Georg Freiherr von Ompteda
Aus großen Höhen
Georg Freiherr von Ompteda

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6.

Die Wolken sanken tiefer und tiefer um die jähen Wände der Zinnen. Sie wurden schwärzer und schwärzer, ringelten sich von allen Seiten um die Felskolosse und verdunkelten das Licht des Tages.

Die drei Bergwanderer nahmen die Pickel und eilten den Schutt hinab. Der Professor fuhr ab, setzte ganze Ströme von Steinen in Bewegung, daß es ein Rauschen und Rascheln gab, als würde Mais vom Boden durch den Ablauftrichter in das untere Stockwerk geschüttet. Er rutschte, sprang und lief mit dem Pickel in der aufgeregten Geröllflut steuernd, so schnell, daß ihm Klara nur langsam, Joachim fast gar nicht folgen konnte.

Er gab sich alle Mühe, um sich vor ihr nicht ungeschickt zu zeigen, doch immer mußte er fürchten, mit dem Kopf zuerst hinunterzuschießen, und die auftreffenden Felsstücke taten ihm weh, daß er hätte schreien mögen.

Aber der Professor drängte zur Eile. Sie huschten unter den Zinnen hin. Die Wolken hingen so tief, daß sie das Gefühl hatten, als liefen sie unter einer niedrigen Decke, jeden Augenblick in der Gefahr, anzustoßen. Die Sonne war verschwunden. An dem wilden Zackengrate des Paternkofels, unter dem sie jetzt der Dreizinnenhütte zueilten, bildeten sich mit einem Male Rauchballen, ganz leicht zuerst, immer dichter werdend, endlich beinah schwarz. Sie wirbelten um den Turm. Sie füllten alle Ritzen aus, sie senkten sich in alle Ritzen. Sie leckten an den Felsen herab, und schließlich rollten die Dünste auf dem Geröll hin, wie der Rauch eines abgefeuerten Geschützes sich über dem Boden wälzt.

Es war schwül, und den Bergsteigern brannten die Gesichter. Stumm schritten sie hin. Der Professor voraus. Klara schielte ab und zu rückwärts, wo Joachim bliebe. Er konnte kaum mit, obgleich er sich doch nur ausgeruht.

Da zuckte ein Blitz. Ganz kurz. Ein Wetterleuchten mehr. Kein Donner zu hören. Sie stiegen den Felshang zum Toblinger Riedel hinauf. Unwillkürlich wurden die Schritte kürzer. Der Atem verlangte es.

Als sie sich der Hütte näherten, war der ganze Himmel schwarz umzogen, und sie beschleunigten noch ihre Schritte, während der Donner grollte.

Das kleine Berghaus lag scheinbar ganz verlassen da, doch als sie eintraten, fanden sie ein paar Leute am Tisch.

»Grüß Gott!« sagte der Professor. Erstaunte Gesichter blickten ihn an, die den Gruß der Berge offenbar nicht kannten. Es waren ein paar Herren und Damen drunten aus Landro, die heraufgekommen waren, um auch einmal eine richtige Hütte zu sehen, eine richtige Bergtour zu machen.

Klara stellte den Pickel in die Ecke und nahm sofort Platz am Tisch. Sie zog das Taschentuch und betupfte sich das brennende Gesicht. Joachim setzte sich neben sie. Er ließ sich ein Viertel Rot geben, er konnte es nicht mehr aushalten vor Durst. Und auch Frau Hallbauer rief:

»Karl, bitte, besorge mir Wasser...«

Die Hotelgäste aus Landro blickten die Hochtouristen an wie Wundertiere, vor allem Klara. Sie bogen sich zur Seite, um festzustellen, daß sie dicke Stiefel anhabe und sogar Hosen. Dann wisperten sie miteinander und konnten sich gar nicht beruhigen. Endlich fragte eine der Damen, die eine – natürlich völlig durchschwitzte – seidene Bluse trug, den Hüttenwart ziemlich laut, so wie man etwa beim Kellner um Auskunft bittet:

»Wo kommen die denn her?«

»Von den Zinnen mein' i.«

»Ist das schwer?«

Der Sextener stemmte die Arme ein und machte ein verschmitztes Gesicht, indem er die Stadtdame und ihre Begleiter von oben bis unten ansah:

»A Herz muß man scho habn, denk i, und wissen S', kopfschiach darf man a nit sein!«

Einer der Herren erklärte überlegen:

»Er meint schwindlig!«

Ein anderer junger Mann, der zu dieser einen Tour frisch benagelte Zugstiefeletten trug, sagte von oben herab:

