Max Nordau
Paradoxe
Max Nordau

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Dankbarkeit.

Als »eine lebhafte Empfindung künftiger Gunsterweisungen« hat der englische Satiriker die Dankbarkeit definiert. Er glaubte einen Witz zu machen und gab in Wirklichkeit eine das Wesen dieses Gefühls erschöpfende Erklärung. In allen gesund und natürlich empfindenden Individuen liegt der Dankbarkeit die deutliche oder unklare Erwartung weiterer erfreulicher Leistungen zu Grunde. Ist auf eine Fortsetzung oder Erneuerung der Wohlthaten durchaus nicht zu hoffen, so hört jede Erkenntlichkeit für den Wohlthäter auf oder wenn sie trotzdem noch fortbesteht, so ist dies nur eine Folge entweder organischer Gewohnheit oder durch die Gesittung geübter künstlicher Hemmung natürlicher Rückbildungsvorgänge im Gefühlsleben. Ich glaube mit den evolutionistischen Philosophen, mit Darwin, Spencer und Bain, daß alle menschlichen Gefühle ihren Ursprung in ihrer Notwendigkeit oder Nützlichkeit für die Erhaltung des Einzelwesens und der Gattung haben. Wir empfinden heute z. B. Liebe als eine Wonne, Mißbilligung unserer Handlungen durch die öffentliche Meinung als Unannehmlichkeit. Das ist evolutionistisch leicht zu erklären. Von zwei Urmenschen, deren einer bei den Liebesvorgängen angenehme Empfindungen hatte, während sie im Organismus des andern nichts derartiges erregten, wird der eine eifrig gestrebt haben, sich solche Empfindungen zu verschaffen, während der andere sich um sie schwerlich bemüht haben wird. Der eine wird viel, der andere wenig oder keine Nachkommen hinterlassen haben. In diesen wiederholt sich durch Vererbung die organische Eigentümlichkeit der Väter, die Liebeseifrigen werden immer zahlreicher, die Liebeskühlen immer seltener geworden und bald ganz ausgestorben sein, so daß nur solche Menschen übrig bleiben, in denen die Liebe mit wonnigen Empfindungen verknüpft ist. Ebenso wird von zwei Urmenschen derjenige, dem die Meinung seiner Stammesgenossen gleichgiltig war, leicht Handlungen geübt haben, die jene ärgern oder schädigen konnten; der Stamm wird sich das schwerlich haben gefallen lassen und ihm rasch genug durch Verjagung ungünstigere Daseinsbedingungen bereitet oder ihn kurzweg getötet haben; der andere dagegen, der fortwährend die Wirkung seines Thuns auf die Nebenmenschen in Betracht zog, wird mit dem Stamme gut ausgekommen sein, von demselben Hilfe und Schutz erfahren, dadurch leichter und sicherer gelebt und mehr Nachkommen erzeugt haben, denen er seine organische Eigentümlichkeit vererben konnte, so daß in der heutigen Menschheit nur noch Individuen anzutreffen sind, denen der Gedanke an die Feindseligkeit der öffentlichen Meinung eine Unlustempfindung erregt, welche stark genug ist, um sie von Handlungen abzuhalten, die eine solche Feindseligkeit wachrufen könnten. Ist nun aber Dankbarkeit ein Trieb, der sich durch den evolutionistischen Grundsatz erklären läßt? Durchaus nicht. Die Dankbarkeit kann nie einem Urmenschen nützlich gewesen sein, ihm nie bessere Daseinsbedingungen verschafft haben. Er zog aus diesem Gefühle keinen Vorteil und dessen Mangel hatte keinerlei Nachteil im Gefolge. Wenn man scharf zusieht, so findet man sogar, daß ein mit der Anlage zur Dankbarkeit behaftetes Individuum übler daran war als solche, die von ihr frei waren; denn während es seine Zeit mit Aufmerksamkeiten und seine Kraft mit Handlungen vergeudete, die ihm keinen denkbaren Nutzen bringen konnten, verwendeten die anderen Kraft und Zeit zu ihrem Vorteile. Die Dankbarkeit war und ist also in allen Fällen, wo sie nicht ein von Selbstsucht und Eigennutz eingegebenes Gefühl ist und den Zweck hat, einen Wohlthäter durch Unterwürfigkeit und Schmeichelei zu weiteren Wohlthaten zu verlocken, für die Erhaltung des Einzelwesens und der Gattung unnütz und konnte darum zu keinem natürlichen Triebe der Menschen werden. Wie erklärt es sich da, daß den religiösen Vorstellungen der Menschheit dennoch Dankbarkeit zu Grunde liegt, daß man die Götter für die Gaben lobte, die sie den Menschen bescherten, daß man sich ihnen dafür mit Opfern erkenntlich zeigte, daß man den Dahingegangenen, den eigenen Vorfahren wie den