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Während dieser Zeit hatte Nees viel erlebt, und es lag in dem Rathschluß des Himmels, daß Alles sich vereinigen mußte, ihn in den Augen der Personen, deren scharfer Beobachtung er ausgesetzt war, zu rechtfertigen.

Die Mischung von Wahrheit und Lüge, die in ihm zur Schau lag, mußte den Erfahrensten täuschen, besonders wer, wie der Oberschulze, Herr von Marseeven, die edlen Bedenken der Gerechtigkeit walten ließ.

Als Herr Cornelius Hooft sich andern Tages zu der anbefohlenen Untersuchung in das Purmurandsche Haus begab, fand er die Vorfälle, die wir bereits erzählt – aber Nees in einem Zustande von so unverkennbar wahrer Verzweiflung, daß der Schöffe glauben konnte, er habe den Verstand verloren.

Er wollte zu Anfang das Zimmer, in welchem Angela litt, gar nicht verlassen – als er endlich hervorstürzte, stieß er wilde gebrochene Reden aus, raufte sich das Haar und heulte dazwischen unter Thränenströmen, indem er sich auf die Erde warf und den Kopf auf die Bank im Zimmer hart niederschlagen ließ.

Der Schöffe forderte ihn endlich selbst auf, zu seiner Gattin zurück zu kehren, da er für den Augenblick jede Verhandlung mit ihm für unmöglich hielt und ließ sich zu der armen Wahnsinnigen führen, welche, unberührt von dem, was um sie vorging, in dem Lusthof unter dem Schatten ihrer Linde mit dem Kätzchen auf dem Schooß saß und die Blumen Angela's sinnend betrachtete, als wolle sie sich erinnern, was denn heute dabei fehle, und doch nicht ausdrücken konnte, daß sie ihre Tochter, die treue Pflegerin derselben, vermißte.

Das Fräulein von Casambort war, wie schon erwähnt, einst eine berühmte Schönheit gewesen.

Seit ihrer letzten Krankheit hatten sich ihre körperlichen Zustände ohne heftige Erschütterungen in eine langsam vorrückende Abzehrung aufgelöst; aber sie litt nicht mehr, und obgleich sie nur noch getragen von einer Stelle zur andern zu bringen war, fühlte sie diese Veränderung nicht mehr und war auf jeder Stelle zufrieden.

Als sie die Schritte des Herrn Cornelius Hooft hörte, schaute sie freundlich lächelnd auf, denn sie hoffte nun Angela zu sehen; als sie den fremden Herrn statt ihrer bemerkte, schaute sie gleichgültig weg und auf ihr milchweißes Kätzchen, welches, reizbarer als sie selbst, erwacht war, sich auf den Rücken warf und behaglich alle vier Pfoten in die Luft streckend, sich kollerte und dadurch das entzückte Lächeln ihrer Gebieterin erregte.

Cornelius Hooft hatte während dem, völlig unbeachtet von der armen Blödsinnigen, Zeit, diese prüfend zu betrachten. Sie war in dem höchsten Stadium der Abmagerung und todtenblaß – ihr glänzendes weißes Haar, welches unter einer saubern schwarzen Sammtkappe geordnet war, zeigte die ganze Form des Kopfes, und so unverwüstlich war die schöne Bildung dieser Formen, daß Herr Cornelius nach einiger Betrachtung ihr dies Zugeständniß machen mußte. Sie trug schöne seidne Kleider nach dem damals üblichen Schnitt und aus den offnen lang niedergehenden Aermeln sahen die abgezehrten Hände hervor, die so fein und so blendend weiß waren, daß sie mit dem weißen Felle des Kätzchens rivalisirten. Ihre Augen waren eben zu diesem Lieblinge auf ihrem Schooße gesenkt; als aber Herr Cornelius sich neben sie auf die Bank setzte, schlug sie dieselben auf und sah ihn lächelnd an.

Blaue Augen werden immer schöner, je kränker ihr Besitzer wird, und die an der Auszehrung Leidenden bekommen einen fast überirdischen Glanz und eine an Veilchen erinnernde Farbe. Die arme Wahnsinnige war so von allem Leid erlöst, daß sie in ihrem Ausdruck die harmlose heitere Unschuld des Kindes bekommen hatte. Herr Cornelius war fast überwältigt von diesem verklärten Bilde einer Heiligen, und als sie furchtlos seinen Arm berührte, um ihn auf die kleinen unverschämten Bequemlichkeiten des Kätzchens, welche sie entzückten, aufmerksam zu machen, wurden seine Augen feucht und er fühlte unwiderruflich, dies sei das unglückliche Opfer des grausamsten Geschicks, dies Wesen sei von Nees nicht zur Verfolgung habsüchtiger Absichten untergeschoben, dies sei die unglückliche Gattin von Renier de Gröneveld, die Schwester der Gräfin von Casambort.

Damit mußte er sich für heute begnügen, denn das ganze Haus war zum Dienste Angela's in den oberen Räumen versammelt und namentlich die alte Magd der Gröneveld, mit der er gern ein Examen vorgenommen hätte, war völlig unsichtbar und taub für jeden andern Anspruch.

