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Der Kieler Parteitag

Am Rande der Stadt, wo auf kümmerlichem Grün die kleinen Leute ihre Sommerhäuschen errichtet haben, sieht man ein rotes Fähnchen nach dem andern. Das Fahnentuch sagt nicht aus, ob Kommunist oder Sozialdemokrat; Rot ist die Farbe Beider. Und wollte man in die Lauben gehen und mit den Leuten reden, man würde das Gleiche hören: Klagen über schlechte Zeiten, Hungerlöhne, Unternehmerwillkür, – über Ohnmacht der Partei und schwache Führung.

Die gleichen Klagen überall. Denn überall die gleichen politischen und sozialen Tatsachen. Man muß in die Zeitungen sehen, die auf dem Tisch herumliegen, um zu wissen, welche Partei gemeint ist.

Ja, man muß in die Zeitungen sehen, um zu wissen, welche Partei gemeint ist.

 

Sozialistenkongreß in Kiel. Gerüchte, von bürgerlichen Blättern in großen Überschriften festgehalten, flatterten vorauf: Große Auseinandersetzung zwischen Parteileitung und Opposition bevorstehend. Oder: Absage an den Koalitionsgedanken? Oder: Wird die Sozialdemokratie wieder reine Agitationspartei? Schon der Auftakt belehrte, daß Fama wieder zu eifrig gewesen war. Was sich in Kiel entwickelte, war nicht eine Geistesschlacht oder auch nur ein grimmiges Gerauf zwischen rechter und linker Seite, sondern die obligate Reichsbanner-Festivität mit Musik, Tombola und Republikrettung. Warum fehlen hier Ludwig Haas und Josef Wirth? Warum darf zwischen Otto Braun und Friedrich Stampfer nicht Erich Koch sprechen, um den radikalen Charakter der Assemblée sichtbarer zu machen? Die Berichterstatter der bürgerlichen Blätter wissen bald, was los ist; immer magerer werden die Telegramme, schon vom zweiten Tag an muß man in den tiefsten Kamin der verstecktesten Beilage hinabsteigen, um zu erfahren, daß Die in Kiel noch immer beisammen sind. Welch ein aufregendes Ereignis waren nicht früher die sozialdemokratischen Parteitage. Über viele Spalten zogen sich die Berichte hin. »Rededuell Bebel-Vollmar« – »Kautsky gegen David« – »Ledebour gegen die Revisionisten«. Wer hat nicht noch solche Überschriften in Erinnerung, die immer wie Alarmrufe durch die Behäbigkeit der wilhelminischen Ära schrillten? Heute ist der Jahreskongreß der größten Partei eine Begebenheit untergeordneten Grades. Über den preußischen Zentrumstag kürzlich wurde eingehender berichtet; selbst über den Parteitag der Kommunisten. In dieser drittrangigen Behandlung liegt ein tiefes Verstehen. Denn was besagen Reden und Beschlüsse, etwaige Plattformen zur Herstellung der reinen Lehre, Absagen an diese oder jene Koalition? Schließlich macht der Sanhedrin in der Linden-Straße doch, was er will. Aufsässigkeit mehr linksgestimmter Gruppen? Für diese Eventualität ist Hörsings Hauptquartier da, das Gestellungsbefehle versendet; die Malcontenten werden an die Reichsbannerfront geschickt, Windjacke und Gleichschritt verwischen Gesinnungsdifferenzen; zwischen den Schlachten bimsen die Magdeburger Unterrichtsoffiziere mißvergnügte Rekruten auch politisch. Wie im Kriege ist die Führung anfechtbar, aber der Apparat ausgezeichnet.