toten Stammeshelden, dankbare Verehrung erwies? Einfach aus den groben Irrtümern eines unwissenden Geistes. Die Menschen hielten die Götter, die toten Ahnen und Heroen für lebende Wesen, die noch immer die Macht haben, ihnen nützlich zu sein, und ihre Gefühle der liebenden Hingebung, ihre Opfer und Lobpreisungen waren keine Dankbarkeit für vergangene, sondern dringende Einladungen zu künftigen Leistungen. Noch heute wirkt die abergläubische Grundvorstellung vom Dasein eines persönlichen, mit Menscheneigenschaften ausgerüsteten Gottes und der Fortdauer des Individuums nach seinem Tode in den Gemütern mächtig nach und veranlaßt ab und zu, allerdings selten genug, Kundgebungen der Dankbarkeit für totes Verdienst. In einer fernen Zukunft, wenn dieser durch hunderttausendjährige Denkgewohnheit organisierte Aberglaube aus dem Gehirn der Menschen verschwunden sein wird, dürfte auch der Heroenkult in seiner heutigen Form bis auf die letzte Spur aufgehört haben. Vielleicht errichtet man dann noch großen Männern Denkmäler, hält ihre Gräber in stand und feiert ihre Gedenktage, aber nicht mehr mit der Vorstellung, ihrer Person ein Liebes zu erweisen, eine Schuld an sie abzutragen, für empfangene Wohlthaten eine Gegenleistung zu gewähren, sondern ausschließlich zu volkserziehlichen Zwecken, mit der Absicht, die Gestalt des gefeierten Heros als Suggestion auf die Masse wirken zu lassen und dieser die Nachahmung seiner Tugenden nahezulegen, und weil die Gesellschaft immer das Bedürfnis empfinden wird, die Eigenschaften, welche sie im Interesse ihrer Selbsterhaltung von ihren Mitgliedern fordern muß, in Idealgestalten verkörpert vorzudemonstrieren.

Wenn Dankbarkeit für eine Handlung Sinn und Zweck haben sollte, so müßte sie vor der Vollendung dieser Handlung erwiesen werden. Dann hätte sie vielleicht einen Einfluß auf deren Zustandekommen, Art und Umfang. Was soll sie aber nützen, wenn die Handlung einmal gethan ist? Was kann sie dann an ihr ändern, was bessern oder verschlechtern? Hat der Mohr seine Arbeit gethan, so bleibt ihm wirklich nichts übrig als zu gehen, und wenn er sich beklagt, so mag ihm jemand, der zu einem so überflüssigen Geschäfte Zeit hat, einen Vortrag über Naturgesetze halten und ihm erklären, daß Gegenwärtiges und Künftiges Vergangenes nicht beeinflussen kann und daß eine gegenständlich gewordene Leistung in aller Ewigkeit das bleibt, was sie ist, ob der Mohr, von dem sie herrührt, nachträglich eine verbitterte Grimasse oder ein vergnügtes Gesicht zu ihr macht. Man wende nicht ein, daß das Beispiel der Dankbarkeit oder des Undanks, wenn es auch auf die Handlung, welcher sie gilt, keinen Einfluß zu üben vermag, doch vielleicht auf künftige Handlungen bestimmend wirkt; daß der Lohn der Verehrung, der einem Vorgänger geworden ist, einen Nachfolger aneifern kann, in seine Fußstapfen zu treten; daß der Anblick der Undankbarkeit gegen die Dahingegangenen die Spätgeborenen abhalten wird, Anstrengungen altruistischer Natur zu machen, die sie sonst unternommen hätten. Das ist nicht der Fall. Der Genius wirkt seine Großthaten für die Menschheit, weil er muß und nicht anders kann. Es ist ein Drang seines eigenen Organismus, den er befriedigt. Er würde leiden, wenn er dessen Forderungen nicht erfüllte. Daß die Durchschnittsmenge dabei gut fährt, ist für ihn nicht bestimmend. Der Strom braust dahin, weil die Gesetze der Hydraulik es so erfordern. Es ist aber für ihn nicht wesentlich, ob sich an seinen Ufern Mühlen ansiedeln, die aus ihm ihre Bewegungskraft schöpfen, oder nicht. Das Bild Scipios, auf den Trümmern von Karthago sitzend, hat noch keinen möglichen Retter des Vaterlands im Keime zu einem Ephialtes gemacht, obwohl doch die Vorstellung eines alten Mannes, der in der Zugluft mitten zwischen scharfkantig gebrochenen Steinen hockt und beim Weitergehen voraussichtlich über Schutt stolpern oder in ein Kellerloch fallen wird, nur für freiwillige Feuerwehrleute nicht abschreckend sein dürfte. Und ich rufe die deutschen Verleger als Zeugen an, ob die Erinnerung an Camoëns, den seine undankbaren Landsleute in Not und Elend umkommen ließen, die dichterische Hervorbringung wesentlich vermindert hat!

