Georg Freiherr von Ompteda
Aus großen Höhen
Georg Freiherr von Ompteda

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4.

Der Professor hatte sich zu seiner Frau gesetzt. Er nahm die Wasserflasche und das Butterbrot aus dem Rucksack und reichte beides Klara.

»Denkst du auch an mich?« fragte sie; und als er sie anblickte, sah er, daß ihre Augen feucht schimmerten. Er erkundigte sich, was ihr fehle, erfuhr es nicht und schob es schließlich auf die Anstrengung. Aber er bemühte sich um sie. Er wollte seinen Rock ausziehen, daß sie ihn umhängen könne, falls sie fröre, doch Klara meinte, nun wieder lächelnd, wie mit tieferer Bedeutung:

»Mich friert innerlich.«

Er lachte und gab ihr ein Gläschen Kognak zu trinken aus einem winzigen Fläschchen, das er für sie bei sich zu führen pflegte.

Dann erklärte er ihr die Fernsicht.

Vor ihnen lagen die Cadini, einer wilden Seeräuberburg mit Wällen und Türmen nicht unähnlich. Dahinter die riesige Sorapitz, eine gewaltige Mauer, deren Felsenzirkus einen Gletscher umschloß. Er nannte andere Namen: Monte Antelao, Pelmo, die Monti Marmaroli. Dann zeigte er den furchtbaren, sich wie eine Riesenmauer aufreckenden Zwölfer. Und als sie sich umdrehten, ward über der Dreischusterspitze und den andern Dolomiten fern über dem Pustertal die Eiswelt sichtbar. Aber dort lagerten Nebel. So fiel ihr Blick nieder in die Tiefe, und Klara rief freudig:

»Mein Gott, sieh mal da unten die Dreizinnenhütte! Gott, ist die klein!«

Das winzige Gebilde von Menschenhand erschien ihnen so jämmerlich wie der Mensch in dieser gewaltigen Natur. Ein Sandkorn, ein Nichts, das eine Lawine fortfegt, ein Orkan in die Luft führt, eine unterhöhlte Felswand in ihrem Sturze begräbt.

Und angesichts dieser rings um sie gebreiteten Schönheit, im Gedanken an den schmalen, luftigen Felsensitz, auf dem sie ruhten, stürmten überwältigende Gedanken in des Mannes Seele. Er dachte an die ungezählten Feierstunden, die ihm schon die Berge geschenkt, ihm, dem norddeutschen Geistesarbeiter, der oft wochenlang bei seiner Berufstätigkeit nicht dazu kam, täglich mehr als ein paar hundert Schritte zu gehen, jedes Jahr wieder Gesundheit, Nervenruhe und eine heitere Seele wiedergebend.

Er holte aus ihnen neue Kraft, jedesmal, wenn er sie berührte, gleich dem Riesen der Sage.

Schon jetzt fühlte er sich wieder frisch und kräftig, als läge nicht dreiviertel Jahr der aufreibendsten Arbeit hinter ihm. Er dachte an den Winter, der wie jeder Winter vergangen war in den zwölf Jahren, seitdem er in dieser ruhigen, stillen Ehe lebte, wie er sie sich immer gewünscht hatte.

Er blickte Klara von der Seite liebevoll an. Was war sie ihm! Alles, alles! Er hätte nicht leben können ohne sie, ja wirklich nicht leben können! Überall hätte sie ihm gefehlt. Er wollte nach Haus kommen und ein trauliches Heim finden. Er wollte eine liebende, sorgende Hand fühlen, die ihm den häuslichen Ärger vorenthielt, ihn die kleinen Nadelstiche des Lebens nicht empfinden ließ.

Dazu war sie wie geboren.

Und er war ihr dankbar dafür. Nur sagte er es nicht. Alles verschloß er in seiner Seele, wie er ihr jetzt kein Wort des Lobes gespendet über diese Leistung, die nur ganz wenige Frauen vor ihr getan, und die den meisten andern ewig unmöglich blieb.

Sie aber hörte gern Lob. Sie wollte deutlich und zärtlich vernehmen, daß sie es recht gemacht, wenn sie etwas Besonderes getan. Sie fühlte daraus die Liebe.