So mußte er, blos von der Dienstmagd begleitet, endlich dies unglückliche Haus verlassen und kam in tiefe Gedanken versenkt bis in das Kabinet des Schulzen, worin er auch dessen Gattin fand, welche mit gleich großem Interesse erfüllt, die Erlaubniß erhalten hatte, den weitern Verlauf der Sache mit verfolgen zu dürfen.

»Verehrter Freund!« sagte der Schöffe nach den vertraulichen Begrüßungen beider Männer – »das, was ich am wenigsten erwartet habe, ist mir geschehen: ich komme mit dem Gedanken zurück, ob dieser Spitzbube und Ränkeschmieder, dieser Jakob van der Nees, nicht am Ende ein ehrlicher Mann sein sollte.«

Beide Gatten lachten und Hooft lachte mit, denn es reizte ihn, sich über sich selbst dabei lustig zu machen. Ernster wurde er, als er nun, mehr der guten Frau Flavia zugewendet, das Unglück der armen Angela erzählte, und diese ward so gerührt davon, daß sie in Thränen ausbrach. »Mein Gott, lieber Herr,« sagte sie – »wenn wir annehmen, daß diese arme Frau das Fräulein von Gröneveld ist, wäre es da nicht gut und schicklich, wenn ich mich nach dem Hause begäbe und das durch so viel Leiden erschütterte Gemüth der Armen zu trösten suchte?«

»Ich rechne auf deine mildthätige Güte, meine Liebe, wenn der geeignete Augenblick dazu gekommen sein wird« – entgegnete der Oberschulze ausweichend, denn er hielt den Augenblick für durchaus noch nicht gekommen – »aber wir wollen Hooft weiter erzählen lassen.«

Dieser schilderte nun die Verzweiflung von Nees mit komischen und lebhaften Farben; aber er konnte nicht umhin, später ernsthaft zu versichern, daß kein Mensch seines Dafürhaltens in solchen Zustand sich durch Verstellung versetzen könne, denn er wäre wie von Sinnen gewesen und die Ausbrüche seines Schmerzes bewiesen hinreichend, wie außerordentlich groß die Liebe zu seiner Frau sein müsse.

»Und nun,« fuhr Herr Cornelius fort – »mehr wie alles Andere hat mich der Anblick der armen Wahnsinnigen überzeugt, daß wir vor die rechte Thür gekommen sind. Heil'ger Gott, welch' ein Anblick!«

Flavia rückte ihren Stuhl näher und sagte ängstlich! »So schrecklich, lieber Freund? O sprecht doch. Die arme Gräfin Casambort, was für Schmerzen für sie!«

»Schrecklich? nein, edle Frau,« sagte der Schöffe – »schrecklich ist nicht das Wort; Thränen der tiefsten Rührung sind mir in die Augen getreten, als ich diese Heilige lächelnd, und mit dem Ausdruck eines Kindes auf dem schönen, abgezehrten Gesicht, erblickte. Wahrlich, es wäre für euer weiches Herz zu viel, diesen hinreißend traurigen Anblick zu haben, denn ich hatte, wie ich eingestehe, damit zu thun. Wenn die Katholiken das Bild einer solchen Madonna auf ihren Altar stellten, so könnten sie hoffen, ihre Fürbitte erlöste sie von ihren Sünden. Wie sie da saß mit der gesenkten leuchtenden Stirn, und dem Silberhaar – mit dem kaum noch sichtbaren Gerüst von Fleisch und Blut, und doch alles so schön, so edel – und fast schon eine Leiche – und doch die göttlichen blauen Augen mit einem Feuer, als beherberge sie unbewußt den himmlischen Funken darinnen. Ja, Gott weiß – ihr lächelt ob der Widersprüche, die ich euch aufzähle – aber ich will schwören, das ist das Opfer des schrecklichen Schicksals, was wir Alle kennen, das ist die Gattin des unglücklichen Renier de Gröneveld.

»Und so wahr ich lebe,« sagte lächelnd der Oberschulze – »sie hat eurem Herzen was angethan – ihr habt euch in ein Feuer hinein geredet, daß ich denken könnte, ihr machtet ein Reimgedicht.«

Hooft lächelte wieder, aber noch jetzt war ihm die Bewegung anzusehen, und er forderte Herrn von Marseeven auf, die gemachte Entdeckung der Gräfin von Casambort mirzutheilen.

»Wir wollen es noch einige Tage anstehen lassen,« erwiderte jener – »denn wir haben es da mit einer scharfen, hastigen Dame zu thun, die gewohnt ist, die Dinge selbst zu beleuchten, da sie durch ihre frühe Unabhängigkeit für eine Dame einen auffallend sichern Geschäftsblick hat. Ich muß ihr ganz andere Dinge als Vermuthungen und Wahrscheinlichkeiten vorlegen können, um so mehr, da ihr viel daran gelegen sein wird, an so unwillkommnen Verwandten zweifeln zu können, und trotz ihres rechtlichen Charakters sich viel gegen diese Verhältnisse in ihr sträuben wird – am wenigsten aber auf eine so weiche, poetische Inspiration in ihr zu rechnen ist, als sie unsern Freund Hooft ergriffen hat, und ihr seine ahnungsvollen Schmerzen durchaus nicht so überzeugend sein werden, als einige unzweifelhafte Documente mit Unterschrift und Siegel.«