Die Gedanken fliegen um fast zwei Jahrzehnte zurück. Ein großer verräucherter Versammlungssaal. Viel tausend Menschen dicht zusammengedrängt. Arbeiter, Arbeiter. Es ist schon heldenhaft, hier in diesem stickigen Pferch stundenlang auszuhalten. Und plötzlich bricht ein Orkan von Begeisterung aus. An der Rampe ist ein kleines gelblich-graues Männchen erschienen, ein gebücktes, kränkliches Männchen mit mächtigem schneeweißem Haarschopf. Der Alte ist schon schwerkrank. Die Ärzte haben ihm Schonung auferlegt; er soll nach Möglichkeit nicht mehr öffentlich reden. Doch wie er zu sprechen beginnt, weicht dieser Eindruck von Hinfälligkeit. Breite ausholende Gesten, helle, jugendlich timbrierende Stimme. Kommandostimme, gewohnt, Hunderttausende in Gleichtakt zu bringen, und die mächtige weiße Tolle weht dazu wie ein Helmbusch. Aber der Alte ist mehr als ein effektsicherer Sprecher, nicht Beredsamkeit trägt ihn: er reitet auf einer Woge von Vertrauen, August Bebel, mehr als ein Abgeordneter und Parteiführer von diktatorischem Gehaben, nein, der eigentliche Erwählte des Volkes, der Präsident einer unsichtbaren deutschen Republik, der Gegenkaiser der Massen gegen Den mit der Bartbinde. Einen Volksdichter hat ihn Friedrich Naumann in einem Nachruf genannt. In der Tat, er spielt auf dem Volk wie auf einem edlen Instrument; er bringt es zum Klingen, er entlockt ihm Liebe und Haß, bittre Seufzer und sternklare Sehnsucht. Plötzlich senkt er die Stimme, sein Gesicht wird ganz böse, er schwingt den Zeigefinger wie einen Bakel: »Man hat euch das Wahlrecht verschlechtert, und ihr habt euch das gefallen lassen!« Und diese dreitausend Männer werden plötzlich zu heruntergeputzten Schulbuben: sie senken die Köpfe, sie schämen sich. Schweigen. Doch da wirft der Alte das Haupt in den Nacken, Jubel bricht fanfarenhaft aus der Stimme: »Das ist eine Scharte, die muß ausgewetzt werden, kann ausgewetzt werden! Ich habe Vertrauen zu euch, daß ihr es tut. Wenn ich wieder in eure Stadt komme, wird alles wieder in Ordnung sein – das weiß ich.« Ein einziges leidenschaftliches Ja braust auf wie ein vieltausendstimmiger Fahneneid für die heilige Sache.

Das ist lange her, und historisch betrachtet wirkt es nicht so rauschhaft wie damals als Erlebnis. Einschränkungen melden sich. Auch die Heroenzeit zeigt nachträglich ihre Schwächen. Doch die Erinnerung ist schön. Was vergangen, kehrt nicht wieder, aber ging es leuchtend nieder...

Es ist im August 1914 niedergegangen.

 

Für die Beurteilung der heutigen Sozialdemokratie muß eine Erkenntnis maßgebend sein, wenn man sich nicht in vage Spekulationen verlaufen will: diese Partei ist durch irgend welche radikalere Konkurrenz nicht zu schmeißen. Der einstige Elan ist fort, die Struktur geblieben. Ihre Leute sind unzufrieden, aber sie hat sie fest in der Hand. Sie knurren, aber sie fügen sich. Genug ist von der mystischen Aura von einst geblieben, um aktuelle Sünden vergessen zu machen. Über allen Zweifel obsiegt die Hoffnung, daß die Partei einmal wieder wird, was sie war. So behauptet sie sich nicht nur zahlenmäßig, sondern kann auch noch, wie jetzt in Mecklenburg, Fortschritte machen. Der kommunistische Anprall hat sich erschöpft, von dieser Seite droht keine Gefahr mehr. Keine zweite sozialistische Partei wird die Sozialdemokratie mehr ängstigen, nicht von außen her wird sie getrieben werden, der veränderten Zeit entsprechend neue und weiter links gelegene Positionen aufzusuchen. Sie muß den Stachel dazu in sich selber fühlen. Die Mehrzahl der organisierten Genossen sieht wohl, daß die Proprietärsphilosophie der zentralen Leitung, die gute und zweifelhafte Errungenschaften mit gleichem Eifer behütet, hierzu am ungeeignetsten ist, aber diese Mißstimmung verdichtet sich nicht zu Handlungen und verqualmt in ziellosem Ärger.

