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Die Revolte der deutschen Frauen

Vieles hat sich in Deutschland in den letzten zehn Jahren geändert, aber mehr noch ist ungeachtet neuer Gewänder im Kern dasselbe geblieben. Die Politiker sind nicht viel gescheiter, als sie es vorher waren. Die Geschäftsleute haben eine etwas freiere Gesinnung und fühlen sich verletzt, wenn sie jemand, seis auch nur im Scherz, der Respektabilität bezichtigt. Sie nehmen eine Pose gepflegter und lockerer Geschäftsmoral an. Sie halten das für international und, verzeihen Sie mir diesen Ausdruck, für: amerikanisch. Aber hinter dieser frivolen Attitüde erhascht man gelegentlich den flüchtigen Anblick eines richtigen altmodischen deutschen Eselsohrs. Dies alles ist nicht neu. Sogar die hohen Militärs sind noch genauso, wie sie einmal waren, und wenn sie nicht so geschwächt wären, würden sie die alten Dummheiten wiederholen. Das Einzige, das sich in Deutschland grundlegend geändert hat, ist die deutsche Frau.

Ich bin mir bewußt, daß eine gewisse Übertreibung in einem derart pauschalen Urteil liegt. Ich weiß, daß es eine breite Schicht der Arbeiterklasse gibt, eine Art von niederer Menschheit, deren Lebensbedingungen sich seit Pharaos Zeiten nicht geändert haben. Dort ist die Frau das traditionelle Lasttier für Männer und Kinder; Weiblichkeit stirbt auf dem endlosen Marsch vom Herd zum Waschtrog. Und ich leugne nicht, daß es in der Bourgeoisie einen Typus gibt, der seine Moral, Vorurteile und Kleider unverändert aus einem untergegangenen Zeitalter bewahrt hat, der das Haar so trägt wie die Kronprinzessin im Jahr 1905, als ein altmodisches Kennzeichen gegen die Verrücktheit der Gegenwart; oder der es zu einem dünnen Nackenknoten bindet als Ausdruck des Protestes der deutschen Gesinnung gegen jene Kräfte, die uns nicht nur den Kaiser weggenommen haben, sondern auch das Heiligtum der Ehe und den sakralen Glanz der Jungfräulichkeit. Demgegenüber denke ich an die riesige Armee der Frauen, die durch den modernen Fortschritt in das industrielle Dasein gezwungen worden sind, die in jedem denkbaren Beruf arbeiten und sogar neue Berufe für sich selbst kreiert haben. Sie prägen das Bild der großen Städte. Sie bestimmen unser außerhäusliches Leben überall in der Industrie, im Geschäftsleben und in der Produktion. Die unabhängige, arbeitende Frau ist heute Repräsentantin ihres Geschlechts in Deutschland, nicht die Frau, deren Aktivität auf den häuslichen Kreis beschränkt ist.

Berliner Reporter sind immer glücklich, wenn ausländische Persönlichkeiten ihnen sagen, daß Berliner Frauen die schicksten und elegantesten sind, die sie auf ihren Reisen gesehen haben. Ich nehme das nicht sehr ernst und bin überzeugt, daß die Herren denselben Kommentar in San Luis Potosi (Mexiko – d. Übers.) oder in Wladiwostok abgeben würden. Aber ich möchte doch hervorheben, daß die berliner Straßen nie charmanter sind als nachmittags zwischen 5 und 8 Uhr, wenn die Frauen von der Arbeit nach Hause kommen. Da ist ein Hauch von Gelassenheit, von Freiheit in diesen Armeen von Frauen, von denen einige nicht zur Ruhe oder zum Vergnügen nach Hause gehen, sondern zu weiterer Arbeit und häuslichen Pflichten, wobei fast alle mit finanziellen Sorgen überlastet sind. In einer vergangenen Zeit strahlten die Straßen am hellsten in den Flanierstunden, zur Einkaufszeit, während die Damen der gesitteten Mittelklasse ihre Kleider zur Schau trugen, während ihre Töchter mit ihren Verlobten und die waghalsig-provozierenden Ehefrauen mit ihren Hausfreunden promenierten. Aber das ist alles vergangen.

Der heutige Typus der deutschen Frau ist genau der gleiche wie überall in der Welt – kurzes Haar, kurze Röcke, fleischfarbene Strümpfe. Die aktuellen Richtlinien der Mode werden streng befolgt; Gymnastik bestimmt die Figur, Firma Coty das Parfüm und die Farbe. Die Kleidungsstücke, die gewöhnlich nicht sichtbar sind, sind das Herrschaftsreich der neuen Seidenindustrie in Deutschland. Es ist das Gleiche wie überall: Egalisierung, Standardisierung. Klassenunterschiede werden getilgt. Kastencharakteristika verschwinden.

