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Der kranke Imperialismus

Wieder Völkerbundsrat. Ohne böse Aspekte diesmal; ohne Krach im Hintergrund. Die Welt ist nicht ruhiger geworden, aber der Völkerbund geht an den Unruhen vorüber und beschränkt sich auf das Nichtaufregende. Mitteleuropa rückt mit der Behandlung der Saarfrage und des oberschlesischen Schulstreites ins Zentrum. Das Zusammentreffen Stresemanns mit Zaleski wird neugierig erwartet. Ob sich daraus für das künftige Verhältnis zwischen Deutschland und Polen Besserungen ergeben werden, bleibt abzuwarten. Überhaupt ist vor Prognosen zu warnen. Die gründliche Verhetzung in beiden Ländern nimmt den Außenministern die notwendige Ellbogenfreiheit. Versuchen sie, sich in Vernunft zu einigen, was für beide Teile Verzichte fordert, erwartet sie zu Haus ein Trommelfeuer von Beschimpfungen. Dennoch ist die deutsch-polnische Begegnung zu begrüßen. Aber für ein Völkerbundsprogramm ist das etwas mager. So vital diese Fragen für Mitteleuropa sein mögen, so drittrangig wirken sie neben Dem, was sonst auf der Erdkugel rumort. An die Brandstellen Asiens wagt der Völkerbund nicht zu rühren.

 

Der englisch-russische Konflikt um China zeigt die Politik Britanniens zum ersten Mal in der Defensive. Das Kabinett Baldwin steckt eine klatschende Ohrfeige wie die Entgegnung Litwinows auf seine Note ruhig ein, und selbst die lautesten Jingoblätter meinen, jetzt, wo auf beiden Seiten die Insultationen glücklich heraus seien, stünde einer weitern Unterhaltung in gesitteten Formen eigentlich nichts mehr im Wege. Ja, Sir Robert Home, das Finanzgenie der Stockkonservativen, führte sogar im Parlament aus, selbst der Abbruch der diplomatischen Beziehungen zwischen London und Moskau brauche das Geschäft nicht unbedingt zu gefährden. Beweis dafür sei Amerika, das die Sowjetregierung nicht anerkannt habe, ihre Agenten rücksichtslos aus dem Lande treibe und trotzdem einen größern Russenprofit aufweise als England, das Friedfertige.

Eine Lehre scheint der Krieg doch eingebleut zu haben: die Regierungen sind in Fragen des point d'honneur dickfällig geworden. Das Prestige wird nicht wichtiger genommen, als es ist. Ein Zehntel der zwischen London und Moskau gewechselten Grobheiten, ein Hundertstel der Vorfälle in Hankau und Shanghai hätten früher zum diplomatischen Bruch und zur Mobilmachung geführt. Dafür ist aber auch Englands Vormacht umstrittener als jemals. Bewaffnete Aufstände in den Kolonien hat das Imperium oft erlebt und stets überwunden. Doch dies Mal steht es einer irrationalen Gewalt gegenüber, die unsichtbare Feinde ins Feld führt. Die Völker wollen nicht mehr: das ist das Ganze. Indien erwacht aus jahrhundertelanger Indolenz; Chinas gestaltlose Sklavenmassen strömen aus dem Dunkel der Geschichte handelnd in die Welt von Heute und gewinnen Gesicht. England hat immer die Lockung seiner zivilisatorischen Formen für sich wirken lassen und die von seinen Generalen Besiegten kulturell aufgesogen. England nahm den Besiegten die Freiheit und gab ihnen dafür seine Kleider, sein Frühstück, seine Tauchnitzbände, seine politisch-ökonomischen Doktrine und seinen bürgerlich beruhigten Gott. Das alte Rezept beginnt zu versagen. England kollidiert mit Völkern, die immun sind gegen die verführende Gebärde seiner Denkungsart und seines Lebensstils. Jetzt versteht man erst, warum der deutsche Versuch zur Entthronung Albions so kläglich danebengehen mußte. Denn der deutsche Welteroberer trat dem englischen Weltbeherrscher nicht mit dem Willen zum Anderssein entgegen, sondern mit den Gefühlen neidischer Konkurrenz und als ungeschickter Kopist. Die kaiserliche Politik suchte den berühmten Platz an der Sonne wie der in die Halle des Hotel Ritz verwehte Provinziale einen Stuhl: etwas verlegen und etwas wütend, und dabei voll Eifersucht auf diese furchtbar feinen Leute, die sich so ungezwungen bewegen, steif und gelassen zugleich, die mit einem Stirnrunzeln zehn Boys und den Herrn Direktor in Galopp bringen und sich mit den elegantesten Damen durch einen Blick verständigen. Es hat während des Krieges gewiß nicht an deutschen Versuchen gefehlt, Englands Satelliten aufzuwiegeln, aber was den pompösen Verheißungen Berlins nicht gelang, das erreicht die moskauer Propaganda heute spielend: denn hier ist eine neue Idee am Werk und nicht ein neuer Imperialismus. Stünde Britannien mit einer andern Großmacht im Kampf, die könnte es bekriegen und vernichten. Doch sein Feind ist unangreifbar: in einem zähen Kleinkrieg revolutioniert er die Köpfe und lehrt die Menschen, die Dinge anders zu sehen. So gleicht die heutige Lage des Imperiums in manchem der des Römischen Reiches in seiner beginnenden Krise, als aus Wald und Steppe die Barbaren hervorbrachen und den civis romanus respektlos mit Knütteln totschlugen, weil sie nie die Suggestion dieses Begriffes an sich erfahren hatten.