Man hatte für dies Mal beträchtliche Temperamentsausbrüche in der linken Ecke erwartet. Der Verlauf zeigt, daß es zwar oppositionell gerichtete Gruppen und Personen gibt, aber keine Opposition. In der alten Partei gewann jeder Widerstand von Rechts oder Links sofort ein Gesicht. Bernstein, David, Eisner, Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Vollmar – es wäre müßig, weiter aufzuzählen – aber welch eine Fülle von scharfen Profilen! Doch die oppositionellen Regungen von Heute bleiben eben nur Regungen, die gestaltlos herumgeistern und nicht ein tönendes Mundstück finden. Der alleräußerste aller in der Partei nur denkbaren Radikalismen wird von Kurt Rosenfeld vertreten, dem warmherzigen Advokaten und unglücklichen Debatter, der sich in der Erhitzung allemal verheddert und was Andres sagt, als er meint. Da haben es die Genossen Otto Braun und Wels leicht. Keine konkrete, keine zentrale Forderung hat der linke Flügel; niemand kommt über Bekrittelung von Einzelheiten hinaus, und die Weitestlinken versteifen sich nur auf »mehr Marxismus!« oder »mehr Klassenkampf!«, ohne zu bedenken, daß man mit so angenehm flexibel gewordenen Begriffen ebenso gut auf die Barrikade steigen wie mit Stresemann frühstücken kann. Dennoch hatte der Parteivorstand mit einem kleinen Sturm gerechnet, umsomehr als ..., nein, deshalb erschien kurz vor dem Kongreß, pünktlich wie die Grippe bei Temperatursturz, der von kundigen Thebanern lange mit Spannung erwartete Artikel des Genossen Löbe, in dem der bewährte Spezialist für proletarische Gemütstöne sich plötzlich die Kritik der Opposition zu eigen machte und Rückkehr zu den alten Grundsätzen forderte. Man kennt diesen Vorgang nun allmählich: indem Paul Löbe an die Spitze einer Opposition tritt, legalisiert er sie; der Intimus der Zentrale als Fürsprech der Opponenten macht sie hoffähig. Und still versickert die Bewegung irgendwo ... Mag dieser starre republikanisch-sozialistische Verrina noch so schrecklich dräuen: im Ernstfall wird er eher selbst ins Wasser springen als den Herzog hineinwerfen.

So bleibt der Opposition sogar versagt, eine Tür aufzustoßen, um einen frischen Luftzug ins Haus zu bringen. Es wird genörgelt, nicht Fraktur gesprochen. Tadel fällt auf den ›Vorwärts‹; niemand sagt, daß der seit langem weder mit Demokratie noch mit Sozialismus etwas zu schaffen hat, sondern das Privatvergnügen des Genossen Stampfer geworden ist, der mit wiener Süffisance über die Tadler hinwegnäselt. »Wir tragen deshalb Tatsachenangaben aus Baldwins Rede nach. Aus ihr erhellt, mit welchem frivolen Leichtsinn die Sowjetunion um ihrer Umsturzpropaganda willen ihre Beziehungen mit England aufs Spiel gesetzt hat und ihrem erklärten imperialistischen Gegner Blößen gegeben hat.« Solches ist zu lesen in dem Blatt, das laut Titelkopf Zentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands ist. Vergebens fahndet man in der ganzen deutschen Presse nach einer zweiten brüllenden Bêtise dieser Art; überall wird in Erkenntnis einer gefahrvoll dunklen Zukunft Neutralität geübt oder wenigstens versucht, die Schuldanteile der beiden streitenden Mächte gerecht abzuwägen; dem sozialdemokratischen Zentralorgan bleibt es vorbehalten, in sturer Parteiverblendung zu den Zelten der britischen Diehards zu laufen.

Solches geschieht im offiziellen Parteimoniteur, während in Kiel noch immer diskutiert wird. »Halten zu Gnaden, das ist zu stark«, sagt die Opposition. Sie rügt, sie krittelt, reicht devotest Besserungsvorschläge ein. Niemand ist da, der in spontaner Empörung den Willen von Hunderttausenden exekutiert und dem Genossen Chefredakteur sein Jammerpapier rechts und links um die Ohren schlägt.