»Ich muß mir euren Spott gefallen lassen,« sagte der Schöffe lächelnd – »und wünsche bloß, mich durch den Anblick dieser Heiligen an euch rächen zu können. Außerdem habt ihr Recht, und ich müßte mich sehr irren, oder ich glaube, Jakob van der Nees erhält seine Fassung zur Verfolgung seiner Geschäfte bald wieder und wir werden nicht lange auf die Beweise zu warten haben, die er behauptet uns vorlegen zu können. Es ist und bleibt aber außer Zweifel – dieser Nees ist ein zweideutiger Kerl und Alle, die mit ihm verkehren, sind auf ihrer Hut, da er listig und berechnend ist wie Keiner, und obgleich man ihm nichts anhaben kann, ist doch jeder überzeugt, er werde betrogen, oder Nees habe doch seinen eignen Vortheil nebenher viel besser verfolgt.«

»Wir müssen,« fuhr der Schulze fort – »fast damit abschließen, vollen Ausweis über das eigentliche Vermögen der Grönevelds zu bekommen, denn was er übernommen, wird genau nicht mehr zu ermitteln sein.«

»Das ist gewiß,« erwiderte der Schöffe – »aber es hindert ihn auch nichts, die genaue Rechenschaft darüber zu einem Paradepferde zu benutzen, was er vor uns herumgallopiren läßt und uns heimlich dabei auslacht; denn hat er wirklich damit den für die ganze Kaufmannschaft so überraschenden Aufschwung seiner Geschäfte bewirkt, wer kann tadeln, daß er das ihm Anvertraute vermehrt hat, wer kann ihm beweisen, daß er es für sich gethan hat? – Das einzige, was ihn fangen würde, wäre, wenn man ihn überführen könnte, er habe unredliche Mittel angewendet, die Erbin zu seinem Eigenthume zu machen; aber wir müssen gestehen, daß dieser allerdings sehr gegründete Verdacht fast schon von ihr selbst widerlegt worden ist – ja, denkt an die unbegreifliche Aeußerung, daß Nees sie bis dahin kümmerlich von seinem Erwerb ernährt hat, und erst, als die Erbin seine Braut wurde, er es sich erlaubte, von ihrem Vermögen einigen Wohlstand zu verbreiten.«

»Vergeßt nicht,« sagte der Schulze »daß Nees ein schmutziger Geizhals ist, daß das die Gelüste gewesen sein können, die solchen verwahrlosten Seelen das Häufen der Schätze schon zur Wonne machen – was er vorher über das Vermögen der Gröneveld beschlossen hatte, das wird sicherlich sein Geheimniß bleiben – und der listigste Streich ist immer, daß er die Erbin geheirathet hat!«

»Ach, und so unwiderruflich!« seufzte die gute Flavia – und so trostlos für die Verwandten.«

»Wie ich höre,« erzählte der Oberschulze, »hat der Prinz die Gräfin Casambort unter die Ehrendamen gewählt, welche die Königin von England außer ihrem eignen Hofstaat umgeben; sie wird demnach die hohe Frau hierher begleiten und so wird die Sache dann früher erledigt. Wir wollen indessen Beweise sammeln, sie prüfen – und dann überlasse ich dir, meine liebe Flavia, die sanften Mittel, die dein edles Herz immer gegenwärtig hat, um die arme Gräfin von Casambort bei dieser schweren Versuchung ihres Stolzes zu stützen.«

Herr Cornelius Hooft hatte sich nicht in van der Nees geirrt – er fand in ihm den andern Tag schon einen gefaßten Mann und dennoch lag auf seinem Angesicht der unverkennbarste Ausdruck eines wilden Schmerzes, und selbst diese eiserne Gesundheit hatte unter der Qual des verflossenen Tages gelitten, seine Augen waren trübe und sein Gesicht farblos und welk, man hätte es gefurcht nennen können, was seine Häßlichkeit erhöhte.

Mein Gott, dachte Hooft, der so empfänglich für Schönheit war, wie tief in der Einsamkeit mußte das arme Mädchen leben, daß es ihr möglich wurde, einen solchen Mann zu heirathen – und wieder stieg in ihm der Verdacht auf, sie müsse durch höllische Künste dazu verführt worden sein.

Nees wurde dagegen nicht gestört von solcher Ansicht der Dinge und empfing den Herrn Schöffen mit aller schuldigen Ehrfurcht und schleppte Alles herbei, was seit lange für diesen Fall in seinen Kisten wohlgeordnet da lag.

Daß er damit seit geraumer Zeit fertig war und es fast auswendig wußte, was er zu zeigen, zu sagen und zu verhehlen hatte, kam ihm ungemein zu Hilfe bei der wirklichen Abspannung, in die er sich versetzt fühlte; denn wir dürfen noch weniger wie Herr Hooft daran zweifeln, daß die Furcht, das einzige Wesen, das er je geliebt, zu verlieren, ihn in Wahrheit zu einem trostlosen Manne gemacht hatte.

Er hatte Gemüthszustände durchgelebt, deren Aeußerungen wir uns nach den bisherigen Erfahrungen denken können, und die diesmal noch eine geheime Beimischung von Gewissensbissen hatten, da er sich in diesem einen Falle wenigstens der Rohheit seines Betragens gegen sie bewußt wurde, und daher einen Theil seiner heftigen Anfälle gegen sich selbst kehrte.