Er betete sie an, aber er sagte es ihr nicht. Nie mit einem Sterbenswörtchen. Eine Äußerung darüber wäre ihm wie eine Entwürdigung erschienen. Und wenn sie etwas leistete, so hätte er sie in brennendem Ehrgeiz nur noch vollkommener haben wollen.

Klara fragte:

»Bist du denn mit mir zufrieden?«

Er strich ihr die Wange:

»Natürlich!«

Aber sie war noch erregt von ihrer Leistung:

»Bloß natürlich?«

»Du Närrchen, was soll ich mehr sagen. Das war doch selbstverständlich für dich!«

Sie blickte nachdenklich über die fast senkrechte Felsenmauer auf die Schulter des Berges hinab und darüber noch tiefer auf das Plateau, das scheinbar nicht mehr von dieser Welt zu sein schien, so fern lag es dort unten, unscharf im bläulichen Duft.

Wie sie so in Sinnen verloren saß, klang mit einem Male ein Laut herauf, dumpf wie etwas, das einem nur im Traum erscheint, zu dem nur die flüchtigen Gedanken unbewußt schweifen: ein Schrei.

Sie lauschte. Der Ruf wiederholte sich. Es war Joachim. Er dachte ihrer, und unwillkürlich zog sie das Taschentuch, richtete sich vorsichtig auf, stand, während ihr Mann ihre Knie umschlang, und wehte hinab. Der Sonnenschein umspielte ihr wirr gewordenes Haar, und auf den nußbraunen Härchen am Hals glitzerte es und glänzte. Wie ein weißer Vogel, der die kahle Felszinne umschwebte, flatterte das Tuch hin und her.

Die Verbindung von diesen erhabenen Einsamkeiten herab zur Erde schien hergestellt.

Da ward es auch drüben an der riesigen, sie gewaltig überhöhenden, großen Zinne lebendig. Sie verbarg die Aussicht nach dem Ampezzaner Tal. Von dort rief jemand herüber, und man verstand ganz deutlich:

»Photographieren! ...«

Es waren die Brüder Weber, die wahrscheinlich noch nicht weiter vorwärtsgekommen waren, weil die vorausgegangene Partie der beiden Österreicher mit den zwei Führern sie hinderte.

»Sie wollen uns auf dem Gipfel aufnehmen«, meinte der Professor und trat an den Steinmann, wohin ihm Klara vorsichtig, immer mit einem scheuen Blick in die dicht neben ihr gähnenden Abgründe folgte. Er hielt sie am Seil und rief den Studenten hinüber, ob die Stellung gut sei.

Es machte den Eindruck, als ständen die Brüder drüben kaum einen Steinwurf entfernt. Man konnte sich ganz gut verständigen. Der ältere bat, eine Stellung einzunehmen wie »Seilanlegen«, und der Professor sagte zu seiner Frau:

»Kläre, wenn wir gleich an den Abstieg gingen?«

Sie balancierte über den Grat, auf dessen mosaikartig zerplatzten, weißgrauen Kalkplatten Schutt lag, Geröll, lange Steinstücke gleich plumpen, spitzen Messern der Steinzeit, Platten, Felsprismen, von der Natur fast wie von Menschenhand übereinandergetürmt. Eine Erschütterung, ein in einem gewissen Winkel auftreffender Sturmstoß, eine weitere Ausdehnung durch die Sonnenwärme, ein Zusammenziehen durch die eisige Kälte der Nacht hier oben, und sie kamen aus dem Gleichgewicht und stürzten in die Tiefe: Die Waffe der Berge gegen ihre Angreifer, Todesgeschosse, die oft schon den verwegenen Menschen erreicht, der die hehre Einsamkeit der großen Höhen zu stören wagte.