Der Leser hat bereits erkannt, daß die Dankbarkeit der Einzelperson gegen die Einzelperson von der gegenwärtigen Betrachtung ausgeschlossen ist, weil sie nicht als Beispiel einer selbstlosen, auf keinen neuen Lohn hoffenden, bloß dem bedankten und durchaus nicht dem dankenden Wesen zu Gute kommenden Regung angeführt werden kann, sondern nur eine mehr oder minder kluge Kapitalsanlage ist, von der man sich gute Zinsen verspricht, also nicht in die Moralphilosophie, sondern ins Geschäftliche gehört. Nur die Dankbarkeit der Masse gegen den Einzelnen, den sie persönlich gar nicht kennt, von dem sie persönlich nichts zu erwarten hat, der vielleicht schon tot ist, wäre ein derartiges Beispiel. Aber ein experimentell reines und wirklich beweiskräftiges Beispiel dieser Art, das sich weder durch nationale Eitelkeit noch durch Erbaberglauben erklären, also auf selbstsüchtige Beweggründe zurückführen ließe, wird man in der ganzen Geschichte der Menschheit vergebens suchen. Nein, eine Dankbarkeit der Massen, der Völker oder der Menschheit, giebt es nicht und kann es nicht geben, weil sie keine anthropologische Begründung hat. Das Genie, von dessen Geistesarbeit die Art lebt, das in sich allen Fortschritt der Art vollzieht, das den Ansatz zu aller neuen Entwickelung der Menschheit darstellt, hat auf Dank zu verzichten. Es muß seinen einzigen Lohn darin finden, daß es denkend, handelnd und schaffend seine höheren Eigenschaften auslebt und sich seine Eigenart in Begleitung mächtiger Lustgefühle zum Bewußtsein bringt. Eine andere Befriedigung als die der möglichst intensiven Empfindung des eigenen Ichs giebt es für das erhabenste Genie ebensowenig wie für das letzte Lebewesen, das in einer Nährflüssigkeit wimmelt. Das Genie schmeichelt sich manchmal mit der Vorstellung der Unsterblichkeit. Es hat Unrecht. Die Unsterblichkeit, die Klopstock einen »schönen Gedanken« nennt, ist weniger als ein schöner Gedanke, sie ist ein Nebelbild der Phantasie, ein in die Zukunft projicierter Schatten der eigenen Individualität, ähnlich dem, den ein Baum bei tiefem Sonnenstande weit in die Ebene hinaus wirft. Im Augenblicke, wo der Baum gefällt ist, Verschwindet auch sein Schatten. Die Vorstellung der Fortdauer des Namens, das Streben, sich Nachruhm zu sichern, fließt aus derselben Quelle, der auch der Aberglaube einer individuellen Fortdauer nach dem Tode entsprungen ist. Es ist immer wieder eine Auflehnung des lebenden Individuums gegen das Aufhören seines Bewußtseins, eine Form des ohnmächtigen Kampfes gegen das Allgesetz der Endlichkeit individueller Erscheinung, ein Beweis der Unfähigkeit des denkenden, sein eigenes Sein empfindenden Ichs, sich selbst als nicht denkend und nicht seiend sich vorzustellen. Der Mann, der Großes geschafft, sein Volk oder die Menschheit gefördert hat, möchte wohl wenigstens dieser schwächsten und billigsten Kundgebung der Dankbarkeit sicher sein, die im Festhalten seines Andenkens besteht. Eitler Wunsch und eitles Bestreben! Das Gedächtnis der Menschheit ist widerwillig, den Namen und das Bild von Einzelmenschen festzuhalten und einen blassen Widerschein van deren individuellem Dasein mindestens in der Erinnerung über die natürliche Grenze des Menschenlebens hinaus zu verlängern. Wie lange dauern selbst die allerberühmtesten Namen? Bisher hat die Menschheit keinen bewahrt, der zehntausend Jahre alt ist, und was sind zehntausend Jahre im Leben der Menschheit, vom Leben unseres Planeten- oder Sonnensytems gar nicht zu sprechen! Nur wenn lebende Menschen einen stofflichen