Am Abend desselben Tages zeigte es sich jedoch, daß Angela zwar ihrer Hoffnungen durch die Geburt eines todten Kindes verlustig gegangen war, aber doch außer der großen Schwäche, die ihr geblieben, keine weiteren Befürchtungen für ihr Leben obwalteten. Nach dieser Ueberzeugung setzte sich Nees am andern Tage wieder so ziemlich mit sich zurecht, und wir wollen nicht dafür einstehen, daß er selbst einen guten Theil der gestern an sich verschwendeten Vorwürfe heute wohlfeil genug wieder einhandelte, indem er sich viel von natürlichen Folgen der höchst nöthigen Schritte, welche ihm als Pflicht obgelegen, vorerzählte, und wie unglücklich ein Mann zu halten sei, der bei Gelegenheiten, wo es gelte, sich zu benehmen, von einer Frau gequält würde, die sich durch kindische Furchtsamkeit endlich Alles selbst zubereitete. Tags vorher fühlte er die ganze thierische wilde Liebe gegen sein ihm sogleich wieder entrissenes Kind – heute kratzte er sich hinter den Ohren und sagte sich: Das wäre eine Sicherheit weniger gegen die anrückenden Verwandten; ja, Angela's zweifelhafter Zustand, fiel ihm ein, konnte ihn am Ziel seiner Wünsche, im kritischsten Augenblick der Gegenwehr, aller seiner Rechte berauben.

Diese heute ihm wieder bequem werdenden Betrachtungen machten ihn zu dem gefaßten Mann, wie wir schon erwähnt haben, und gaben ihm so viel Stärke, daß er das völlig geordnete System seiner Verfahrungsart unverrückt, trotz seiner ihn selbst überraschenden Abspannung, durchführen konnte.

Der Schöffe, der über die sich vorfindenden Beweise sogleich durch zwei ihn begleitende Gerichtspersonen ein Protokoll aufnehmen ließ, erstaunte über die klare Aufstellung und Darlegung aller Beweise, welche die Identität der Personen darthat, und mußte sich gestehn, daß nur ein mit dem Geschäftsgang wohl vertrauter Mann ihnen so in die Hände arbeiten konnte.

Die Papiere, worin ein großer Theil des Vermögens bestand, wurden in so bedeutendem Werthe von Nees angegeben, daß es kaum wahrscheinlich blieb, daß er unterschlage, da man ungefähr vorher berechnet hatte, was Gröneveld besitzen konnte – was Nees sehr gut wußte. Eben so war es eine bedeutende Summe, die Nees an baarem Gelde angab – dann kamen die Juwelen und Perlen, und das Verzeichniß, welches unter den Papieren war, bezeugte, daß auch kein Stein fehlte. Nees erzählte dann der Wahrheit gemäß, die ihm in diesem Falle das Nützlichste war, noch einmal den ganzen Hergang der Sache, und nannte, der eignen Ueberfahrt Grönevelds gedenkend, den Fischer, der noch lebte, und der aus Rücksicht für Nees den Flüchtling weiter gebracht hatte. Dann verlangte er noch, man solle Susa herbei rufen, damit ihr die Bestätigung aller eben zu Protokoll gegebenen Mittheilungen abgefordert werde.

Dies war, wie er sehr wohl wußte, ein unerläßlicher Punct, und er hätte diese Aussagen sicher zu fürchten gehabt; aber die Umstände waren ihm auch hierbei heute grade sehr günstig, denn an dem vorangegangenen schrecklichen Tage, den Beide verlebt, als Angela mit dem Tode rang, hatte der Schmerz und die vereinte Unterstützung, die Einer am Andern fand, in Susa mildere Gefühle für Nees erweckt, und er hatte es nicht vergessen, daß Susa ihm in ihrer mürrischen Weise gesagt: »Ja, Nees! um eurer Liebe zu Angela willen kann man euch viel vergeben.« – Susa ward von dem Krankenbette Angela's fast mit Gewalt fortgerufen, und sie trat endlich, von Nees gestützt, da sie kaum zu gehen vermochte, vor den Schöffen.

Abgespannt zum Hinsinken, reizbar und empfindlich bei der ganzen Procedur, die erst bestätigen sollte, wovon sie so fest überzeugt war, bekamen die Richter lauter schmollende, verächtliche Antworten, die – ohne daß sie die Aussagen von Nees kannte, doch dieselben vollkommen bestätigten.

Als das Protokoll endlich geschlossen wurde, war der Schöffe auf's Neue fest überzeugt, daß er die Flüchtlinge gefunden, daß hier lauter Wahrheit verhandelt worden, und – was ihm am schwersten ward, was er doch als redlicher Mann nicht länger zurückhalten wollte – daß Nees ein ehrlicher Kerl sei.

Nach diesen, dem Oberschulzen gemachten Mittheilungen hielt es Herr von Marseeven nach einigen Tagen, welche ihn über Angela's Befinden beruhigten, für unerläßlich, der Gräfin von Casambort den Bericht zu machen, der sie von der Auffindung der nahen Verwandten unterrichten sollte – und dies Geschäft, das der Natur nach so erfreulich hätte sein müssen, ward durch die Erwähnung der Nebenumstände etwas schwierig, weil er den Charakter der Gräfin Urica zu wohl kannte, um nicht zu wissen, daß diese Botschaft eine tödtlich verletzende Beimischung haben werde. Er lehnte es daher auch ab, einen Brief, den Nees, der zum vollkommenen Selbstgefühl zurückgekehrt war, großsprecherisch vorschlug, der neuen Tante beizufügen, anzunehmen, und suchte die gemeine Gespreiztheit des rohen Menschen durch einige demüthigende Bemerkungen zurückzudrängen.