Klara ließ sich nieder und fragte im ersten Moment ängstlich, bis sie die Nerven wiedergefunden:

»Hältst du mich auch?«

»Sei unbesorgt!«

«Vorwärts oder rückwärts?«

»Zur Aufnahme vorwärts. Nachher mußt du mit dem Gesicht zur Wand klettern. Übrigens ist's eigentlich ganz gleich, denn wir werden so klein auf dem Bilde, daß man uns doch nicht erkennt.«

Das ärgerte sie. Er war immer all solchem so abhold. Sie wollte gerade gesehen sein. Das machte ihr besonderen Spaß.

Darum beugte sie sich übermütig weit vor, damit sie sich gegen den Himmel weit abhöbe, und rief lachend:

»So, nun bitte recht freundlich!«

Er aber setzte sich sofort auf den Fels, verankerte beide Füße, hielt das Seil in der rechten Hand und versicherte es noch mit der linken, indem er es um einen herausstehenden Block schlang. Dabei rief er:

»Kind, nicht unvorsichtig sein!«

Da klang auch schon von drüben mit einem fröhlichen Hutschwenken ein lautes:

»Danke sehr, glückliche Reise!«

Und der Professor ließ Klara am Seil die schreckhaft steile Turmwand im Zsigmondykamin niedersteigen. Während sie kletterte, tönte schwach der Ruf Joachims aus der Tiefe. Drüben antworteten mit einem Juchzer von der nahen, großen Zinne die beiden Studenten, und ihnen wieder tönte eine Antwort vom oberen Band ihres Berges: Jörgl Tschurtschenthaler brüllte aus Leibeskräften.

Überall war Leben an diesem wunderbar klaren, reinen Sonnentage. An allen Hochgipfeln des Gebietes kletterte es herum, überall rückten kecke Menschenkinder den ewigen Felsenhäuptern auf den Leib: gesunde, kräftige, glückliche Menschen, die sich rein baden wollten in den luft- und licht- und sturm- und sonnenscheinumfluteten Höhen von all dem stickigen Dunst der Tiefe daheim.

Sie wollten sich Gesundheit holen hier oben, wollten ihr Herz weiten und ihre Sinne, den seligen Augen Licht geben und Sonnenglanz, furchtbare Blicke in grausige Tiefen, milde auf liebliche Triften und Weiden, Fernblicke ins Tal hinab wie zu fernen Gipfeln, auf denen man einst gestanden, Fernblicke zum Himmel empor, dem sie näher waren, von dem sie keine Erdenlast mehr schied, zu dem sehnsuchtsvoll sie die Hände strecken konnten, erkennend wie arm und klein und schwach, ein Nichts wir Menschen sind, in der Hoheit der Natur demütig werdend.

Menschen, die dort unten in den Tälern vielleicht geglaubt, wunders was zu sein, und die hier erkennen durften, beschämt aber gereinigt: wir sind ein Sandkorn, ein winziger Stein nur hier oben, wie sie die Berge seit Billionen Jahren in unerschöpflicher Fülle niedersenden als Steinfall in die Tiefe. Und doch sieht keiner die Häupter schwinden, das macht, es sind deren Milliarden Milliarden, und einer bedeutet nichts.

In den Tälern blickte man wohl hinauf zu den Riesen, die aber, die hinunterblickten von dort oben, sahen alles nur winzig und weit.

Die dort unten konnten, blind von Erdenstaub, von Schwere und Dunst der stickigen Tiefe, nichts ahnen von Gottes Majestät hier oben in seiner Natur. An ihnen hing lähmend der peinliche Erdenrest, ihres Menschtums flügellose, bleierne Bürde. Sie ahnten nichts vom Aufschwung der Glücklichen, die den Wolken näher standen als sie, vielleicht über den Wolken dort oben.

Sie schimpften am Ende gar über leichtfertige Menschenkinder, die ihr Leben aufs Spiel setzten, die Gott versuchten, indem sie eindrangen dorthin, wohin der Mensch nicht gehört.

Jene aber, denen ihr Schöpfer gesunde Glieder und ein tapferes Herz geschenkt, saßen dort oben, ferne von der Unkultur der Städte, hoch über den Kleinlichkeiten der Täler, ein Glück genießend, das uns Menschen das herbste, aber höchste bleibt, solange wir uns Kämpfer nennen hienieden: überwunden zu haben.


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