»Ach, die Führer halten einen schon am Strick, so schlimm ist die Sache jar nich. Die Kerls tun bloß so, um mehr zu verdienen.«

Die paar Worte zeugten von so schiefer Auffassung und derartiger Unkenntnis, daß man den Sprecher gar nicht ernst nehmen konnte. Der Professor verzog auch keine Miene, sondern ging zum Schlafraum, um die zurückgelassenen Gegenstände in den Rucksack zu packen. Doch Joachim zitterte vor Ärger. Er war wütend für Klara, deren Leistung er herabgesetzt wähnte, darum sagte er laut, aber zu ihr allein gewendet:

»Wissen Sie, daß es entsetzlich ist, diese Kletterei mit anzusehen? Ich habe immerfort geglaubt, ein Unglück müßte geschehen!«

Sie lächelte:

»Mein Mann ist so sicher!«

Aber das wollte er nicht hören, und er fuhr fort, um gewisse Einzelheiten denen drüben unter die Nase zu reiben:

»Ich hatte mir die kleine Zinne nicht so haarsträubend vorgestellt. Haarsträubend, anders kann ich nicht sagen. Das ist ja, als ob einer den Kölner Dom erkletterte.«

Sie hatte in gierigen Zügen ihr Glas geleert und sagte in der Erinnerung vor sich hin, während die Hotelmenschen drüben stumm lauschten:

»Allerdings, zwischen den Füßen hindurch sieht man gerade unter sich das Geröll.«

»Und wenn man losließe?«

»Fiele man senkrecht hinunter, ohne erst aufzuschlagen.«

»Haben Sie denn keine Angst?«

»Nein. Mein Mann hält doch. Ich gehe lieber mit meinem Mann als mit einem Führer.«

Nun waren die am andern Ende des Tisches ganz ruhig geworden, und jetzt wußten plötzlich die Herren ihren Damen zu bestätigen, nachdem sie sich noch einmal im Baedeker orientiert, wie gefährlich und schwierig dennoch die Zinnen wären.

Währenddessen trat der Professor abermals vor die Hütte. Ein dunkler Vorhang hatte sich rings über die ganze Berglandschaft niedergelassen. Wieder schien die Hütte allein zu stehen, wie eine Arche Noah in den zu Stein erstarrten Sintflutwassern.

Plötzlich hörte man Tritte, Stimmen: die Partie Jörgl Tschurtschenthalers tauchte auf. Sie begrüßten sich kurz. Die Herren waren außer Atem, so hatten die Führer den Abstieg beschleunigt. Jetzt wären sie von dem Paternsattel ab Trab gelaufen, behauptete der Statthaltereirat. Er hatte augenblicklich nur einen Gedanken: etwas zu trinken, und er stürzte in die Hütte.

Die Führer blieben draußen stehen und sprachen über das Wetter. Es würde nichts machen, meinte der Jörgl, nur ein Gewitter, »Schuß und Knall«, wie er es ausdrückte. In einer halben Stunde müßte es vorbei sein. Dabei kam heraus, daß Pacifico Menardi mit den Herren allein nach Schluderbach zurückkehren wollte. Er, der Jörgl, bliebe oben, denn die Österreicher hielten Rasttag, und er sollte morgen einen Herrn aus München erwarten.

Da kam dem Professor ein Gedanke: er befand sich nun einmal hier oben, da hätte er gern die kleine Zinne auch noch von Norden gemacht – einen Anstieg, den er nicht kannte. Seine Frau nahm er dazu nicht mit. Er tat nur Dinge in den Bergen, denen er Klara gewachsen fühlte, und das konnte sie nicht. Einmal war es zuviel für einen und gar den ersten Tag, dann aber galt diese Tour für eine der schwersten, wenn nicht die schwerste, in den Dolomiten und damit in den Alpen überhaupt.

Sie war an den Grenzen des Möglichen, und da man nach Ansicht der besten Kletterer nur hinauf konnte, ein Abstieg aber kaum ausführbar schien, so beschloß der Professor, Jörgl Tschurtschenthaler mitzunehmen. Er sollte ihm als Wegweiser dienen, um Zeitverlust zu ersparen. Seiner Unterstützung durch das Seil bedurfte er nicht.

