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Stalin und Trotzki

»Auch Sowjetrußland hat dem Proletariat nicht das gehalten, was es versprochen hatte. Die schwerste Enttäuschung, die es ihm zugefügt hat, ist die Haltung der regierenden Partei gegen seine frühern mit ihr verbündeten Freunde und revolutionären Mitkämpfer... Für sie hat sich wenig geändert, seit der Zarismus gestürzt wurde... Mit welchem Recht fordert Ihr von den kapitalistischen Regierungen Freilassung aller proletarischen politischen Gefangenen, solange bei Euch, wo der Wille des Proletariats den Zarismus beseitigte, noch proletarische Brüder... hinter Zuchthausmauern festgehalten werden...«

Das steht nicht irgendwo in einem verlästerten sozialistisch-demokratischen Zeitungsblatt, sondern in einer Manifestation freier, nicht parteigebundener Sozialisten, die großenteils dem anarcho-syndikalistischen Gedankenkreis angehören. Wir nennen hier nur Henriette Roland-Holst, Rudolf Rocker und Erich Mühsam. Störend wirkt nur, daß man sich auch hier Frau Karin Michaelis als Anstandsdame zugelegt hat. Warum?

Aber die Manifestation ist ein schneidender Klageruf – ›J'accuse‹ von Ultralinks. Der hochoffizielle Parteikommunismus, der gern etwas bramsig auftritt, muß sich daran gewöhnen, daß er heute nicht mehr die äußersten Linksplätze frequentiert. Die Gruppen von Ausgestoßenen und grollend Geschiedenen stehen ihm im Rücken. Vielleicht sind diese Sezessionen ziffernmäßig gar nicht stark, die Tatsache, daß linkerhand noch etwas da ist, drängt sacht und kaum wahrnehmbar nach rechts. Wo die kommunistischen Häupter heut auftreten, schreit ein erregter Chorus: »Verräter, Verräter!« So schrie einst Spartakus gegen USP, vorher USP gegen SPD, und, vor grauen Zeiten die Sozialdemokratie gegen die bürgerliche Demokratie. Dieser Tage hat in Berlin eine Versammlung von Opponenten den redlichen Pieck, der ausgeschickt war, sie zu belehren, rauh angefaßt. Wie lange wird es dauern und Höllein wird reden wie Otto Wels...

Der Mann, der diesen nützlichen Klärungsprozeß verhindert, ist der Herr Oberreichsanwalt Doktor Werner. Wenn die unsinnigen Verfolgungen endlich aufhören, wird man sehen, daß Spartakus schon lange ein gestärktes Vorhemd trägt.

*

Diese Kämpfe sind aber nur Reflexe innerrussischer Auseinandersetzungen. Da die moskauer Diktatur die Redefreiheit rationiert, werden die Gegensätze unglücklicherweise erst im Ausland richtig ausgetragen. So kommt es, daß Köln-Nippes plötzlich »für Trotzki« ist, während Köln-Kalk treu »zu Stalin hält« und den bedingungslosen Hinauswurf von Köln-Nippes fordert. Die Kommunisten in Deutschland und überall hätten besseres zu tun als das zu Ende zu pauken, was in Rußland nur halb gesagt wird. Denn die Fragen, die die russische Partei spalten, gibt es anderswo überhaupt nicht; sie hängen nur mit der jetzt ein Jahrzehnt bestehenden und lebendig wirkenden Herrschaft zusammen. Moskau, das ungemein geschickt operiert hat bei der Behandlung kolonialer und halbkolonialer Völker, versagte stets bei der Leitung der europäischen Bruderparteien. Anstatt die Parteien auf eignem Boden selbständig wachsen zu lassen, hat es sich willenlose Trabanten ziehen wollen, stumme Diener; und es ist kein Wunder, daß viele davon, die jetzt endlich die Zunge gefunden haben, sie zunächst benutzen, um den Meister zu verfluchen, dem sie ihre Golemexistenz verdanken. Wenn die Russen, die für die Wiedererrichtung ihrer Wirtschaft so viel Vivazität und saftvolle Energie einzusetzen hatten, nur endlich darauf verzichten wollten, die für die Praxis nicht brauchbaren Parteigrößen als Priester und Tempelhüter der reinen Lehre anzustellen! Als Präpositus der Dritten Internationale ist auf den unsagbaren Sinowjew zwar der bedeutendere Bucharin gefolgt. Aber im Grunde ist da kein größerer Unterschied, als daß Bucharin durch die linke Tür bugsieren läßt, während sein Vorgänger die rechte bevorzugte. Diese Theoretiker ruinieren das Proletariat, sie treiben es in die Eisfelder der Abstraktion; ihr motu proprio hetzt die Arbeiter gegeneinander und läßt sie endlich glaubenslos und politikmüde liegen.

