Georg Freiherr von Ompteda
Aus großen Höhen
Georg Freiherr von Ompteda

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7.

Als der Professor seinen Entschluß Klara mitteilte, war sie zuerst verstimmt. Was sollte sie hier bei dem Wetter auf der Hütte sitzenbleiben, da sie doch nicht mitdurfte! Doch er beruhigte sie und schlug den beiden vor, zusammen nach Schluderbach abzusteigen. Der Weg war markiert und nicht zu verfehlen. Unten im Hotel sollten sie ihn erwarten, und Klara hatte Gesellschaft.

Die beiden blickten sich an. Sie wollten ja sagen, und doch war es ihnen, als müßten sie sich erst ein wenig sträuben. Der Professor bemühte sich, einen Scherz zu machen:

»Ihr vertragt euch wohl nicht?«

Klara meinte schnell:

»Gut, ich bin einverstanden.«

Er fuhr fort zu scherzen:

»Ist dir's denn so schlimm, mit Freund Joachim allein zu sein?«

Leichte Röte stieg ihr ins Gesicht, sie sagte sofort:

»Also, sobald das Gewitter vorbei ist, gehen wir. Werden wir uns auch nicht verirren?«

Der große Mann strich ihr, wie es seine Manier war, die Wange:

»Du Närrchen!«

Sie aber machte ein unwilliges Gesicht und blickte die Fremden an, die verzweifelt wegen des Wetters herumsaßen und standen, die Kateridee verfluchend, die sie hier herausgeführt.

Doch der Regen ließ nach, und als ein kurzer, jäher Sonnenblitz durchs Fenster fiel, sprang alles auf, um hinauszuschauen. Es ward immer heller. Endlich hörte es ganz auf zu gießen. Der Wind blies, riß die Wolkenschleier entzwei, an einzelnen Stellen lächelte der blaue Himmel. Bald lachte er sogar.

So schnell, wie das Hochgewitter gekommen, war es auch verschwunden. Die Wolken zogen davon, nur in der Ferne lagen noch langgezogene Striche über den Bergen, unbeweglich in seine Linien auslaufend, wie mit dem Pinsel gezogen, und um die Häupter der Zinnen schlangen sich Dünste, bald Kugelgestalt annehmend, bald flatternd wie lange, dünne Trauerwimpel und Fahnen.

Von der kleinen Zinne stieg ab und zu die Wolkenkappe hoch, um sich kurz darauf wieder niederzulassen, als grüßte die schlanke Felsgestalt freundlich zur Hütte herüber.

Jetzt brach alles auf. Die Hotelmenschen aus Landro in allergrößter Eile zuerst. Sie hatten einen Führer mit, der draußen in der Küche weidlich schimpfte über all das Gepäck, das er tragen mußte, denn die Jochbummler hatten sich ausgerüstet, als gelte es acht Tage fortzubleiben.

Jörgl Tschurtschenthaler und Pacifico Menardi verhöhnten ihn:

»Sepp, hast auch die Kletterschuhe mit?«

»Sepp, deine Tourischten haben ja nur a paar Stecken und keine Pickel? Wie wollt ihr denn da hinunterkommen? Bist doch a sakrischer Bursch!«

»Sepp, geht ihr denn ohne Seil? So an Leichtsinn! Bei dem schweren Abstieg!«

Der andere schob stöhnend den schweren Rucksack auf die Schultern, steckte einen Damenplaid durch die Tragriemen; einen zweiten nahm er über den Arm. Dann folgte er seiner Gesellschaft, die ohne Lebewohl zu sagen, davon war. Die eine Dame war vorausgerast, der Herr mit den Gummizugstiefeln hinkte hinterher. Er hatte sich wundgelaufen.

