Georg Freiherr von Ompteda
Aus großen Höhen
Georg Freiherr von Ompteda

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

17.

Nun kehrte auch wieder Frieden ein in des Professors Seele. Er konnte sich ganz dem Genuß der Höhen hingeben.

Noch immer war der Tag strahlend, über ihnen wölbte sich das Himmelsblau, dunkel, unergründlich. Zitternd in der Riesenglut und Grelle des Lichtes, wie eine gewaltige Glocke, die in der Ferne auf den Bergrändern aufsaß. Sie lagen rundum, alle die Gipfel, die ihm liebe Freunde waren.

Von einem grüßte man den andern, von einem bespähte man den Anstieg zum Nachbar, betrachtete die ruhige Größe des Gesamteindruckes, suchte steil eingebettete Eisrinnen, die den Weg hinauf, steinfallbedroht, in mühseliger Stufenarbeit erforderten, überlief die Grate, die alle eine Möglichkeit bieten konnten, hinauf, falls man nicht an jähen Abbrüchen, an aufgesetzten, unbezwingbaren Türmen scheiterte. Alle diese Wege liefen zusammen, um sich an den Gipfeln zu treffen, von denen der einsame Beschauer hier oben so vielen als erster den Fuß aufs stolze Haupt gesetzt.

Einsam, in solchen Momenten, wenn er die Größe, die Überfülle, die Schönheit der Natur auf sich wirken ließ, dachte er nicht an andere Menschen neben sich.

In solchen Augenblicken überkam ihn etwas wie Andacht. Und wie man im Gebete seiner Lieben gedenken kann, aber nicht mit ihnen sprechen, so konnte er sie wohl vor sein geistiges Auge treten lassen, aber er mußte Schweigen um sich haben.

Er ging ein Stück über das Geröll, dem Nordabsturze zu. Er wollte den Augenblick des Gipfelglückes ganz allein durchkosten. In der Ferne zeichnete sich die schlanke Firngestalt des Glockners ab, und alle Erinnerungen huschten vorüber, wie er mit einem Freunde einst den langen Übergang gemacht von der Adlersruhe über Klein- und Groß-Glockner zur Glocknerwand. Links davon leuchtete das Dreieck des Groß-Venedigers, den er von Norden bezwungen durch die Gipfelwächte hindurch. Dann kamen die Zillertaler und das Stubai, die Ötztaler, die Ortleralpen, dahinter geahnt schon die Schweiz.

Wohin sich sein Auge wandte: alte Freunde, denen er Stunden verdankte, wo die Erdenschwere abgeworfen schien, während er allein gewesen mit dem einzigen, das nie den Menschen übersättigen kann – der Natur.

Die Berge weckten Eigenschaften, deren Keime nur im Kulturmenschen unserer Tage liegen, der vergißt, daß Gottes Ebenbild, zu dem er geschaffen, einst frei war wie die Tiere des Waldes, allen Anstrengungen gewachsen, ein Jäger, ein Muskelträger.

Sie schärften längst verlorene Indianerinstinkte: Fährtesuchen, achten auf jeden Laut der großen Sprache der Natur.

Sie stählten Herz und Lungen. Sie waren Feinde dumpfen Träumens und führten doch zur höchsten Poesie: die Schönheit zu erkennen, die unerhörte Schönheit, rundum in dieser Bergeswelt.

Vor Überhebung schützten sie, vor der, sein eigenes, jammervoll kleines Dasein im Haushalte der Natur zu hoch zu werten, erkennen lassend, daß wir nichts weiter sind gegen sie als ein Stein im Geröllfeld, einer von denen, die in den Alpen ungezählt und unablässig fallen, und sieht doch keiner, daß der Berg abgenommen hätte.

Und endlich lehrten sie im Donner der Lawinen, in dieser übergewaltigen, herzerschütternden Einsamkeit, wo alles Begehren der Menschen drunten geblieben scheint in den stickigen Ebenen, wo der Himmel näher ist, die Wolken schon unter den Füßen liegen und die große Bläue sich über den Häuptern auftut: Gott erkennen.

