht begegnet wäre, würde ich Ihre Cousine lieben.

– Ach, welches Glück für Adelaïde und für Sie! Meine Cousine hat die Seele einer Heiligen, hat ein köstliches Herz; und sie ist schöner, als Sie glauben; sie ist schön, sehr schön. Ach, lieben Sie Adelaïde: ich werde Sie segnen …

– Leider …

– Sind Sie denn ein Hund, daß Sie mich so erbittert verfolgen! Adelaïde liebt Sie, und ist mehr wert als ich, viel mehr wert …

– Leider! wiederholte er.

Sie hatte sich erhoben. Zwei volle Stunden waren vergangen.

Ramman wehklagte:

– Psyche! Warum die Lampe umstoßen? Sie leuchtete, und jetzt ist da nur noch vergossenes Oel, und auf dir sind Flecke … Wenn ich um eine Gnade bäte, eine solche Gnade, wie man sie einem Armen, einem Enterbten, einem Unglücklichen erweist, also um etwas wie ein Almosen …

– Ich traue Ihren Phantasien nicht.

– Hierher gekommen, um mein Erstlingswerk zu schreiben, habe ich, dank Ihnen, in einundzwanzig Tagen, mit wunderbarer Schnelligkeit, zwei Drittel des Buches geschrieben.

Leiser fuhr er fort:

– Wenn ich einen Monat noch meine Morgenmesse haben könnte, würde ich das Werk vollenden und abreisen.

– Denken Sie nicht daran!

– Herrin, mein Werk interessiert Sie nicht, noch mein Schicksal: aber ich habe eine Mutter, die sich beunruhigt. Da ich weder einen Beruf ausübe noch eine Laufbahn vor mir sehe, muß ich Talent haben, um zu leben … die Not drängt mich … lassen Sie mich mein Buch vollenden, ich werde Tag und Nacht arbeiten … wenn ich Ihnen Tage ersparen kann, werde ich es tun, ich schwöre es.

Er faltete die Hände.

– Lassen Sie mir meine Messe … Ertragen Sie mich ein wenig … Denken Sie, ein Philosoph verlor den Faden seiner Ideen, als man den Baum fällte, den er von seinem Fenster sah … Wenn Sie ohne Erbarmen weggehen, wird es Nacht um mich, in mir … Sie vernichten meine Zukunft … Sie betrüben Ihre Cousine … meine Mutter … Sie treiben mich zur Verzweiflung …

Emezinde fühlte sich so stark gedrängt, daß sie mehr schrie als sprach:

– Nein!

Sie ging, ohne zurückzublicken, wie man flieht. Wie ein Pfeil schoß sie an der Tür ihrer Cousine vorbei, wurde ungeduldig, als die Haustür nicht sofort aufging, stürzte nach St. Agricola.

Auf die Stufen der Treppe gelangt, fuhr sie mit unerklärlichem Schaudern zurück: eine unsichtbare Hand hatte sie zurückgestoßen. Sie glaubte, dieser Eindruck komme von dem, was sie eben an Unerhörtem und Unzusammenhängendem vernommen hatte.

Als sie nach Hause kam, stieß Felicitas, die ihr Zimmer aufräumte, einen Ausruf aus.

– Was ist? fragte Emezinde nervös.

– Fräulein haben einen ganz merkwürdigen Kopf: ist Fräulein nichts geschehen? Der Herr vom Markte würde unruhig sein, wenn er Fräulein erblickte!

– Wie sehe ich denn aus!

– Als ob Fräulein Furcht empfunden hätte.

Sie hatte in der Tat Furcht empfunden.


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