Jetzt atmete der Professor auf. Er öffnete das Fenster, als müsse frische Luft herein. Dabei sagte er zu Joachim:

»Die Sorte, das ist so mein Fall. Die hasse ich. Die könnte ich ohne Gewissensbisse, wenn ihnen was zustieße, in den Bergen ruhig ihrem Schicksal überlassen, denn wer mit all seinen Menschlichkeiten in die große Natur kommt, der verunreinigt sie, der vergreift sich an ihr ....«

Er war ganz erbittert geworden, so daß ihn sein Freund erstaunt ansah. Sofort lenkte der Professor erklärend ein:

»Ich habe nicht etwa gegen ehrsame Tal- und Jochwunderer etwas. Im Gegenteil, ganz im Gegenteil freue ich mich über den Schwächsten, der den kleinsten Übergang macht. Man braucht gar nicht auf die schweren, großen Gipfel zu steigen, um Naturgefühl zu zeigen. Jeder nach seinen Kräften: wenn wir älter sind, können wir das auch nicht mehr, was wir heute tun. Und eine alte Dame etwa, die ihre letzten Kräfte daransetzt, um die Hochgebirgswelt auch einmal in der Nähe zu sehen, ist mir tausendmal lieber als ein junger Bergfex, der die ernstesten Berge ›ganz leicht‹, die kleine Zinne ohne Schwierigkeit, den Winklerturm nur ›etwas exponiert‹ findet, und die Dent Blanche für ›immerhin interessant‹, doch nicht eigentlich schwierig erklärt ....«

Er wunderte sich selbst über seine Rede, blickte sich um und fragte Jörgl Tschurtschenthaler, der, Pfeife rauchend, in der Tür zur Küche stand:

»Hab' ich nicht recht?«

Der nickte, ohne den Stiel aus dem Munde zu nehmen:

»Glaub' schon!«

Klara war fertig zum Aufbruch. Joachim nahm seinen Stock, nachdem er seinen Anteil an dem, was sie verzehrt, gezahlt und noch ein paar Gläser Wasser getrunken hatte. Auch der Professor ging mit, doch nur den Pickel in der Hand, das Seil und einen schmächtigen Rucksack trug Jörgl. Sie wollten die beiden andern bis kurz vor den Paternsattel begleiten. Dort bogen sie dann ab zur furchtbaren Nordseite der kleinen Zinne, um jenen »Weg« anzutreten, an den allein zu denken dem Unbeteiligten Schauer über den Leib jagt.

Die Felsen hatten sich ganz verändert: heute früh noch weiß, kreidig, rötlich, an einzelnen Stellen im Sonnenschein in allen Farben des Regenbogens spielend, waren jetzt dunkel drohend, schwarz durch die eingesogene Nässe des Gewitters. Sie glichen altersgrauen, ehrwürdigen, zeitzerfressenen, rußgedunkelten gotischen Türmen.

Es mußte geschieden sein. Der Professor zog seine Frau an sich und küßte sie. Dabei blickte sie wie scheu zu Dörstling hinüber, dem er die Hand gab.

»Und Kläre, also ... ich werde versuchen, heute abend noch unten zu sein. Sollte ich aber nicht kommen, so brauchst du dich nicht zu ängstigen. Vielleicht nehme ich noch irgendeine andere Spitze mit, und dann könnte es zu spät werden. Und du, Dörstling, du bietest ihr jetzt männlichen Schutz, Kläre aber, die berggewohnte, macht den Wegweiser. Nicht wahr?«

Einen Augenblick darauf waren die beiden Männer mit langen Sätzen das Geröll hinabgeeilt, wurden kleiner und kleiner und entschwanden hinter ein paar riesigen, von der Punta di Frida abgestürzten Blöcken.

Die beiden andern waren allein.

Es ward ihnen plötzlich bewußt, als sie den Paternsattel überschritten hatten und man sie von der Dreizinnenhütte aus nicht mehr sehen konnte. Kein Mensch auf Sehweite, keiner in Rufweite.

Sie wurden befangen, alle beide.

Zuerst gingen sie schweigend hin über das auch hier dunklere Gestein, Klara voraus, denn sie sollte ja den Weg weisen. Aber bald begann er zu sprechen. Nur die Worte:

»Diese Einsamkeit hier oben!«

Sie fragte:

»Haben Sie das so geahnt?«

»Nein.«

Sie waren allein, wie sie es noch nie gewesen in ihrem Leben. Denn wenn sie auch in Berlin allein in einem Raum geweilt, so waren doch andere in derselben Wohnung, viele im gleichen Haus, Tausende in der Nähe, Millionen in der Stadt. Sie hatten Menschen um sich gefühlt, gehört, geahnt. Hier aber schwieg alles, hier war keine lebende Seele zu ahnen. Nur Stein gab es hier, Wolken, Himmelsblau, Felszinnen und Abgründe.

