Georg Freiherr von Ompteda
Aus großen Höhen
Georg Freiherr von Ompteda

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21.

In angstvoller Erwartung verstrich der nächste Tag. Niemand war noch zurückgekehrt. Auch nicht der Professor und die beiden Brüder Weber. Sie mußten wohl alle droben biwakiert haben: vielleicht in einer Höhle oder unter den Latschen.

Die Post aus Cortina brachte Nachrichten: Ein Dutzend Führer war sofort nach dem Telegramm aus Schluderbach aufgebrochen. Im Hotel Faloria, wo die Engländer gewohnt hatten, herrschte große Aufregung unter ihren Landsleuten, von denen jedoch keiner mit ihnen näher bekannt war.

Auch im Pustertal hatte sich die Nachricht von dem Unglück verbreitet. Aus den dortigen Sommerfrischen waren eine Menge Leute gekommen, bewußt oder unbewußt, um etwas Näheres zu erfahren.

In der Nähe des Dürrensees an der Ampezzostraße hatten sich wieder eine Anzahl von Fremden versammelt, die meisten aus dem nahen Landro, dessen Fort über die Hotels hinweg das Tal bedrohte.

Man wunderte sich, wie lange es dauerte, ehe man wenigstens den einen, von dem es feststand, daß er tot war, herunterbrachte. Doch ein älterer Herr, der in jüngeren Jahren Touren gemacht, erklärte, es sei eine langwierige, furchtbare Arbeit, die den Führern dort oben erwüchse. Es wäre nicht so leicht, einen leblosen Körper über Wege zu schaffen, wo kein Weg führt.

Während er noch sprach, rief ein Herr, der durch ein Fernrohr beobachtete:

»Da sind sie!«

Jeder wollte wissen wo. Es wurde beschrieben, aber nicht gefunden. Alle Augenblicke glaubte einer etwas zu sehen, das sich bewegte. Dann stellte es sich immer heraus, daß es ein Irrtum gewesen. Nur durch das Fernrohr konnte man etwas erkennen: eine Anzahl Männer zog zwei dunkle Gegenstände an Seilen zu Tal. Andere gingen dahinter und schienen zu bremsen oder zu steuern. Einzelne folgten verstreut über die grauen, im grellen Sonnenlicht liegenden, riesigen Schutthalden, die zum Val fonda niederflossen.

Lange Zeit hindurch konnte der traurige Zug beobachtet werden, dann verschwand er, und die Neugierigen kehrten langsam zum Hotel zurück. Man unterhielt sich über das Unglück. Der Herr, der das Fernrohr besaß, behauptete, es hieße Gott versuchen, solche Touren zu machen, und da niemand antwortete, stellte er, der allgemeinen Zustimmung sicher, alle Hochtouristen als halbe Narren hin, denen nur recht geschehe, wenn sie verunglückten.

Doch plötzlich erhob sich eine Stimme. Herr Hempel, der ältere Herr, der mit auf dem Crislallo gewesen, meinte gelassen:

»Pardon, eine Frage, sind Sie schon mal dort oben gewesen?«

»Nein, das nicht...«

Nun wurde Herr Zempel fast grob:

»Na, dann reden Sie doch nich.«

Der andere wollte schroff antworten, doch der Verteidiger der Berge sagte schnell:

,Wissen Sie, ich habe noch nie eene Luftballonfahrt gemacht, aber deswegen behaupte ich nich gleich, daß man ee Narr sein muß, um sich in die Gondel zu setzen, sondern ich könnte mir vorstellen, daß eene Ballonfahrt dem Menschen neue Anschauungen gibt über die Erde, daß sie reizt durch die schnelle Fortbewegung, daß sie ein gewisses Glücksgefühl hervorbringen könnte, indem sie uns das näherrückt, was die Menschen in Sage und Sehnsucht gewollt haben seit undenklichen Zeiten: fliegen können. Ich könnte mir außerdem vorstellen, für jemanden, der kee alter Philister ist, würde eene gewisse Gefahr eenen Reiz haben; für eenen, der nich ganz prosaisch ist, müßte es ein Gefühl sein, das ihm das Herz klopfen macht, wenn er die Wolken unter sich sieht und über sich nichts als Gottes leuchtende Sonne, mit der er allein ist im ganzen Weltenraume! Aber! wie gesagt, ich bin noch nie in meinem Leben Ballon gefahren!«

Alles blickte erstaunt auf den kleinen Mann im grauen Bart, der sonst stumm im Hotel neben seinem Sohne an einer Tischecke saß.