Nach einiger Zeit erhielt der Herr von Marseeven folgende Antwort von der Gräfin Urica:

»Großmögender Herr!
Lieber und getreuer Vetter!

Ich war darauf gefaßt, daß die Verwickelungen nicht beendet sein würden, wenn sich Personen mit dem Anspruch auf meine Verwandtschaft meldeten, und dies machte, daß mich eure unwillkommenen Mittheilungen gefaßt und bei klarer Besonnenheit fanden.

Ich habe kaum Lust, die Pläne aufzudecken, die ein elender Wucherer, ein gemeiner Geldmäkler entworfen hat, um wahrscheinlich meine Kasse durch seine Bethörungen plündern zu wollen, müßte mir nicht billig der Verdacht kommen, dieser Mensch könne zu den Beweisen, die er zu besitzen scheint, auf dem Wege des Raubes – ja! noch des Mehreren gelangt sein! Auffallend ist es mir, daß ich, die Frau, von deren Geschäftsunkunde viel Spöttereien verbreitet sind, auf diesen Gedanken kommen mußte, welcher – scheint es – dem Herrn Schöffen Cornelius Hooft und selbst Euer Hochmögenden Gnaden, meinem lieben Vetter von Maarseeven, entgangen zu sein scheint.

Ihr hättet, dünkt mich, damit anfangen müssen, den Mäkler van der Nees einstecken zu lassen, um ihm und seinen Weibern die Geständnisse abzufordern, die den Betrug aufgedeckt hätten, ich würde dann nicht nöthig gehabt haben, selbst davon Kenntniß zu nehmen. Seid ihr sicher, daß diese Betrüger meine etwas strengere Rechenschaft abwarten werden, so seid wenigstens so vorsichtig, Documente und Juwelen in Beschlag zu nehmen, denn daß diese ächt sind, leidet viel weniger Zweifel, und die Stelle, wo sie gefunden wurden, muß allerdings bei einer sorgfältigen Beachtung der Anfangspunct der Nachforschungen sein.

Ihr werdet wirklich nur wieder gut machen, was ihr mit dem mir verursachten Schreck verschuldet habt, wenn ihr mir diese gemeinen Weiber vom Halse haltet und ihnen sagt, daß es nicht so leicht sei, eine Casambort vorzustellen, die durch alle Generationen hindurch sich mit dem unverlöschbaren Stempel ihres hohen Ranges und Charakters bezeichnet fanden.

Ich umarme zärtlich meine edle schöne Muhme von Marseeven, und bedauere, daß ich ihr Anerbieten, ihr Gast in Amsterdam zu sein, ablehnen muß.

Seine Hoheit, der Prinz Statthalter, hat mich zur Gesellschaftsdame Ihrer Majestät, der Königin von England ernannt, in deren Gefolge ich verbleiben muß, wenn sie eure erhabene Stadt besucht. Die heute empfangene Deputation mit der schönen höflichen Einladung für die Prinzessin Braut und deren erhabene Mutter, hat aber verlauten lassen, daß der Fürstenhof zum Empfang sämmtlicher hohen Herrschaften und deren Gefolge sich eingerichtet finden werde, und ich weiß, daß dieser groß genug ist, den ganzen Haag aufzunehmen.

Schelten aber muß ich, daß meine liebe allzuweiche Muhme sich bei ihrer zarten Gesundheit hat hinreißen lassen, den Betrügern, welche meine Verwandtschaft begehren, ein geneigtes Ohr zu leihen, und sich selbst hat erschüttern lassen, von dem Geschwätz der gemeinen Frau.

Wir, mein hochmögender Herr und Vetter, bringen jetzt eine feste Gesundheit mit, und sind nicht geneigt, uns leicht erschüttern zu lassen, wir denken den guten Cornelius Hooft noch etwas zu necken dafür, daß er so leicht sich seinen poetischen Phantasien überließ.

Gott zum Gruß, mein edler und lieber Vetter, und auf ein freudiges Wiedersehen, wie ich hoffe!

Eure getreue Muhme

Urica, Gräfin von Casambort.«

Der Oberschulze, Herr von Marseeven, brach in ein unaufhaltsames Lachen aus, nachdem er den Brief seiner lieben getreuen Muhme gelesen hatte, und nachdem er denselben Herrn Cornelius mitgetheilt hatte, begab er sich zu Flavia, und las ihr den Bescheid der Muhme Urica selbst vor.

Solch' sicheres Verfahren, und selbst ihrem hochgestellten Gemahl gegenüber, konnte nicht anders, als den Tadel der sanften Frau Flavia erfahren, aber sie theilte dennoch zu viele Empfindungen der gekränkten Urica, als daß sie nicht auch Einiges zu ihrer Entschuldigung versucht hätte.