Und doch wieder: warum sollten nicht drüben auf den Cadinspitzen Bergsteiger sein, die sie beobachteten? In den Monti Marmaroli, am Popena, an der Soraspitz, am mächtigen Antelao? Ober unten am Misurinasee, wohin die Sommerfrischler ihre Ausflüge machten? Konnten nicht Operngläser oder Fernrohre auf sie gerichtet sein, sie, das einsame Menschenpaar in dieser unendlichen, steinernen Wildnis?

Doch es war zu weit, man erkannte sie nicht.

Aber sie fühlten das Alleinsein wie Menschen, die immer dem bangen Moment aus dem Wege gegangen sind, sich fürchten vor dem Augenblick, wenn wirklich alle gegangen sind, daß die Tür hinter ihnen zuschlägt und sie sich zum erstenmal ohne Zeugen gegenüberstehen.

Er wollte sich ihr nähern und etwas sagen – aber ihm war es, als blickten wirklich Augen und Gläser von irgend woher, ein dunkles Bewußtsein wie im religiösen Gemüt: Gott sieht es.

Und ein seltsames Gefühl schnürte ihm die Kehle zu. Es stieg ihm zum Munde herauf. Er hätte brüllen mögen. Er konnte nicht mehr. Aber er sagte nur gepreßt:

»Wir sind ganz allein ....«

Sie ging weiter ohne Antwort. Er sprach abermals:

»Wir sind ganz allein ....«

Sie schien langsamer zu gehen, doch sie wendete sich nicht um. Da begann er wieder, und er nannte sie beim Vornamen:

»Klara, wir sind ganz allein ....«

Jetzt zögerte sie, blieb stehen, lehnte sich auf den Pickel, aber sah ihn nicht an. Sie waren schnell gegangen bis hierher, und Klara ließ sich zurücksinken gegen einen Riesenblock.

»Wollen wir einen Augenblick rasten?« fragte sie. Er blieb neben ihr stehen, aber er wagte nicht weiter zu fragen. Nur seine Hand legte er auf ihre und sprach:

»Hat Ihnen der scharfe Fels nicht wehe getan?«

Sie schüttelte den Kopf. Er drehte ihre Finger um, die sie ihm ließ. Ein paar Risse waren doch daran. Die rosigen Nägel waren an einigen Stellen zerschabt. Er streichelte ihre Hand, dann hielt er inne und behielt sie in der seinen.

Die Sonne schien glühend heiß. Blauer Dunst lag in der Ferne. Es flimmerte und flirrte über den Tälern. Kein Laut war zu hören, kein Vogelgezwitscher, kein verlorener Ton aus dem Tal. Müde, schläfrige Mittagsstille. Das gewaltige, große Schweigen, die unendliche, sinnverwirrende Einsamkeit des Hochgebirges.

Da hob er langsam ihre Hand an die Lippen. Sie ruhten unbeweglich darauf, wie die beiden, im ewigen Raum verlorenen Menschenkinder dastanden, ganz allein, allein, wie sie es noch nie gewesen in ihrem Leben.

Er nahm die Hand, die kleine Hand, die sich an den furchtbaren Felsen so mutig gehalten, und legte sie sich leise auf die Stirn, indem er die Augen schloß.

Da knatterte es plötzlich hinter ihnen, eine Steinsalve prasselte den Geröllstrom herab vom Rastplatz zwischen den beiden Zinnen. Sie kam von den Jenenser Studenten, die nach der großen auch die kleine Zinne führerlos bestiegen und nun nach der Rast aufbrechen wollten, wie unten das Paar nach Schluderbach drunten in Ampezzo.

Klara zog mit einem Ruck ihre Hand zurück, und von einem entsetzlichen Schrecken gepackt, lief sie davon in Sätzen den Weg hin, als flöhe sie vor einer furchtbaren Gefahr.

Die Augen waren ihnen aufgegangen, wie einst dem ersten Menschenpaar, als es seine Blöße ererkannt.


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