Aber der alte Bergsteiger begann von neuem:

»Vielleicht denken Sie mal nach, woher es wohl kommen mag, daß die Berge solche Liebe einflößen? daß, wer ihnen nahe kam, sie nie wieder verläßt. Vielleicht fragen Sie sich mal, wie es wohl zu erklären ist, daß gerade unsere ersten Bergsteiger geistig und seelisch besonders hochstehende Menschen zu sein pflegen, ernste Männer der Wissenschaft, die allem Fexentum, allem kindischen Leichtsinn fernstehen. Am Ende möchte es Ihnen mal auffallen, warum wohl unter den Führern solche Prachtmenschen sind? So viele, die alle höchsten Mannestugenden, Kraft, Mut, Treue, Frömmigkeit, Bescheidenheit und doch Stolz und Würde dabei besitzen.«

Jede Widerrede war verstummt. Die Bequemen, die nicht verstehen wollten, was sie persönlich nicht übten, senkten die Köpfe.

Der alte Herr, der bei seinen sechzig Jahren noch mit seinem Sohne auf den Cristallo ging, hatte sie beschämt. Doch nun kamen seine eigenen kleinen Menschlichkeiten, und er zerstörte alle Wirkung seiner Worte, indem er sich plötzlich an seine Nachbarn rechts und links, nicht bloß den Besitzer des Fernrohrs, wendete und mit lächerlicher Verbeugung eifrig nachholte, in sein stärkstes Sächsisch fallend:

»Mei Name is nämlich Hempel. Hempel. Mei Name is Hempel.«

Die Menge der Neugierigen vor dem Hotel zerstreute sich noch immer nicht: man wartete auf das Eintreffen des Trauerzuges, obwohl der Wirt gemeint hatte, es könnten noch Stunden vergehen.

Klara stand am Fenster und blickte auf den Waldweg hinaus, der zum Val fonda führte. Sie konnte es nicht erwarten, bis ihr Mann wiederkäme.

Am Morgen hatte sie ihr Zimmer nicht verlassen. Nur zu Tisch war sie erschienen. Sie vermied es, mit Joachim auch nur zwei Worte zu wechseln ohne Anwesenheit eines Dritten.

Er verstand sie nicht. Er brannte vor Begierde, Klara zu sehen. Er schickte am Morgen zu ihr, ob sie nicht bald herunterkäme. Er ging selbst an ihre Tür und klopfte. Sie wäre zu angegriffen, meinte sie.

Kopfschüttelnd ging er davon. Mit einer Frau, die sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, war ja doch nichts anzufangen, das wußte er nur zu genau.

Bei Tisch hatte Klara fast nicht gesprochen. Joachim machte den Versuch, sie anzuregen. Umsonst. So schwieg er denn auch. Und unmittelbar nach dem Käse hatte sie gesagt:

»Ich werde den Kaffee nicht abwarten. Bleiben Sie ruhig sitzen. Ich gehe etwas hinauf«

Er fragte:

»Sind Sie krank?«

»Nein.«

Dann war sie eilig davon. Und nun stand sie ratlos da. Sollte sie hierbleiben oder hinuntergehen? Sie hatte Angst vor Joachim. Buchstäblich Angst. Sie fürchtete sich jetzt vor seinen Augen, die ihr mit einem Male etwas Stechendes zu haben schienen, während sie bisher gemeint, kein Mann hätte einen so samtweichen Blick.

Sie bebte, er möchte etwas sagen, wie gestern abend mit der kaltgestellten Flasche, eins Unzartheit, ein Mangel an Takt.

Und während sie es dachte, stieg sofort wieder der Gedanke an die Abgestürzten in ihrem Hirne auf. Es war, als sei das jetzt unauslöschlich mit seinem Bilde verquickt. Seit vielen Jahren ging sie nun in die Berge. Hunderte, von Touren hatte sie schon gemacht. Nie war etwas geschehen. Ihr und ihrem Mann hatten sich die großen Höhen immer gnädig gezeigt.

Joachim aber machte seine erste Tour, und sofort war eine furchtbare Katastrophe da. Es lag wie ein Unstern darauf. Es hing an ihm. Oder an ihnen beiden? Sündig und befleckt waren sie den Bergen genaht mit ihrer Menschenschwäche, und die Höhen schickten ein warnendes Zeichen.

Es war ihr ein Gefühl, als dürfe man zur großen Natur nur mit reinen Händen kommen. Sie war mit dem ahnungslosen Manne gegangen und mit dem Geliebten zugleich. Sie hatte es gewagt, Blicke zu tauschen, die nicht rein waren wie die Natur, die sie umgab. Sie war auf die Zinne gegangen nur mit dem eitlen Gefühl, ob er sie auch sähe.

And immer wieder, wenn sie an Joachim dachte, kam ihr wie gestern abend die Erinnerung an die Engländer, als wäre das Unglück die Rache der hohen, ernsten, heiligen Berge, die diesmal nur gedroht, aber das nächstemal ihr Opfer nehmen würden unter ihnen.