 

Nein, diese Partei ist durch nichts zu erschüttern. Jede andre würde bei solchen Anlässen in lichterlohen Brand geraten. Selbst für Stresemanns Nationalliberale bedeuten Bündnis mit den Deutschnationalen und Konkordatsfrage ernste Erregungen. Wenn die Genossen vom Vorstand ihre Leutchen aber so fest am Band halten, daß sie jeden Schritt vom Wege mit der Drohung der Exkommunikation verfolgen, dann möchte man auch wissen: wofür diese Kraftanstrengung, auf einer Linie zu bleiben, die sich seit geraumer Zeit als bedenklich krumm erweist. Denn klar ist doch, daß diese Millionenpartei von keiner Seite die ihrer Stärke zukommende Würdigung erfährt. Sie regiert zwar in Preußen mit, muß dafür aber im Reich in mühevoller Zwiespältigkeit aushalten: sie darf Herrn v. Keudell bekämpfen, muß aber die Außenpolitik des Herrn Stresemann gegen dessen selbstgewählte Bundesbrüder retten. Schlägt sie etwa auf den Tisch, so droht nicht nur das Zentrum mit Kündigung in Preußen, sondern auch Stresemann verkündet feierlichst die Pflicht, den Geist von Locarno vor den brutalen Hufen seiner Alliierten zu schützen. Das ist keine sehr imponierende Haltung für die stärkste Partei: sie ist von der Reichsregierung ausgeschlossen, andrerseits aber mit einem Teil der Verantwortung bepackt. Die Führer haben das Prekäre dieses Zustandes wohl erkannt und streben deshalb wieder in die Reichsregierung hinein. So wäre sehr wohl Anstoß zu Debatten über Zweck und Nutzen von Koalitionen gegeben und ob sich solche mit den alten Grundsätzen vertragen, und das geschieht ja auch reichlich; aber diese Auseinandersetzungen über die Koalition bleiben akademisch, weil sich gegen früher etwas geändert hat: die Andern wollen nämlich nicht. Sehr blamabel für die stärkste Partei, aber man muß den Tatsachen ins Gesicht sehen. Das Zentrum will nicht, weil es sein Konkordat und seine Schulgesetze endlich haben will; Stresemann darf nicht, weil sonst mindestens die Hälfte seiner Partei davonläuft; die Demokraten aber werden heute schon so angesehen, wie sie nach den nächsten Wahlen höchst wahrscheinlich aussehen werden: man zählt sie nicht mehr mit. Die Unterhaltung über die Eventualitäten kommender Bündnisse mit andern Parteien ist gewiß sehr interessant, aber wozu eigentlich die Umstände? Die Möglichkeit liegt ja gar nicht vor. Doch. Und das ist sehr bedenklich. Wenn das Zentrum erst seine Herzenswünsche verwirklicht hat, kann es sehr leicht wieder seine republikanischen Ideale entdecken und, müde der Strapazen, Herrn Hergt zu domptieren, die unangenehmen Weggenossen wieder nach Hinterpommern und Olympia schicken. O, wenn das Konkordat erst unter Dach ist, wird Josef Wirths Weizen wieder blühen. Der Republikanischen Union steht noch eine große Zukunft bevor. Wenn das Zentrum nichts mehr zu wünschen übrig hat, wird es auch die vergessenen Reize von Weimar wieder entdecken. Die sozialdemokratischen Führer wehren sich gegen einen Zustand unfruchtbarer Opposition. So nennen sie es. Muß gesagt werden, daß der Begriff deutschen Ursprungs ist? Nur in Deutschland kann wohl Opposition unfruchtbar sein. Die Partei, so verkünden die Führer, darf sich nicht auf Agitation und Verneinung beschränken, sie muß wieder mitregieren. – Das ist nicht neu, und wir kennen es seit einigen Jahren als geläufige Phrase. Die Partei hat sehr oft Glück gehabt, und ganz besonders aber durch die Erkenntnis der Andern, daß man sie eigentlich gar nicht braucht. Sie wäre sonst mit verantwortlich geworden für Alles, was unter den letzten Kabinetten geschehen ist. Oder zweifelt man etwa nach allen Erfahrungen, daß sich nicht auch ein sozialdemokratischer Marx, Köhler oder Külz gefunden hätte?