»Meine theure Flavia,« sagte ihr Gemahl – »glaube mir, weder ich noch Freund Hooft zürnen ihr, denn wir haben den ersten Anlauf nicht anders erwartet. Daß sie uns den Text liest und unsere Geschäftsumsicht in Zweifel zieht, hat mir ein unbeschreiblich wohlthuendes Lachen bewirkt, und daß Juwelen und Documente bereits hier sind, hatte ich in der That vergessen zu erwähnen, darin ist also ihre Rüge sogar begründet. Aber nach diesem Briefe, in welchem sie nicht einmal die Möglichkeit zugestehn will, daß solche gemeine Verhältnisse ihr nah kommen könnten, sehe ich die großen Kämpfe voraus, denen sie hingegeben sein wird, wenn sie sich überzeugen muß, daß der Anspruch gegründet ist.«

»O, dann zweifle ich nicht an Urica's Herzen,« sagte Frau Flavia schnell – »denn wir wissen, wie gut und edel und stark sie ist, und wie sehr ihre große männliche Selbstständigkeit durch die Verhältnisse verschuldet ist, in denen sie gelebt hat.«

»Meine Freundin!« sagte Herr von Marseeven – »dies wird ihr eine neue Erfahrung sein. Ein gutes Herz, was ich im Allgemeinen deiner Cousine nicht absprechen will, bekommt durch lange und große Verwöhnungen des Glücks nicht allein Schattenseiten, sondern völlig ungekannte, unbebauteTheile. Vielfache Prüfungen ergründen erst, wie weit die Güte reicht, womit wir diese Eigenschaft oft sehr allgemein bezeichnen. – Güte ist die schnelle Gerechtigkeit des Gefühls, die ungehindert von eigensüchtiger Verhärtung, den Anforderungen desselben zu entsprechen trachtet. Diese Fähigkeit des Herzens wird selbst da immer siegreich wieder hervortreten, wo die Vorurtheile der Zeit und des Standes die reine Anschauung von Recht und Unrecht trüben; das gute Herz ist der Hausaltar des Menschen – er empfängt von seinem Segen das Beste, er opfert ihm die Dämonen der Außenwelt. Aber, meine theure Flavia – was bauen die Menschen nicht früher, als diesen Hausaltar? Erstlich glauben die Meisten, weil sie einige Schwächen haben, von denen sie bei bequemen Gelegenheiten gerührt werden, das käme von dem, was man ein gutes Herz nennt – dann sagen sie weiter, man müsse den Verstand über dem Herzen Wache halten lassen, und dieser hat ein so verengtes kleines Ding zu bewachen, daß er natürlich aus einem Wächter ein Herrscher wird – unter seiner Herrschaft mehrt sich die Begierde zur Befriedigung böser Gelüste, und sie halten den arglistigen Rath, den sie von da her erhalten, noch immer für die nöthige Lebensklugheit, ohne die man in schweren Verhältnissen nicht fortkommen könne.«

»Du stellst ein trauriges Bild auf, mein Lieber,« sagte Flavia – »und ich bedaure besonders, daß deine ausgedehnten Erfahrungen dich dahin geführt haben, dies für wahr zu halten. Ach! ich kann nicht ohne Schmerz denken, daß es Viele geben sollte, die in so ausgesponnener Täuschung befangen sind.«

»Ja,« fuhr Herr von Marseeven fort – »und was haben sie aufgeopfert! Sie sind in einem Netz von Widersprüchen gefangen, worin sie bald hier bald dort festsitzen – ihr Leben ist ein Leben des weitausgesponnensten Selbstbetrugs, und weil sie möchten, daß ihre Existenz Freiheit wäre, der Preis der Selbstständigkeit, die sie so hoch halten, erkennen sie nicht, daß sie Sclaven der zusammengesetztesten Berechnungen sind, in denen sie sich alle Augenblicke selbst verwirren; denn es ist eine ewige Gerechtigkeit, daß die Schlauheit sich selbst Alles fertig machen muß, die Wahrheit Alles fertig findet, was sie braucht.«

»O, mein Lieber,« sagte Flavia, nachdem Beide einen Augenblick geschwiegen hatten – »sage mir nur das Eine, ob Du auch nicht alles eben Gesagte auf unsere arme Muhme Urica anwendest? Du sahst sie zuletzt nach ihrer Rückkehr aus Italien – wie erschien sie dir da – und wie weit hat sie damals deine Befürchtungen über ihren Charakter aufgeregt?«

»Deine Cousine gehört zu den sehr auffallenden bedeutenden Erscheinungen, sowohl äußerlich als geistig. Wir müssen uns hüten, namentlich über solche Frauen schnell ein festes Urtheil haben zu wollen; ihr Vorzug ist grade, daß sie nicht leicht zu ergründen sind – die Widersprüche selbst, die uns entgegentreten, deuten oft blos die Bewegung an, in welcher noch all' ihre Eigenschaften sind, denn der höher begabte Mensch wird schwerer mit der Ausgleichung seines Innern fertig, als der Geringere. Sie ist so auffallend schön, daß sie an die durch Titian unsterblich gewordenen venetianischen Schönheiten erinnert – sie hat einen raschen Verstand, und ich glaube, einen unbeugsamen Sinn. Man sagt, die Liebe habe ihr noch nichts angehabt, und doch ist sie einige zwanzig Jahr! Ihre Gesundheit ist in Italien ganz hergestellt und sie weiß ihren Reichthum ins Licht zu stellen.«

