Max Nordau
Paradoxe
Max Nordau

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Blick in die Zukunft

Ich habe es gewagt, auf die große schwarze Tafel der Zukunft ein Bild zu zeichnen, das Bild von Ereignissen, an deren Eintreffen ich glaube. Auf der Tafel ist ungeheuer viel leerer Raum, ich kann der Versuchung nicht widerstehen, noch eine kleine Ecke mit Phantasie-Zeichnungen zu bedecken.

Die nächsten Menschenalter werden, wie ich im vorigen Kapitel ausgeführt habe, die gewaltsame Lösung der Nationalitätenfrage sehen. Die kleinen und schwachen Völker werden verschwinden, das heißt ihre Sprache und Eigenart verlieren, wie die Wenden in der Lausitz und in Mecklenburg, wie die Celten in der Bretagne, in Wales und Schottland. Nahverwandte Stämme werden sich zusammenschließen und eine einzige große Nation zu bilden suchen, wie es Nieder- und Oberdeutsche, Provenzalen und Nordfranzosen bereits gethan haben, wie die Slaven unter russischer Führung, wie die Skandinaven es zu thun beginnen. Ausgewanderte Gruppen mächtiger Völker werden entweder untergehen oder mit Unterstützung der Hauptmacht ihres Volks sich zu Herren der von ihnen besiedelten Gebiete emporkämpfen und diese ihrem Nationalstaate als Teile angliedern. Das allgemeine Ringen und Drängen, Schieben und Stoßen wird für eine Weile ein chaotisches Durcheinander der Völker schaffen, aus dem schließlich einige wenige gewaltige Bildungen sich herauskristallisieren werden. Dann wird es in Europa nur noch vier oder fünf große Nationen geben, von denen jede vollständig Herrin in ihrem Hause sein, alle fremden und störenden Elemente ausgestoßen oder aufgesogen haben und keine Veranlassung kennen wird, über ihre Grenze anders als gutmütig und zu freundnachbarlichem Geplauder hinauszusehen. Welche Nationen nach dem großen Kampfe übrigbleiben werden, das wird nicht die Politik der Kabinette, nicht der Genius einzelner Staatsmänner, überhaupt kein Fehler und keine Großthat, keine Beschränktheit und keine Geisteskraft leitender Personen, sondern die eingeborene, natürliche Lebenskraft der Völker bestimmen, die in allen möglichen Formen sichtbar werden kann, als Leibestüchtigkeit wie als Fruchtbarkeit, als Überlegenheit auf dem Schlachtfelde wie als Vorsprung in Gesittung, Kunst und Wissenschaft, als unüberwindliches Zusammengehörigkeits-Gefühl wie, als Zähigkeit im Festhalten an der Nationalität. Ich glaube nicht, daß es Zufall ist, ob ein Volk zahlreich oder gering ist. Die Anzahl ihrer Individuen scheint mir auch im Tierreich einer der wesentlichen Züge, eins der kennzeichnenden Merkmale einer Gattung zu sein. Wenn die Celten fast überall verschwanden, wenn die Griechen es nie auf mehr als einige Millionen bringen konnten, wenn Magyaren, Albanesen, Basken, Romanschen ganz kleine Völker blieben, so ist es, weil es nicht in ihnen lag, große zu werden. Zur Zeit Alfreds des Großen gab es etwa zwei Millionen Engländer und wahrscheinlich (geschichtliche Angaben sind darüber nicht vorhanden) ebensoviel Skandinaven. Heute zählt England 39 Millionen Einwohner, alles skandinavische Land zusammen bloß acht Millionen. Die klimatischen und Bodenverhältnisse können es nicht sein, die ein so ungleiches Vermehrungs-Ergebnis herbeigeführt