Jörgl war so glückselig, daß er die Tour allein aus Freude an der Sache machen wollte. Eine Bezahlung nähme er nicht an. Aber da wurde Professor Hallbauer fast grob:

»Jörgl, dann geh' ich nicht mit!«

»Sell wär gefehlt!«

»Also dann bleibt's dabei ....«

Der Führer überlegte, hob die Hand und schlug ein. Es knallte. Im gleichen Moment zuckte ein Blitz. Der Donner folgte fast unmittelbar und rollte in den Bergen Echos weckend endlos hin. Nun begann das Gewitter.

Der Himmel hatte sich jetzt schieferschwarz gefärbt. Aber die Wolken standen höher als vorhin, und rings ward ein Streifen Horizont frei, in dem die Zinnen Einschnitte bildeten gleich gewaltigen Säulen, auf denen das Gewölbe lastete.

Da zuckte ein furchtbarer Blitz gerade herab links über dem Trümmergrat des Paternkofels. Der Donner folgte unmittelbar. Noch eine Entladung folgte, wie eine feurige Peitschenschnur, horizontal durchgezogen. Es krachte kurz.

Und nun begann ein augenblendendes Leuchten von allen Seiten, als würden auf ein Signal rings auf den Höhen die Feuerzeichen entfacht, den Sturm des Krieges, des Ausstandes durch das freie Bergesland Tirol zu tragen.

Dem geblendeten Auge schien immer tiefe Nacht nach der grellen, schwefelgelben Helle zu folgen, als hätte die Pupille zu lange in die feurige Glut eines Hochofens gestarrt.

Schaurig und doch groß rollten die Donner zwischen den Felsen, ein Echo weckend nach allen Seiten. Die Erde schien zu beben. Die Luftwellen, die das Trommelfell erzittern ließen, kamen nicht zur Ruhe. Eine Schlacht schien entbrannt. Der Geschütze Blitz, Knall, Rauch ward sichtbar und tönte von überall, umrauschte, umblendete, umtoste den einsamen Bergsteiger in der Tür der kleinen Hütte, des einzigen, armen, winzigen Werkes von Menschenhand auf Stunden in der Runde.

Drin am Tisch gab die Hotelgesellschaft ihrer Beklemmung Ausdruck. Die Damen versteckten ihr Gesicht. Auch Klara zuckte ein wenig zusammen, und Joachim kniff bei jedem grellen Leuchten die Augen zu.

Der Professor aber blieb draußen. Er preßte die Hände zusammen und starrte mit weitgeöffneten Augen in das gewaltige Schauspiel, das Riesenfeuerwerk, das die Elemente entzündeten. Wie er gestern abend hinausgegangen, um allein zu sein, so jetzt. Dann genoß er. Ein anderer mit seinen Ausrufen, ja nur durch seine Gegenwart hätte ihn gestört. Er hätte nicht gewußt, was antworten, aber er empfand es in den Tiefen seiner Seele wie eine Erschütterung, eine Reinigung, eine Erhebung. Er fühlte sich schwach und klein in dieser Größe, in Gottes Wettern und Leuchten. Der Mensch konnte geblendet nicht blicken in des Herrn des Himmels und der Erden übergewaltige, flammende Augen.

Aber er fürchtete sich nicht. Er stand demütig vor dem Riesenschauspiel, mit dem Gefühl: trefft mich, ihr Blitze, zermalmt mich, was ist daran gelegen. Ich nehme es hin als mein Schicksal. Ich blicke euch furchtlos ins Auge, komme es, wie es kommt. Mit dem gleichen Gefühl, das ihn über lotrechte Wände hinanführte, ohne zu zucken, über messerscharfen Eisgrat, ohne zu beben. Mit dem Gefühl, das auf schwer errungenem Gipfel sich entlud, in potzeinfachem Dank zum Schöpfer, der ihm erlaubt, zu stehen, wo keiner vor ihm gestanden und nur wenige stehen würden nach ihm.

Und er strengte die Augen an und starrte mit angehaltenem Atem in das Toben der Elemente. Der Wind kam daher auf leisen Füßen. Der Wind nahm die Wangen voll. Der Wind begann zu blasen. Er säuselte, er sauste, er pfiff, er dröhnte. Er wurde zum Sturm, kam in Stößen über die Höhe gefahren. Stürmte drüben gegen die gewaltigen Felsen, brach sich, fuhr im Kessel herum, berannte andere ewige Bergesstirnen.

Er versuchte es anders: er kam von oben, drückte herab, daß die Dünste an den Felsen in die Höhe fuhren, ausweichend, ängstlich fliehend wie Wasser in der Schale, in die man den Krug hastig setzt.

Und als hätte das Zusammenpressen der Wolken sie gelöst, fiel mit einem Male sanft der Regen.


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