»Du findest, daß dies ein sehr oberflächliches Bild ist,« fuhr Herr von Marseeven lächelnd fort, da seine Gemahlin ihn noch immer horchend ansah – »und ich will noch hinzufügen, daß sie sich am Hofe des Statthalters wie eine selbstständige Prinzessin beträgt, und daß ihr doch diese Verhältnisse lästig sind, und sie Pläne macht, ihren Wohnort zu verändern, wobei doch die nahliegende Idee einer Vermählung ihr ganz fremd zu sein scheint. Sie soll wohlthätig, großmüthig, gegen ihre Freunde der größten Opfer fähig sein – und sie hat einen ernsten, würdigen Hausstand rechtlicher Dienerschaft, die ihr Alle auf Leben und Tod ergeben sind. In ihrem Hause wohnt eine Witwe – eine Ehrendame für sie – eine arme aber vornehme Gräfin Comenes – sie soll ihr verwandt sein – man sieht Urica nie ohne diese ernste, steife Dame, die auch Einladungen in dem Hause der Gräfin macht, und alle Nuancen des Anstandes so weg hat, daß deine Muhme in dem vollständigsten Rufe einer höchst tugendhaften Dame steht.«

»Dies sind die äußeren Umrisse – wenn du sie hier sehen wirst, dann wirst du mit weiblichem Tact auch bald dem Inhalt näher rücken, und ich werde von dir hinterher erfahren, wie hoch wir die begabte Muhme zu stellen haben.«

»Ach,« sagte Flavia – »zu solchen Frauen passe ich schlecht; sie wissen noch weniger, was sie mit mir anfangen sollen, als ich mit ihnen, und genieße ich einmal das Vertrauen solcher hochfahrender Geister, dann kann ich wohl fühlen, sie wollen bloß in dem Augenblick ihre eignen stachelnden Gedanken und Gefühle los sein und halten mich unbedeutend genug, daß ich wie ein leeres Gefäß bloß still empfangen werde, was sie auszuschütten trachten.«

»Und,« sagte ihr Gatte lächelnd, indem er sich ein wenig herausfordernd zu ihr niederbog – »meine Flavia rächt sich im Geheim durch die Feinheit ihrer Beobachtungen und Schlüsse und ist eine größere Menschenkennerin, als diese hochmüthigen Damen ahnten.«

Flavia erröthete vor Vergnügen im Gefühl, daß das feine Lob ihres Gemahls sie richtig traf, und daß sie sich seiner Anerkennung damit gesichert fühlen durfte. »Du bist immer bereit, mein Lieber, meine Schwächen zum Guten auszulegen, und ich könnte mich zuweilen über mich täuschen, wenn ich nach deiner, Anerkennung schließen wollte; aber es ist genug, daß ich dir zur Seite lebe – dies höchste Glück hat mich darum gerade stets demüthig erhalten und ich beneide diese starken, nach Freiheit und Selbstständigkeit strebenden Frauen nicht um ihr unnatürliches Glück – das Höchste ist doch, zu dem Manne, dem wir angehören, mit zärtlicher Ehrfurcht aufblicken zu können und uns seiner benöthigt zu fühlen zur Ausgleichung unserer schwächeren verletzlicheren Natur.«

»Das ist ächt weiblich! und das Gefühl in euch, was uns zu unserer vollen Würde verhilft, was wir euch so innig danken, und was die Zärtlichkeit in uns erweckt, die wahres Zartgefühl ist. – Aber laß mich dir gestehen, daß ich eigentlich glaube, ihr Frauen würdet selten von diesem Wege, der euch zur edelsten Hingebung führt, abweichen, wenn wir euch häufiger die Sicherheit des Vertrauens einzuflößen wüßten, die doch natürlich eurer Unterwerfung vorangehen muß. Die meisten Männer zwingen ihre Frauen dazu, ihr eigener Schutz zu werden, da sie sie vernachläßigen, und ihre Stellung roh herabwürdigen. Trifft ein solches Schicksal nun ein edles Weib, das mit dem Bewußtsein ihrer Würde eine klare Verstandesanschauung verbindet, und die Mißgriffe sich nicht abzuleugnen vermag, die der thut, dem sie dem Naturrecht nach gehorchen soll, so ruft das gegen ihren Willen die stärkeren Kräfte in ihr auf, und sie wird dann selbstständig, eigenmächtig – und wir sehen endlich die Fehler der Herrschsucht, die uns bei Frauen so widerwärtig berühren. Ich glaube fest, jede Frau – die kräftigste, die befähigtste, trägt die Sehnsucht in sich, dem Manne sich anzuschließen, ihn über sich zu erkennen – und fände sie nur ihren Meister, sie wäre weiblich und dann glücklich!«

»O, mein Lieber!« sagte Flavia – »wie großmüthig wendest du deine Menschenkenntniß für die Vertheidigung meines Geschlechtes an – und wie giebst du damit meinen Erfahrungen und Ueberzeugungen Worte! Verzeih mir nun, wenn ich hinzufüge, daß ich ausgezeichnete Befähigung des Geistes für unser Geschlecht kaum für ein Glück ansehen kann, und glaube nicht, daß es allein meine eigene Beschränkung ist, welche mich wünschen ließ, Frauen möchten überall nur einen kleinen Gesichtskreis haben.«