Vielleicht war die Veränderung in Deutschland schärfer und gewaltiger als anderswo. Der Krieg holte die Frauen aus ihren behüteten Heimen und bürdete ihnen eine Last von Verantwortlichkeiten auf. Die Revolution verlieh ihnen die bürgerlichen Rechte, um die sie niemals eine Massenschlacht ausgefochten hatten. Die Hohepriesterinnen der Frauenrechtsbewegung hatten nie besonders kräftige Stimmen. Der Kampf der einzelnen Frau, die sich der Enge ihres bürgerlichen Daseins bewußt geworden war, richtete sich stets eher auf die soziale und menschliche, denn auf die politische Emanzipation. Sie kämpfte um Selbstbestimmung gegen die Dominanz ihrer Familie, für das Recht, ein Auskommen im Leben zu erwerben oder zu verspielen; kurzum, sie kämpfte darum, den Ehemann selbst auszuwählen oder ihr Leben mit dem Mann ihrer Wahl ohne Trauschein zu teilen. Dies ist das klassische Thema der Emanzipationsliteratur seit George Sand. 1914 stand es um die Sache der Frauenemanzipation in Deutschland noch hoffnungslos schlecht. Die Frauen und Mädchen, die sich mit diesen Ideen verheirateten, wurden entweder als Gesetzesbrecherinnen oder als Geisteskranke betrachtet. Zehn Jahre später war der Kampf auf ganzer Linie gewonnen, und heute würde sich jedermann lächerlich machen, der das Recht der Frau auf soziale und erotische Selbständigkeit in Frage stellen wollte. Die Freiheit hat gesiegt.

Wie es oft geschieht, wurde die Schlacht eher zufällig gewonnen – ohne gezielten Kampf oder ein Programm. Keine der alten Apostel der Frauenrechtsbewegung hätte einen so verschlafen-benommenen Siegeszug ihrer Ideale erträumt. Der große Zauberer, der diesen Wechsel vollbrachte, war die Inflation. Die Inflation enteignete die alte Bourgeoisie, die von ihrem Vermögen gelebt hatte, radikaler als irgend ein deutscher Lenin es hätte tun können. Der Krieg zerstörte die konventionelle Sexualmoral, und die Liebe kam zum Vorschein – der importierten Romantik entkleidet als zwingende physische Notwendigkeit. Die öffentliche Liquidation geschah im Winter 1919, als die Männer aus dem Krieg zurückkehrten; in Berlin und später in allen großen Städten kam sie in der Form von Kostümbällen an, in denen all das Begehren einer lange unterdrückten Vitalität mit orgiastischer Vehemenz ausbrach. In jenem Winter wurde die alte Moral von Konfettischlangen unter Begleitung von Geigen und Klarinetten erdrosselt. Die neuen Prinzipien waren einfach genug: wir wollen leben, und das Leben ist kurz ... Dann kamen die drei Jahre der Inflation, in denen das Geld seinen Wert verlor. Die Armut stieß mitten ins Herz der Gesellschaft, statt hier und da Scharmützel am oberen und unteren Rand der Gesellschaft auszufechten, sie enteignete die Schicht, die seit einem Jahrhundert der Träger der deutschen Zivilisation gewesen war und ihre ethischen Normen zu Gesetzen kristallisiert hatte. Vermögen zerbarsten zwischen Morgen und Abend. Eigentum, das durch Generationen gehegt und vermehrt worden war, verwandelte sich in nichts mehr als Handvolls von Banknoten, die auf einen Anruf von der Börse hin zu einer Sache von Pfennigswert verfielen. Dann marschierte eine neue, erbärmliche Armee von Parvenüs auf diesem Ruin wie in eine eroberte Stadt und zog die Frauen aus den eroberten Häusern wie Marketenderinnen mit sich. Es gab einen nie dagewesenen Ausverkauf der gesammelten Moralvorstellungen eines Jahrhunderts. Gute, stabil verheiratete Frauen, die die Last tragen mußten, ihre Familie am Leben zu halten, verkauften sich für bare Münze, und ihre Ehemänner schauten weg, sofern sie nicht selbst das Management dieses Geschäftes übernahmen. Wohlbehütete Mädchen, in deren Gegenwart niemals ein unziemliches Wort gesprochen worden war, verkauften sich; ihre Eltern schwiegen, sofern sie nicht zu Kupplern wurden. Die Sexualmoral fällt nicht vom Äther herab auf uns nieder, sondern ist sehr elementarer an die allgemeinen ökonomischen Bedingungen gebunden. Das Jahr 1923 war jenen eine eindrucksvolle Lehre, welche die Moralität von einem angeborenen Instinkt für das Gute und Schöne herleiten wollen.