Und wie so seine Gedanken gingen, erinnerte er sich plötzlich des Blickes seiner Frau. Als ob der leichte Wind, der über den Gipfel des Cristallo von Norden her blies, ihm alles aus dem Kopfe geräumt hätte, war ihm jeder Verdacht weggelöscht.

Er ging zu den andern zurück. Joachim saß noch immer da, neben ihm Klara, auf dem zusammengerollten Seil. '

»Nun, gefällt dir der Cristallo?« fragte der Professor. Klara nickte. Sie wollte etwas sagen unterbrach sich aber und deutete auf den Grat, auf dem sich jetzt ein paar Gestalten näherten:

»Da kommen die andern.«

Sie suchten zu erkennen, wer es sei.

»Taifel, es sind zwei Partien!« sagte Jörgl.

»Zwei?«

»I mein' schon. Das eine ischt der Hansl Unterwurzacher mit a Herrn und der Sepp Kuntner, wissen S', Herr Professor, der aus Innichen, a mit a Herrn. Und dann die beiden vorn, Jessas, die beiden Herrn, mit denen S' auf dem Schwalbenalpenkopf gewesen sind.«

Sofort klang das fröhliche: »Grüß Gott« der beiden führerlosen Studenten. Die Brüder eilten über die Absätze und Blöcke, daß Joachim die Lippen zusammenkniff bei dem Anblick. Sie waren nicht durchs Seil verbunden. Fritz Weber, der ältere der beiden, trug es, das bei ihnen für den Cristallo nicht in Anwendung kam, im Rucksack.

Ein paar Sprünge noch, und sie standen auf dem Gipfel, nahmen die Hüte ab und machten angesichts der Dame eine fast gesellschaftliche Verbeugung, die in Kniehosen, mit dem Pickel in der Hand, seltsam genug aussah.

»Grüß Gott!« sagten sie zugleich.

»Grüß Gott!« antwortete der Professor. Sie schüttelten sich die Hand mit männlichem Druck, und sofort wurden Fragen getauscht, was sie beiderseits die Tage unternommen. Die jungen Leute dankten noch einmal in reizend bescheidener Art für die Führung, die ihnen der soviel ältere Mann hatte zuteil werden lassen. Dann traten sie beiseite, als fühlten sie sich befangen durch die Anwesenheit einer Dame. Und nachdem sie den ersten Eindruck der Fernsicht genossen, setzten sie sich abseits und begannen den Rucksack auszupacken. Es war wenig darin, nur ein Block und Aquarellfarben für den jüngeren der Brüder, der, wenn es die Zeit irgend erlaubte, Skizzen anfertigte.

Aber erst verzehrten sie ihr karges, fast ärmliches Frühstück: ein Stück Schwarzbrot und Speck. Wasser wurde dazu aus einer mitgebrachten Flasche getrunken, die einst in längst verschollenen Tagen Rotwein enthalten hatte.

Nun kamen auch die beiden Führer mit ihren Herren, einem älteren mit grauem Haar und Schnurrbart und einem jüngeren, der ihm auffallend ähnlich sah. Es stellte sich heraus, daß es Vater und Sohn waren.

Der Ältere begann sofort, während ihm Hansl das Seil abband, mit leise sächsischem Tonfall zu erzählen:

»Ja, ja, es geht doch nicht mehr ganz so wie frieher mit dem Steigen. Man wird steif mit den Jahren. Aber ich kann's nu mal nicht lassen. Wer mal vom dollen Berge gebissen is, der bleibt dabei, sage ich immer zu meinem Jungen. Und 's is ja so scheen! So wunderscheen! Nee, is das 'n scheener Kerl der Cristallo.«

Nun wendete er sich an Klara:

»Meinen Sie nicht auch, gnädige Frau?«

Er grüßte:

»Alle Achtung vor jeder Dame im allgemeinen, aber im besonderen vor eener Bergsteigerin. Und der Cristallo! Ganz stramme Kletterei, gnädige Frau, was?«

Klara lächelte. Joachim aber platzte mit einem Male heraus:

»Oh, das ist nicht schlimm. Sie ist auch auf der kleinen Zinne gewesen!«

Der Herr pfiff durch die Zähne und grüßte abermals:

»Da mache ich Ihrer Frau Gemahlin aber mei Kompliment.«

Der Professor wartete, Dörstling oder Klara sollten die irrige Annahme richtigstellen. Nichts erfolgte. Er sah prüfend von einem zum andern. Eine unbewußte Unruhe kam wieder über ihn, als erwache der überwundene Verdacht von neuem.