haben; denn Dänemark und das südliche Schweden und Norwegen sind vom größten Teile Englands nicht wesentlich verschieden und überdies haben die Engländer sich nicht auf ihre Insel beschränkt, sondern den größten Teil der Erde mit ihrer überschüssigen Volkskraft besiedelt. Ebenso ist es nicht aus klimatischen und Boden-Verhältnissen zu erklären, daß Frankreich zu Anfang dieses Jahrhunderts 22 Millionen Einwohner hatte und gegenwärtig 38 Millionen zählt, während die Bevölkerung Deutschlands in derselben Zeit von 16 Millionen auf 55 gestiegen ist. Die Franzosen hatten das günstigere Klima, die größere Bodenfläche, das fruchtbarere Land für sich und sind doch so bedeutend hinter den Deutschen zurückgeblieben. Es handelt sich also offenbar um eine organische Erscheinung, um eine leibliche Eigentümlichkeit, die von allem Anfang in einem Volke liegt, durch Blutmischungen und ungünstige Daseinsbedingungen allerdings verändert und verkümmert werden kann, unter leidlich naturgemäßen Verhältnissen aber immer wieder vorwaltet und auf die Dauer das unabwendbare, durch keine Menschengewalt zu verhindernde geschichtliche Ergebnis herbeiführt, daß ein Volk sich über weite Gebiete ausbreitet, mit jedem Jahrhundert zahlreicher und mächtiger wird und zuletzt ganze Erdteile beherrscht, während ein anderes Volk, das ursprünglich hinter jenem nicht zurückstand, allmählich aufhört, mit dem Nachbar Schritt zu halten, mit jedem Jahrhundert mehr zusammenschrumpft, immer mehr an Ausdehnung und Bedeutung verliert und zuletzt nur noch ein Schattendasein führt oder gänzlich untergeht.

So gelangen wir zu einem Europa, das sein inneres Gleichgewicht gefunden hat und in welchem die übriggebliebenen wenigen Völker an Gebiet, Macht und Einheitlichkeit all das erlangt haben, was sie mit höchster Anspannung aller organischen Kräfte überhaupt erlangen konnten. Ein europäisches Volk achtet dann das andere und betrachtet es wie eine unwandelbare Naturerscheinung, mit der man wie mit etwas Gegebenem rechnet. Man sieht die Grenzen als etwas so Unabänderliches an wie die des Festlandes gegen das Weltmeer und ein Russe denkt so wenig daran, in deutsches Land, oder ein Deutscher, in italienisches einzubrechen, wie ein Vogel, unter dem Wasser, oder ein Fisch, in der Luft leben zu wollen. Jedes Volk arbeitet im eigenen Lande an der Verbesserung der Daseinsbedingungen, räumt nacheinander alle Hindernisse weg, die sich der freien und allseitigen Entfaltung des Individuums, der höchsten Verwertung aller Kräfte, dem denkbar vollkommensten Wohlbefinden der Einzelnen wie der Gesamtheit entgegenstellen, und errichtet schließlich in allmählicher ruhiger Entwicklung oder mit gewaltsamen Umwälzungen die Formen des Staats, der Gesellschaft und des Wirtschaftslebens, die ihm oder seiner großen Mehrheit die passendsten scheinen. Neben intensivem Geistesleben haben die Völker nur noch eine allgemeine Beschäftigung: die, der Natur das tägliche Brot abzugewinnen. Die Zahl der Menschen, die von Berufen leben können, welche nicht die Hervorbringung von Nahrungsstoffen zum Gegenstand haben, wird immer kleiner. Ausgedehnteste Verwendung der Naturkräfte, Erfindung sinnreicher Maschinen macht neun Zehntel der Arbeiter entbehrlich, die