Heute sind wir in eine Periode der Ruhe zurückgekehrt. Das Bacchanal erreichte sein Ende, und die Mänaden suchten nach Arbeit, und wenn sie welche gefunden hatten, schien es, als ob sie sie immer schon gehabt hätten. Die Manier von Selbstverständlichkeit, mit der sie ins Fegefeuer gingen und wieder herauskamen, ist vielleicht das wichtigste Merkmal jener Jahre. Keine Emotion, kein Pathos. Viele sanken hinab in das verlorene Heer der Straßenprostitution, das in Deutschland wie anderswo sich in Krisenzeiten aus den Arbeitslosen rekrutierte. Heute hat sich der neue Status etabliert. Frauen sind ein inniger Bestandteil des industriellen Lebens und selbst jene, die es nicht nötig hätten, suchen sich einen Beruf. Das gute, nichtstuende Heimchen, das herumgeführt wurde von der heiligen Allianz der Tanten und Verwandten und auf einen Ehemann nach Wahl ihrer Eltern warten mußte, ist gänzlich verschwunden. Die Zahl der Ehefrauen, die so von ihren Ehemännern abhängig sind, daß sie deren üble Launen aushalten müssen, ist deutlich zurückgegangen. Einen außerordentlich, großen Zuwachs gab es bei der Zahl der freien Verbindungen, die ohne große äußerliche Schwierigkeiten gelöst werden können. Der Trend zu erotischer Selbstbestimmung hat bei den Frauen den Sieg davongetragen; und somit ist ein neues Element in die Gesellschaft gekommen, das nicht mit traditionellen Ausdrücken beschrieben werden kann. Die Formen der neuen weiblichen Gesellschaft sind noch unbestimmt. Dies wenigstens ist sicher: die Frauen entwickeln sich beständig in Richtung auf eine neue Klasse, die durch die Möglichkeiten ihres Geschlechts prädestiniert wird. Sie haben ein gemeinsames Merkmal: sie haben den Zusammenhalt der alten Klassen gebrochen. Die Ex-Aristokratin ist vom bürgerlichen Leben angezogen, und die Tochter eines einfachen Arbeiters strebt als Verkäuferin oder Stenographin demselben Ziel entgegen. Das Mittelklasse-Mädchen wirft sich in Kunst und Literatur, vergrößert die Einwohnerschaft der Boheme, und popularisiert die Ideen ihrer Freunde.

Es würde zu lange dauern, auf die Tragödien und Komödien dieser noch unterentwickelten Bewegung einzugehen. Aber ich darf ein paar Worte über die Männer hinzufügen, die letzten Endes nicht ganz unbeteiligt sind. Sie haben ein gewisses Adaptionstalent gezeigt, aber bestimmte, früher gängige Typen haben eine ziemlich umfassende Niederlage erlitten: der Philister und der Don Juan. Der erste hat seinen Marktwert verloren. Seine Tugenden scheinen nicht mehr beeindruckend und seine häusliche Beharrlichkeit widerspricht dem Begehren nach Weite und Tempo. Und was bleibt für Don Juan übrig? Seine schmelzenden Augen scheinen lächerlich, weil sie sich nicht mehr auf Frauen richten, die nie aufschauen, ohne zu erröten. Der Lady-Killer kann keine Subjekte mehr finden, an denen er arbeiten könnte. Wenn Frauen frei über intime Themen reden, offen den Spaß an der Liebe betonen, und sie nicht mehr überlasten mit dem schlechten Gewissen und der dunklen Problematik aus Ibsens Zeiten – was bleibt für den Verführer? Armer Don Juan! Selbstbestimmung und Selbstkontrolle; Freiheit, aber Verzicht auf ferne und nebulöse Utopien – das ist das ungeschriebene, aber tief empfundene Programm unserer Frauen von heute. Als ein Postskriptum möchte ich ein Dokument hinzufügen, das einst auf meinem Redaktionstisch landete und das zeigt, wie eine kluge Frau, die viel Geist und wenig Geld hat, der Realität entgegensieht:

 

»Die ärgerliche Last mit den modernen Männern sind ihre Neurosen. Lerne ihre Sorgen verstehen und gaukle vor ihren Augen mit einem Paradies von möglichen Fluchtmethoden. Wenn du selbst schwach bist, wende dich um Himmels Willen nicht an deinen Geliebten sondern geh zu einem schlauen Nervenspezialisten; er wird dich beraten, wie man mit neurotischen Männern auskommt. Laß dich nicht mit Männern ein, die dich dominieren. Sexuelle Fügsamkeit mag eine kurze und stürmische Lust erzeugen, aber du wirst sie auf Kosten deiner eigenen Persönlichkeit erkaufen. Betrüge dich niemals mit dem Traum vom hundertprozentigen Glück. Das ist eine strafbare Spekulation. Gib dich derweilen mit 20 bis 50%-Fällen zufrieden; am Ende werden sie sich zu einer stattlichen Summe addieren, und die Zeit ist kurz. Und denke immer daran, daß es seliger ist zu geben als zu nehmen! Amen.«

Amen.

The Nation, 7. November 1928


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