 

Wie ist England für diesen unerhörten Kampf gerüstet? Seine Politik erscheint, im Gegensatz zu sonst, tastend und ein wenig zittrig. Austen Chamberlain hat sich zunächst zu einem dilatorischen Vorgehen entschlossen; die gewonnene Zeit soll zur Arbeit in Polen und den Randstaaten benutzt werden, um Rußland wieder in Europa zu beschäftigen. England verfügt heute über keinen Pitt oder Disraeli, aber die Männer, die es auszuspielen hat, sind sicher nicht schlechter als früher, und nur die veränderte Situation verkleinert sie. Churchill und Birkenhead, die Befürworter der gepanzerten Faust gegen Rußland, sind gewiß ebenso unbedenklich unternehmungslustig, so lebenskräftig und bulldoggenhaft wie einst die Minister Seiner Majestät, die durch Horatio Nelson die Flotte der dänischen Seemacht verbrennen ließen und den schutzsuchenden Bonaparte einfach nach Sankt Helena verfrachteten. Das ist eine politische Genialität, die in der Faust sitzt und ihren Triumph feiert, wenn sie den Gegner mitten auf die Nase trifft – die aber nicht ganz am Platz ist, wo es nicht gegen Armeen und Schiffe, sondern gegen die erwachte Dämonie eines Erdteils geht. Deshalb wirken die kriegerischen Drohungen der Herren Minister nicht ganz ernst, etwas verjährt, und poltronhaft zudem.

Aber Englands Machtmittel und intellektuelle Gaben sind noch immer groß. Unvermindert war bis jetzt seine Kunst der Menschenbehandlung, seine Fähigkeit, ganz unerwartet Biegsamkeit an Stelle von Starrheit zu setzen. Der alte Lloyd George, nach scheinbar unaufhaltsamem Niedergang wieder zu Ansehen gelangt, attackiert die bellikosen Baldwin-Minister hart und verkündet laut, daß er die Patentlösung in der Tasche habe. Das konservative Regime wirtschaftet ab; innenpolitisch hat es schon verspielt. Der Imperialismus ist schwer krank, sein Kampf erscheint im Hinblick auf den Endeffekt hoffnungslos. Aber noch ist er wehrhaft, und in welchem Stadium wir uns befinden, das weiß kein Mensch. Das muß in aller Ruhe den deutschen Kommunisten gesagt werden, die weltpolitische Fragen im Lustgarten zu erledigen pflegen, und mit weniger Ruhe den knalldeutschen Stammtischen, die schon jetzt in Gedanken die endlich erlegte britische Midgardschlange als Rollmops verzehren. Der deutsche Spießer denkt nun einmal in Katastrophen; er sieht fortwährend Schicksalsstunden und Weltwenden, und das ist kein Wunder in einem Milieu, wo jeder kleine Vereinskrakehl sofort zur Götterdämmerung wird. Seit Stresemann angefangen hat, in Kontinenten zu denken, hat Chemnitz sein neues Gesellschaftsspiel gefunden. Die guten Leute sitzen beim Bier und reden was furchtbar Ernstes von transsibirischer Bahn und Pacific und Isthmus von Panama und tränken ihren geopolitischen Docht so lange, bis sie Isthmus mit Asthma verwechseln. Nein, das Drama Chinas taugt weder für lächerliche noch für ernsthafte Spekulationen. Blut wird dort vergossen, kostbares Menschenblut, und wenn unsre heißen Wünsche bei dem chinesischen Volk sind, so geschieht es, weil wir hoffen, daß Erbin dieses Freiheitskampfes nicht eine neue waffenstarrende Großmacht, sondern die ganze Menschheit sein wird.

Die Weltbühne, 8. März 1927


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