heute im Gewerbebetrieb beschäftigt sind. Eine Organisation der Gesellschaft auf Grund der Solidarität verwandelt ganze Gemeinden in Verbrauchsgenossenschaften und unterdrückt den kleinen Zwischenhandel. Alles, was sich sonst als Krämer und Handlanger durch die Welt bewegte, muß zum Acker zurückkehren und die Scholle bearbeiten. Dabei fährt die Nation fort, sich zu vermehren, die Menschen rücken dichter zusammen, das Land, das jedem Einzelnen zugemessen werden kann, wird immer kleiner, der Kampf ums Dasein immer schwieriger. Man verbessert die Methoden des Ackerbaus und der Viehzucht, man verwandelt Wüsten in Gärten, Flüsse und Seen in Fischweiher, das Land bringt Erträge, die man früher nicht geahnt hat, aber schließlich kommt der Augenblick, wo mit allen Künsten der Boden zu einer weitern Steigerung seines Ertrags nicht mehr gezwungen werden kann und die Brotfrage wie ein Gespenst vor der Nation aufsteigt. Woher für die Erwachsenen, deren Leben eine entwickeltere Gesundheitswissenschaft verlängert, für die Kinder, die jährlich zu Hunderttausenden geboren werden und sich guter Eßlust erfreuen, die Nahrung nehmen? Das einfache Hinausströmen über die Grenze, das friedliche Überschwemmen der Nachbarländer ist nicht möglich. Denn in ganz Europa herrschen ungefähr dieselben Zustände und die Schwierigkeiten des einen Volkes sind auch die der anderen Völker. Ebenso ist die Anwendung von Gewalt ausgeschlossen. Man führt keinen Raubkrieg mehr, um eine andere Nation auszurotten oder von ihren Sitzen zu verdrängen und diese an sich zu reißen. Die Gesittung hat überall ungefähr dieselbe Höhe erreicht, die Gewohnheiten und Einrichtungen sind einander ähnlich geworden, der lebhafte, weil leichte und billige Verkehr hat tausend innige Beziehungen zwischen allen Völkern geknüpft, man würde es als ein Verbrechen betrachten, die Hand nach fremdem Gut auszustrecken. Und nicht nur als ein Verbrechen, sondern auch als ein allzugefährliches und darum thörichtes Unternehmen. Denn alle europäischen Völker haben dieselben furchtbar vollkommenen Waffen, dieselbe Wehrverfassung und Übung in der Kriegskunst und wenn man mit einem Nachbarvolke einen blutigen Streit begänne, um Grund und Boden wegzunehmen, so hieße das nicht, dem Volksüberschusse, für den das eigene Land zu eng geworden, neue Wohnsitze erringen, sondern ihn, weil für ihn daheim kein Platz mehr ist, in den sichern Tod schicken. Übrigens besteht auch kein Nationalhaß mehr, denn die Kämpfe zwischen den Nationen liegen in der Vergangenheit, die volle Daseinsberechtigung jedes übriggebliebenen großen Volkes ist von den andern Völkern anerkannt und die in ununterbrochenem Gedankenaustausch begriffene, gleichmäßig gebildete Bevölkerung des ganzen Erdteils hat sich allmählich gewöhnt, alle Völker Europas als Mitglieder einer einzigen Familie zu betrachten und zwar nur in den eigenen Landsleuten Brüder, aber in den übrigen weißen Menschen doch Vettern zu sehen. So wenig die Bewohner einer Provinz eines Nationalstaates heute daran denken, in eine Nachbarprovinz einzufallen, die Bewohner zu verjagen und ihr Land an sich zu reißen, so wenig denkt dann ein Volk daran, an einem europäischen Nachbarvolk eine solche Gewaltthat zu verüben.