Da packte sie plötzlich wieder die Sehnsucht nach ihrem Mann. Sie konnte es nicht mehr ertragen allein im Zimmer.

Klara verließ die Stube und ging hinab, sich beim Wirt zu erkundigen, ob noch keine Nachricht da wäre.

Mit den Worten:

»Sie sollen kommen!« trat ihr die Wirtin entgegen. Es ward plötzlich lebendig im Hause. Und genau wie damals, als an dem Nebeltage alles hinausgeströmt zur Ankunft der Post, die von Cortina die beiden stummen Engländer gebracht, lief jetzt wiederum alles zusammen, um sie wiederkommen zu sehen als wirklich stumme Leute.

Da kam der erste Bote, ein junger Ampezzaner Führer, der vorausgeeilt war, um Wagen zu bestellen, die Cortinaer noch heute abend nach Haus zu bringen.

Sofort wurde er bestürmt:

»Kommen sie?«

Er nickte.

»Sind sie tot?«

Er nickte.

»Beide?«

Er nickte.

»Wie ist es denn geschehen?«

Er zuckte die Achseln.

»Wo haben sie denn gelegen?«

»Am Popena.«

»Beieinander?«

Er schüttelte den Kopf.

»Wann hat man sie denn gefunden?«

»Oan gestern, oan heit!«

»Sind sie gleich tot gewesen?«

Er lächelte bitter:

»Sell moan i schon.«

»Wie tief sind sie denn gefallen?«

»Nit gar so hoch.«

»Wieviel denn?«

»I woaß nit genau.«

»Aber annähernd?«

»Vierzig Meter.«

Damit war er dem Hotel ganz nahe gekommen.

Was er gesagt, verbreitete sich mit Windeseile. Zu den Sommergästen kam noch das Dienstpersonal aus dem Hotel, das auch etwas sehen und hören wollte. Dann die Finanzer.

Die Sonne war schon hinter der gewaltigen roten Croda rossa versunken, und der letzte rote Schein entzündete den Horizont.

Joachim war mit ein paar jungen Leuten vorausgegangen durch den Lärchenwald, unter dem Rauchkofel hin, dem Eingang in das Val fonda zu. Er sah sich unausgesetzt nach Klara um. Er verstand nicht, wo sie blieb. Er ärgerte sich über sie. Was hatte sie nur? Das war ja förmlich, als ob er ihr etwas getan hätte!

Vor allem war er wütend in seiner egoistischen Mannesseele, daß die schöne Gelegenheit verpaßt ward, der ganze Tag, den sie hätten allein sein können, ganz allein! Kaum geredet hatten sie doch miteinander!

Da kam der Zug. Voran schritten Jörgl Tschurtschenthaler und Pacifico Menardi mit eisern-ernsten Gesichtern, die Pickel im Arm, die Hacke nach unten wie gesenkte Waffen. Dann kam eine Art Tragbahre aus Zweigen, darauf ein in Decken gehüllter Körper, dessen Kopf nur einer ausdruckslosen Kugel glich, denn er war in Leinwand eingenäht. Sechs Mann trugen: einige Führer und zwei Knechte aus Schluderbach. Sie gingen außer Tritt, um ein Hin- und Herschwanken zu vermeiden. Halb daneben, halb dahinter kamen noch andere, die bisher getragen und noch abwechseln würden.

Eine zweite Tragbahre folgte. Eine zweite Mannschaft. Hinterdrein, fast wie Leidtragende, kamen die Hünengestalt des Professors und die beiden Studenten.

Unwillkürlich, als der Zug vorüberschritt, nahm alles schweigend, lautlos den Hut ab.

Klara stand ganz nahe am Hotel. Sie hielt sich zurück, halb versteckt. Das Taschentuch preßte sie vor den Mund. Sie sah ihren Mann, und mit einem Schlage war ihre Unruhe gewichen.

Doch plötzlich gewahrte sie etwas Gräßliches: bei dem zweiten Körper, den sie vorbeitrugen, war der linke Arm erhoben, streckte sich im Bogen in die Luft hinaus, wie ein warnendes Zeichen, eine Drohung.

Der Unglückliche hatte ihn wohl schützend vor das Gesicht gehalten, und so war er im Tode geblieben und steif geworden, daß man ihn nicht ohne Gewalt hätte niederzwängen können. Und an der Hand blitzte etwas, am vierten Finger. Ein Ring. Der Ehering vielleicht.

Klara konnte nicht mehr hinblicken. Sie hielt das Tuch vor die Augen, und ein nervöses Zittern, in der Kühle des Abends, nach dem Warten, der Erregung, der Qual ihrer Sinne, lief über ihren Körper.


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