»Du gute Flavia!« erwiderte ihr Gemahl lächelnd – »mit diesem Wunsch, den dir gewiß dieselben traurigen Erfahrungen abgenöthigt haben, machst du meinem Geschlecht einen größern Vorwurf, als ich selbst. Du fühlst, es ist nur in Behauptung seiner Würde zu retten, wenn Dein Geschlecht unfähig ist, es in Wahrheit zu beurtheilen.«

»O nein! o nein!« sagte Flavia erschrocken – »ich glaube nicht, daß ich das sagen wollte, wozu ich so wenig Recht hätte, da ich so viel ausgezeichnete Männer kenne.«

»Erstlich dürfen wir wirklich diesen Trost festhalten, daß es noch Viele meines Geschlechts giebt, welche der beglückende Meister selbst hochbefähigter Frauen werden können – und dann, meine theure Flavia, will ich als Mensch, der Gesammtentwicklung des ganzen Menschengeschlechts gegenüber, doch lieber, daß euch dieser Antheil des Leidens und des Kampfes, um eurer höheren Befähigung willen, zufällt, als daß ihr in eine unwirksame Sphäre zurückgedrängt, euren Antheil an dem Fortschritt der Gesammtentwicklung der Welt schuldig bliebet. Laß uns gestehn, daß es der ideale Begriff der menschlichen Gesellschaft ist, daß das Weib in der vollsten Befähigung ihrer Natur geschirmt und gestützt wird von der höheren, das äußere Leben beherrschenden Kraft des Mannes. Es ist schön, daß dies ein feststehender Begriff ist, der sich den vortrefflichsten Bestimmungen der Religion und Moral gleichstellt, und zu dem wir, als zu einem ewigen Gedanken, immer wieder zurückkehren können, wenn wir von dem, was das wirkliche Leben nun daraus macht, verwirrt werden, und von dem Wenigen überrascht, was davon übrig bleibt.«

»Aber wir müssen uns nicht in Mißmuth dabei verlieren – wo bleibt von Idealen überall viel mehr übrig als der Triumph, daß sie aus dem menschlichen Geist entsprangen, daß sie uns ein lockendes Ziel bleiben, daß sie feige Selbstzufriedenheit von geringen Erfolgen abhalten? – Ein Anderes tritt nun ein – die Gegenseitigkeit der Aushülfe, das schöne Ergänzen der Eigenschaften, das Uebertragen der Mängel – es ist vielleicht ein männlicher Gedanke, Flavia, aber es ist auch ein Trost für euch. Es kommt viel mehr auf den Gesammtfortschritt der Menschheit an, als auf das näher bestimmte Verhältniß der Geschlechter zu einander. Daraus kommt denn das, was du meine Toleranz nennst – ich sehe ohne Kritik zu, wenn nur geschaffen, geleistet wird, wenn auch nicht Jeder auf dem eignen Felde arbeitet, oder vielmehr die Arbeit des Andern mit übernimmt und man ein ästhetisches Unbehagen fühlt, daß kleine Hände nach großen Lasten fassen.«

»Nun wieder auf deine Cousine zurück zu kommen. Sie wird nicht umsonst leben – sie wird sich auch durcharbeiten – und wird eine ehrenwerthe Erscheinung bleiben, wenn der Wust ihrer Capricen, Selbstbetrügereien und ihres tief eingeprägten Egoismus sie auch nie ganz verlassen wird.«

»O mein Lieber! auch für egoistisch hältst du die arme Muhme?«

»Mein gutes Kind,« lachte ihr Gatte – »das ist der alte Feind, der Jedem auf dem Nacken sitzt – aber ich halte ihn für den bösesten, für den, den wir am schwersten los werden, weil er uns mit tausend Listen und Ränken für unsere Lieblingsfehler warm erhält und ein teuflisches Kunststückchen mit uns macht, was ihm fast immer gelingt – daß grade, wenn wir recht vollständig in jeder Handlung, in jedem Gefühl diesem Fehler unterliegen, wir uns am sichersten rühmen, frei von ihm zu sein, die Wirkungen nur an Andern erkennen und für dieselben Erscheinungen in uns mit höchstem Scharfsinn andere Namen erfinden.«

»Diese Ansicht kannte ich schon in dir,« sagte Flavia – »und sie hat mich recht ängstlich wachsam gemacht.«

»O meine theure Flavia!« rief Herr von Marseeven gerührt – »ein Weib, was Mutter ward – ist nur in halber Gefahr, dieser Plage zu unterliegen. Dies göttliche Gefühl der menschlichen Brust macht den Born der Liebe nach außen rinnen und verwischt das Suchen nach dem eignen Wohlbestehen in dieser reinen Hingebung. Aber es ist öfter, als es bei der ersten Ansicht scheint, daß die wärmsten und schönsten weiblichen Herzen ohne diese Heiligung über die Erde gehen müssen, und sie retten sich dann in eigne Wünsche, von denen sie Ersatz hoffen für versagtes Glück, und sie bleiben nie ohne Egoismus, und sie werden ihn selten los und werden nur zu oft durch ihre Umgebungen immer mehr darin befestigt, denn es bilden sich leicht starre Verhältnisse, wo die natürlichen nicht zu ihrem Recht kamen.«

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