Was aber thun, um die Brotfrage zu lösen? Da tritt ein Naturgesetz in Wirksamkeit. Der Überschuß der europäischen Bevölkerung strömt nach der Richtung des geringsten Widerstandes aus dem Weltteile hinaus. Dieser geringste Widerstand wird von den farbigen Rassen geleistet, sie sind darum notwendig dazu verurteilt, von den Söhnen der weißen Rasse zuerst verdrängt, dann ausgerottet zu werden. Das Solidaritätsgefühl, das allmählich alle Europäer umfaßt, erstreckt sich nicht auf die Nichteuropäer. Die Gleichheit der Gesittung, welche die Völker Europas einander ähnlich macht, besteht nicht zwischen diesen und den Bewohnern der übrigen Weltteile. Die Anwendung der Gewalt, die in Europa aussichtlos ist, verspricht außerhalb seiner Grenzen leichte Erfolge. Der auswandernde Europäer entfernt sich von dem gemäßigten Himmelsstrich, der ihm am zuträglichsten und angenehmsten, nicht weiter, als unbedingt nötig ist. Er besiedelt zuerst ganz Nordamerika und Australien, ganz Afrika und Amerika südlich des Wendekreises. Dann besetzt er die südlichen Küsten des Mittelländischen Meeres und dringt in die wirtlichsten Teile Asiens ein. Die Eingeborenen versuchen zuerst, Widerstand zu leisten, sehen aber bald ihr einziges Heil in der Flucht. Sie weichen vor den Europäern zurück und wälzen sich ihrerseits über schwächere Hintersassen, die sie so behandeln, wie sie selbst von den stärkeren Weißen behandelt worden sind. Jedes Menschenalter bringt aber in Europa einen neuen überschüssigen Menschenschwarm hervor, der auswandern muß; der neue Guß spült über die Flutgrenze des ersten Stroms hinaus und die Spitzen der europäischen Kolonisation dringen immer tiefer in die fremden Kontinente, immer weiter gegen den Äquator hin vor. Die niedrigeren Rassen sind bald vollständig verloren. Ich sehe keine Rettung für sie. Missionare mögen ihnen noch so viel Bibeln und äußerliches Christentum beibringen, Theoretiker der Menschenliebe, die einen Neger oder Indianer nur in Abbildungen oder Hagenbeckschen Karawanen gesehen haben, noch so sehr für den Sohn der Wildnis und die Maori- oder Karaiben-Romantik schwärmen, der Weiße ist zum Kampfe ums Dasein besser ausgerüstet als alle übrigen Menschenrassen und sowie er das Land der Wilden zum Leben braucht, nimmt er es ohne Bedenken. Der schwarze, rote oder gelbe Mensch ist dann nur noch ein Feind, der ihm das Dasein erschweren oder unmöglich machen will, und er behandelt ihn so, wie er die tierischen Feinde seiner Kinder, Herden und Felder, wie er die großen Katzen Afrikas und Indiens, die Bären, Wölfe und Auerochsen der europäischen Urwälder behandelt hat: er vernichtet sie mit Stumpf und Stiel.

Der erste Haltepunkt auf unserer Wanderung in die Zukunft war die endgültige Abgrenzung der im Kampfe um ihre Sprache und Eigenart übrig gebliebenen großen Nationalstaaten, der die allgemeine Geistesentwickelung und große Vermehrung der Völker Europas folgte. Der zweite Haltepunkt ist die Besiedelung der ganzen Erde mit den Söhnen der weißen Rasse, nachdem ihr zuerst Europa und dann auch die gemäßigten Himmelsstriche der übrigen Weltteile zu eng geworden sind, und die Ausrottung der niedrigeren und schwächeren Rassen. Viele Jahrhunderte, vielleicht Jahrtausende wird es dauern, bis die Geißel des Hungers den weißen Menschen an den Oberlauf des Kongo, an die Ufer des Ganges und Amazonenstroms getrieben haben und bis der letzte Wilde der Urwälder Brasiliens, Neu-Guineas und Ceylons vor ihm verschwunden sein wird, aber schließlich wird dies geschehen und die ganze Erde dem Pfluge und der Lokomotive der Söhne Europas unterthan sein.