Joachims und Klaras Augen tauchten wieder ineinander, lange und tief. Sie dachten nicht an die Gegenwart anderer, des Mannes, wie Schmetterlinge, die sich haschen, die Gefahr übersehen, die ihnen vom Netz des Fängers droht.

Es war der Blick Klaras von vorhin, der Blick, der einem andern nicht gelten durfte, der Blick, der ihren Mann vorhin getroffen wie der Stich eines giftigen Tieres.

Da trat der Professor plötzlich dazwischen und sagte, fast grob:

»Meine Frau hat schon viele Hochtouren gemacht!«

Der ältere Herr stellte sich mit einem Male vor, sein Name wäre Hempel. Das war so komisch, daß Klara auf ihres Mannes Erregung nicht aufmerksam ward, denn sie mußte sich alle Mühe geben, das Lachen zu verbeißen.

Inzwischen hatten es sich die Führer bequem gemacht, und nachdem sie Vater und Sohn Trinkflasche und Frühstück gegeben und selbst etwas gegessen hatten, zündeten sie sich die Pfeifen an und streckten sich neben Jörgl auf die in der Sonne warm gewordenen Steine, zum Schutz gegen die Sonnenstrahlen die Hüte im Gesicht.

Währenddessen saß weit drüben an der Flanke des Cristallo zum Paß hinunter Ernst Weber und skizzierte den Gipfel des Piz Popena, auf den man, da er vierzig Meter niedriger war, herabsah. Nur durch den Cristallopaß getrennt, erschien er zum Greifen nahe. Der andere Bruder nahm das Tagebuch vor, schrieb sich die Zeiten der Besteigung auf, machte eine mineralogische Notiz und unter Zuhilfenahme von einigen Pflanzen, die er aus der Rocktasche zog, mehrere botanische.

Dann blickte er nach der Uhr. Es war Schlag elf.

Der Wind hatte sich gedreht, er blies jetzt von Cortina herüber, und er trug Töne herauf: Glockentöne aus der Tiefe.

Hansl Unterwurzacher schob den Hut vom Gesicht und richtete sich auf. Er sprang auf die Beine und lauschte hinaus. Auch der Sepp Kuntner erhob sich, und der Jörgl Tschurtschenthaler folgte.

Deutlich hörte man eine helle, hohe Glocke. Ab und zu riß der Wind den Laut ab, doch er kehrte wieder.

»Sie läuten!« flüsterte Klara, als dürfe sie nicht laut reden, um den Ton nicht zu unterbrechen, der ganz schwach heraufklang, wie aus einer fernen Welt, zu der sie hier oben nicht mehr gehörten.

Und Sepp, schwarz wie ein Neger, mit einem goldenen Ring im rechten Ohr, sagte langsam, feierlich:

»'s ischt einer gestorben in Cortina.«

»Sell ischt das Totenglöckle!« fügte Jörgl hinzu.

Dann ließen sich nacheinander die drei Führer auf ein Knie nieder und nahmen die Hüte ab. Und unwillkürlich folgten ihnen schweigend die andern.

Der Tod hielt Einkehr im Tal. Er verband die einsamen Bergwanderer mit der Gemeinschaft der Menschen, wie er ihnen allen bevorstand, ob unten ein langer, quälender Strohtod oder oben ein schneller, tiefer Fall.

Und der große, starke Mann, der ihm schon so oft ins Auge gesehen, im Beruf, daheim bei seinen Nebenmenschen und auf luftigen Höhen, wenn er vielleicht ihm selbst gedroht, nutzte den Augenblick der großen Stille, während der nur immer abgerissen das helle Läuten aus der Tiefe drang, die Hände zum Gebet zu falten mit dem Gedanken, nicht mit bestimmten Worten: Gib, daß ich mich irre, gib, daß meine Augen schlecht gesehen, laß mir an meinem Weibe das nicht widerfahren und nicht in meinen Bergen, ich wäre sonst der Unglücklichste der Menschen.


 << zurück weiter >>