 

Was in der deutschen Kommunistenpartei nur wie ein Gespensterkrieg aufgenötigter oder kopierter Parolen wirkt, das ist in Rußland allerdings kein Duell von kalten Theoremen, sondern ein sehr lebendiger Gegensatz, der von zwei überragenden Gestalten verkörpert wird – von Stalin und Trotzki. Man behandelt auch außerhalb der kommunistischen Reihen diese Dinge ohne Bemühung zur Realität. Man spricht entweder von persönlichen Rivalitäten beider, von Trotzkis brennendem Ehrgeiz – grade als sollte hier schon ein Muster zu einem künftigen zeitgeschichtlichen Drama von Alexej Tolstoj zurechtgeschnitten werden – oder spielt die angeblichen Programme beider gegeneinander aus. In Wahrheit ist das, was beide Teile sagen, gar nicht wägbar. Denn beide suchen sich an Radikalität zu übertrumpfen: einer wirft dem andern vor, revolutionäre Orthodoxie durch Reformismus ablösen zu wollen. Kommt hinzu, daß die Opponenten nur ein Katakombendasein führen, andrerseits aber die revolutionäre Terminologie der Stalingruppe, der herrschenden Mehrheit also, nur demagogische Bemäntelung einer faktisch opportunistischen Politik zu sein braucht. Das ist hier ganz unübersichtlich und kann darum nicht untersucht werden. Zudem ist der außenpolitische Druck auf Rußland ungeheuer. In solcher Bedrängung klingt alles laut und schrill. Weltpolitisch betrachtet spielt die englische Regierung die gleiche Rolle wie bei uns der Herr Oberreichsanwalt: sie verhindert die klare Sicht. Wir sehen nur ein gehetztes Land, wie bei uns eine gehetzte Partei.

Nein, es wäre sinnlos, die Ideologien beider Richtungen zu untersuchen. Zweck hat nur zu betrachten, was die herrschende Gruppe darstellt und was diese und jede andre Opposition erreichen könnte. Diese Frage stellen, führt aber zu dem unbedingten Wunsch, Stalin möchte sich behaupten. Denn Stalin ist die Bestätigung, daß eine Revolution auch nur ein einmaliges Ereignis ist und deshalb nicht streckbar; und daß sie Konstruktion werden muß, wenn nicht alles wieder verloren gehen soll, was ihr Elan errang. Dabei büßt sie selbstverständlich ihren Glanz ein und gewöhnlich auch noch mehr als den Glanz. Das Rußland, wie es heut ist, das mit Eisenfaust Hunger und Anarchie niederringt und trotz der englischen Verrufserklärung, trotz den Fehlschlägen in China lebt und arbeitet, das ist Stalin. Seine Zukunft liegt beim Typus Stalin.

Denn Leo Trotzki, der Carnot der Sowjets, ist heute schon eine glorreiche Reminiszenz. Einer, den das Sentiment bestimmt, der über die große Epoche seiner Vergangenheit nicht hinwegkommt und das gleiche Lied immer spielen will. Was könnte er mit seinem buntgemischten Anhang erreichen? Wenn man seinen deutschen Anbetern glauben will, verlangt er die Wiederherstellung der »reinen Lehre« Lenins: Streichung der Konzessionen an die kapitalistischen Mächte, neue Propaganda der Weltrevolution im Stil von 1920 – kurzum, alle Rigorositäten der ersten Epoche, jener Epoche, die auch seine Glanzzeit einschließt, Rückgang auf eine Linie, die Lenin selbst in der Not der Zeit verlassen hat. Kann man zweifeln, daß dies das Ende wäre? In Westeuropa würden längst begrabene Kreuzzugspläne effektvoll wiedererstehen; kein größerer Glücksfall wäre denkbar für Churchill, den Regisseur Denikins und Wrangels. Bleibt noch die andre Möglichkeit: – Trotzki müßte sich nach Bundesgenossen umsehen, Anlehnung suchen an die Menschewiki und den Emigranten aller Art die Grenzen wieder öffnen. Ein solcher Umschwung aber würde Bürgerkrieg, mindestens bürgerkriegsähnliche Zustände bedeuten, womit aber alles wieder in Frage gestellt und der rückläufigen Bewegung der Weg freigemacht wäre: von Trotzki zurück zu einem neuen Kerenski, von dem zu Miljukoff, von da, nach Putschen, ausländischen Interventionen, gewährten und zurückgezogenen amerikanischen Anleihen ... zu einem neuen Zaren. Moskaus Feinde wittern das sehr wohl: obgleich Trotzki sehr radikal spricht, setzen sie überall auf ihn und am höchsten in England, dem er vor ein paar Jahren erst in einem großartigen Pamphlet die blutigste soziale Revolution vorausgesagt hat.

Trotzki verkörpert die revolutionäre Romantik, Stalin die nüchterne und keineswegs schöne Realität. Der Kontrast ist da, und daß er so böse Formen annimmt, liegt großenteils daran, daß in Rotrußlands Vokabularium das Wort Freiheit nicht gelitten ist. Die Tscheka, die sich bisher nur mit wirklicher oder angeblicher Konterrevolution befaßte, rückt jetzt den Gurgeln der verstoßenen Oberpriester bedenklich nahe. Jetzt entdeckt selbst ein Sinowjew plötzlich das ewige menschliche Recht auf freie Rede. Der nächste Schritt wird wohl der berühmte feurige Appell an das Gewissen der Welt sein. Es gibt keine heißern Demokraten als abgestürzte Diktatoren.

Die Weltbühne, 15. November 1927


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