Tritt jetzt ein Stillstand ein? Hört die Entwickelung der Menschengeschicke auf? Nein. Die Weltgeschichte ist das perpetuum mobile und sie läuft und läuft ins Unabsehbare. Die weiße Menschheit, die allein auf Erden übrig geblieben ist, fährt fort, in ihren alten Stammsitzen auf dem europäischen Festlands und in den gemäßigten Himmelsstrichen der übrigen Weltteile kräftig zu gedeihen; die Völker vermehren sich, immer wieder wächst eine frische Jugend heran, die einen Platz unter der Sonne und ein Gedeck am Tische fordert, und nach mehreren Zeitaltern tritt immer wieder die Notwendigkeit ein, daß ein neues Geschlecht aus dem alten Stocke ausschwärme. Aber jetzt giebt es keine niedrigere Rasse mehr, die man mühelos und ohne das lebhafteste Gefühl der Vergewaltigung eines Bruders verdrängen und vernichten kann. Überall findet man die eigene Gesichts- und Leibesbildung, überall verwandte europäische Sprachen, Anschauungen, Sitten und Gebräuche, überall die vertrauten Staats- und Kulturformen wieder und überall hat ein zivilisierter weißer Mensch mit den heiligen Furchen des Pfluges sein Eigentumsrecht in den Acker eingeschrieben. Wohin sollen sich die Auswanderer wenden? Was soll mit dem Überschuß der Geburten in den ältesten Kulturländern geschehen? Ein Gesetz bleibt in voller Geltung und hilft aus der Not: wieder das Gesetz des geringsten Widerstandes. Niedrigere Rassen giebt es nicht mehr, aber die Abkömmlinge der weißen Einwanderer, die am weitesten nach dem Äquator vorgedrungen sind, gehen in dem tropischen Klima organisch zurück und stellen nach wenigen Menschenaltern eine untergeordnete Menschengattung dar, welche sich gegenüber den Stammgenossen in den günstiger gelegenen Ländern so verhalten wie jetzt Neger oder Rothäute gegenüber den Weißen. Daß dies so kommen muß, ist nicht zweifelhaft. Die mannhaftesten und reisigsten weißen Völker verkommen in heißen Gegenden nach wenigen Geschlechtsfolgen und wenn sie nicht durch Unfruchtbarkeit und Krankheit gänzlich aussterben, so werden sie doch so schwächlich und welk, so dumm und feige, so widerstandlos gegen alle Laster und verderblichen Gewohnheiten, daß sie bald kaum mehr die Schatten ihrer Väter und Ahnen sind. Das war binnen weniger als hundert Jahren das Los der herrlichen Vandalen, die als germanische Hünen in Karthago einbrachen und als weinerliche Siechlinge von elenden Byzantinern daraus vertrieben werden konnten. Derselbe Vorgang wiederholt sich auch heute in allen tropischen Ländern, die sich der Weiße unterwirft. Die englische Regierung bemüht sich vergebens, die Ehen ihrer englischen Soldaten mit weißen Frauen in Indien zu vermehren. Man hat niemals, wie sich Generalmajor Bagnold ausdrückt, »genug männliche Kinder großziehen können, um die Regimenter mit Trommlern und Pfeifern zu versehen«. In Französisch-Guyana sind nach einer schönen Arbeit von Dr. I. Orgeas von 1859 bis 1882 zwischen Europäern 418 Ehen geschlossen worden. Von diesen sind 215 unfruchtbar geblieben, die übrigen 203 brachten 403 Kinder hervor. 24 dieser letzteren wurden tot geboren, 238 starben vom April 1861 bis zum Januar 1882 in verschiedenen Lebensaltern. 141 Kinder stellten also nach 33 Jahren die ganze Nachkommenschaft von 836 verheirateten Europäern dar. Und wie sah dieser Nachwuchs aus! Es waren beinahe durchgehends kleinköpfige, im Wachstum zurückgebliebene, runzelhäutige, mit mannigfaltigen Gebrechen behaftete Geschöpfe. Die Siedler zwischen den Wendekreisen fallen also der Verkümmerung anheim; nicht nur entwickeln sie die mitgebrachte Gesittung nicht weiter, sie büßen sie sogar ein und behalten von ihrem Stammes-Erbgut bald nichts weiter als eine verdorbene Sprache und die Eitelkeit der Kaste, von deren leiblichen und geistigen Kennzeichen nichts mehr übrig ist. Angesichts dieser entarteten Sterblinge empfinden die kräftigen Einwanderer kein Bedenken und der schwache Widerstand, den sie leisten können, kommt nicht in Betracht. Eine frische Schicht von Menschen, die Land und Nahrung brauchen, ergießt sich daher über diese