Die Sozialdemokratie hat unerhörtes Glück gehabt. Wenn es nach ihren Hilferdingen gegangen wäre, läge jetzt ein beträchtlicher Schuldanteil auf ihr. Die Isolierung hat sie davor bewahrt und ihre Zugkraft für die Massen wieder wachsen lassen. Wenn sie Pech hat, wird ein breites, gesättigtes Zentrum im Herbst von neuem finden, daß ›die Arbeiterschaft wieder zur Mitverantwortung im Staat herangezogen werden müsse‹, wie die schöne offizielle Formel bekanntlich lautet. Und wenn die Partei dann Ja sagt, denn der ganze Ehrgeiz der Führer geht doch darauf, sich wieder heranziehen zu lassen – was dann? Soll die größte Partei ihr Wahrzeichen setzen auf den von der klügsten Partei geschaffenen Zustand, einen Zustand, den sie nicht mehr ändern kann? Eine ärgere Zumutung an ihr Selbstbewußtsein wäre nicht vorstellbar. Mit den Andern regieren zu dürfen, bedeutet noch gar keine Macht. Die beginnt erst da, wo eigner Wille sich gestaltend durchsetzt.

Die Zukunft der Sozialdemokratie liegt nicht in den Koalitionen, sondern in einer fruchtbaren Isolierung, die nur ein Ziel kennt: die Einigung der Arbeiterschaft in einer großen, fest geschlossenen Partei.

 

In Kiel ist davon nicht die Rede gewesen, und auch die Kommunisten taumeln ahnungslos und lärmend durch die deutsche Landschaft, und wenn sie Einheitsfront sagen, meinen sie Spaltung. Die triste Wirklichkeit von Heute ist die unerbittliche Rivalerie von zwei Arbeiterparteien. Jawohl: Arbeiterparteien! Ihre Kämpfe bedeuten die Ohnmacht der Republik, ihre Zänkereien die Omnipotenz der Unternehmerschaft, den Verfall der Sozialpolitik. Bei den Kommunisten ist ungeachtet aller Verbohrtheit und Dogmenseligkeit viel Wirbel und Jugend, bei den Sozialdemokraten noch immer der Kern der Arbeitermassen. Kindlich wäre es, wieder und wieder zu versuchen, die Partei von Außen her zu erschüttern. Die Arbeiter verzweifeln fast an ihr, aber sie bleiben. Die Partei hat sie um einen pfiffigen Fraktionskalkul hundert Mal verkauft. Sie hat Noske, hat die Bürgerkriegsgenerale auf sie losgelassen. Breit und gewichtig wie ein pompöser vollgestopfter Wollsack liegt die Partei mitten im politischen Leben herum. Und doch halten die Massen zu ihr und glauben an sie. Dieses Geschehen muß einen Sinn haben. Mag der Spiritus verflogen sein, die selbstlose Hingebung der Massen hat den Parteikörper intakt gehalten.

Die Zukunft wird lehren: wofür. Denn der heutige Zustand, daß die Partei das Unterfutter für den republikrettenden Mischmasch Reichsbanner liefert, kann nicht Entscheidung und Ausgang sein. Noch sind solche Gedankengänge neu, und eine Propaganda dafür würde bei dem ungeheuren gegenseitigen Mißtrauen eher schädlich als nützlich sein. Aber in beiden Lagern sollte man doch erwägen, ob eine Fortführung des Bruderkriegs in den bisherigen Formen bei der immer wachsenden Wirtschaftsnot und der immer offensiver werdenden Reaktion noch lange möglich ist. Sozialdemokrat und Kommunist führen beide das rote Fahnentuch. Wenn du mit ihnen sprichst, hörst du die gleichen Klagen über Proletarierelend, über die schwache Partei und ihre Führung. Aber du mußt in ihre Zeitungen sehen, um zu wissen, welche Partei gemeint ist.

 

Ein Spottvogel pfeift, daß bei der Kieler Eröffnungszeremonie das Niederländische Dankgebet mit einem neuen Text von Kurt Eisner gesungen werden sollte. Da aber niemand die neuen Worte kannte, so standen sie Alle da, alterprobte Sturmgesellen, und sangen, wie die Stahlhelmer: Wir treten zum Beten ... Es muß über die Maßen erhebend gewesen sein.

Diesen altniederländischen Charakter werden sich die Genossen in Zukunft abgewöhnen müssen.

Die Weltbühne, 31. Mai 1927


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