in Sonnenglut gebadeten Länder, die ältere, ausgedorrte unter sich begrabend und den aussichtlosen Kampf gegen das Klima von neuem aufnehmend. Die Äquatorial-Gegenden verrichten also in der zukünftigen Menschheit-Geschichte dieselbe Arbeit wie in der Meteorologie. So wie die kalten Wasser der Pole nach dem Gleicher strömen, hier verdampfen und in Gestalt von Dünsten und Wolken wieder zurückgesendet werden, so wie durch diese Verdunstung ein Fallen des Meeresspiegels eintritt, welches von neuen Wassermassen aus den kalten Gegenden ausgeglichen werden muß, so wie endlich auf diese Weise die Wassermassen aller Meere in beständiger Bewegung erhalten, die Regenverhältnisse auf der ganzen Erde geregelt und die entferntesten Länder fruchtbar gemacht werden, so strömen dann die Überschüsse der Geburten aus den alten Kulturländern nach den Tropen, gehen hier zu Grunde, verdampfen gleichsam und werden vom beständigen Nachguß wieder ersetzt. Der Äquator wird zum furchtbaren Dampfkessel, in welchem das Menschenfleisch schmilzt und verdunstet. Es ist eine Erneuerung des uralten Molochdienstes. Die Völker der mäßigen Zone werfen einen Teil ihrer Kinder in den Rachen des Glutofens und behalten dadurch Platz für eigenes Gedeihen und eigene Entwicklung. Das Bild ist grauenhaft, aber der Vorgang ist es nicht. Denn es ist kein schmerzlicher Tod, zu dem die Kinder der Völker verurteilt sind. Üppig lacht ihnen in den heißen Ländern ein überschwengliches Leben, lau umschmeicheln die Lüfte und Wogen ihre Glieder, Feld und Wald bieten die Fülle der Nahrung, ohne dazu gezwungen werden zu müssen, wonniger und leichter scheint ihnen das Dasein als den Vätern und Brüdern auf der alten widerspenstigen Scholle und mit süßen, brennenden Küssen, denen sie sich mit Schauern der Wollust hingeben, saugt ihnen die Sonne das Leben aus allen Poren. Es ist ein Sterben, das jede weichliche Natur dem rauhen Kampf ums Dasein vorziehen wird, es ist ein sanftes Verrinnen und Zerstießen, in das man geschmeichelt wird wie in einen Opiumtraum und das eher Neid als Mitleid erwecken kann.

Aber nicht ewig wirkt der Äquator als Dampfkessel oder Verdunstungs-Pfanne der Menschheit, nicht ewig ist er die Sicherheitsklappe, die sich öffnet, so oft in den alten Kulturländern der Druck zu stark wird. Es kommt ein Augenblick, wo sich die Verhältnisse vollkommen umkehren. Die Auskühlung der Erde schreitet vorwärts, der Eisgürtel der Pole gleitet tiefer und tiefer, schnürt sich um einen Breitengrad nach dem andern und erstickt immer neue Gegenden. Die Menschen wandern eifriger als je den Tropen zu, aber die heiße Zone ist jetzt nicht mehr die tückisch liebkosende Würgerin, sondern die Amme des Menschengeschlechts. Sie allein nährt ihre Bewohner noch reichlich, sie allein läßt sie sich voll entwickeln, fröhlich gedeihen und klug und stark bleiben. Alle Bildung und Gesittung zieht sich um den Äquator zusammen. Hier erheben sich die Paläste und Akademien, die Hochschulen und Museen, hier wird gedacht, geforscht, gedichtet und geschaffen. Hier allein leben sich die Menschen noch vollkommen aus. Um so schlimmer für die Lässigen, Bequemen oder Ängstlichen, die sich in den alten Ländern verspätet haben. Wenn auch sie sich endlich unter der Pressung der vordringenden Eismauer entschließen, den Wanderstab zu ergreifen, finden sie die behaglichen Sitze eingenommen und wohlgehütet von einem starken Geschlechte, das blühender und mächtiger geworden ist, während sie selbst von Kälte und Hunger geschwächt sind. Sie lagern an den Rändern des Zauberringes wie ein Rudel Wölfe und blicken mit wildgierigen Räuberaugen in die Lebensfülle hinüber, so oft sie aber den Versuch wagen, einzubrechen und sich Beute zu holen, werden sie von den kraftvollen Herren der gesegneten Erde in ihre Eiswüste zurückgejagt.

Und dann? Ja, was dann ist, das weiß ich nicht. Hier wird die schwarze Zukunft noch viel schwärzer, ich kann gar nichts mehr unterscheiden und so muß das Märchen ein Ende haben.


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