Vorteil daraus ziehen, das Andenken an bestimmte Personen nicht untergehen zu lassen, bewahrt die Masse von diesen eine helle Erinnerung; so von Religionsstiftern oder Stammvätern einer Herrscherfamilie; denn da haben Priester und Monarchen ein Interesse daran, die Menge künstlich zu verhindern, daß sie ihrem tiefen und auf die Dauer unwiderstehlichen Triebe undankbaren Vergessens gehorche. Wo aber kein solches Interesse obwaltet, da beeilt sich die Menschheit, die Toten zu vergessen, und wären sie ihre größten Wohlthäter gewesen. Es ist ein bemitleidenswerter Anblick, die verzweifelten Anstrengungen zu beobachten, die das Individuum macht, um seine individuelle Form dem Gesetze der Vernichtung zu entziehen. Es häuft gewaltige Steine zu riesigen Baudenkmälern, es zwingt das Erz, die Linien eines Umrisses zu bewahren, es schreibt seinen Namen auf jede Seite von Büchern, es gräbt ihn in Marmor und Bronze, es verknüpft ihn mit Stiftungen, Straßen und Städten. Die Paläste und Statuen, die Bücher und Inschriften sollen in den fernsten Zeiten den Menschen den einen Namen in die Ohren rufen und sie gemahnen, daß einst ein großer Mann ihn trug und daß dieser große Mann sich den Anspruch auf dankbare Verehrung erworben hat. Die toten Gegenstände, denen das Individuum die Sorge um die Pflege seines Andenkens anvertraut, thun nicht lange ihre Schuldigkeit. Selbst wenn sie der Zerstörung entgehen, verlieren sie die Stimme und hören bald auf, den Namen auszusprechen, den sie den spätesten Geschlechtern wiederholen sollten. Der Palast dient Menschen, die über seinen Ursprung eine willkürliche Geschichte erfinden; der Statue hängen sie einen beliebigen Namen an, selbst im Namen der Stadt verdunkeln sie den des Gründers, indem sie etwa aus Konstantinopel Stambul machen, und unbekümmert streichen sie die Spur des großen Mannes aus, wie ein unbewußtes Kind mit spielendem Finger die Buchstaben auf einer Schiefertafel verwischt. Und wer wird den Menschen daraus einen Vorwurf machen? Nur derjenige, der für die deutlichsten Erscheinungen und Bedingungen des organischen Lebens keinen Sinn hat. Das Individuum hat bloß für sich einen Wert, aber nicht für die Natur, nicht für die Gesamtheit. Für die Natur ist es bloß eine Gußform, in welcher der Stoff organisch gemodelt wird; eine Durchgangsstation im großen Entwicklungsgange des Stoffes vom Unbelebten zum Belebten. Ist der Guß vollzogen, so wird die Form zerschlagen. Ist die Durchgangsstation zurückgelegt, so wird sie vergessen. Das, was im Individuum dauernd und zu einem Dasein ohne absehbares Ende bestimmt ist, sein Fortpflanzungs-Prinzip, ringt sich von ihm los und beginnt ein neues, selbständiges Leben, das in keiner Weise mehr des Zusammenhanges mit dem Organismus bedarf, in welchem es entstanden ist; der elterliche Organismus aber geht dann zu Grunde wie die Blüte, aus der sich die Frucht hervorgerungen hat. Ganz derselbe Vorgang wiederholt sich bei den geistigen Funktionen des Individuums. Dieselben lösen sich vom Organismus los, werden gegenständlich und bilden Erscheinungen für sich, zu deren Vollkommenheit es in keiner Weise nötig ist, daß sie an das Individuum erinnern, welches sie hervorgebracht hat; sie sind das zur Dauer Bestimmte, gleichsam das Fortpflanzungs-Prinzip der geistigen Individualität, und hat diese ihr Bestes von sich gegeben, hat sie lebendige Gedanken und Thaten hervorgebracht, die selbständig weiter wirken und neues Leben anregen können, so ist es nicht ungerecht, daß sie das Los alles Lebendigen und Lebengebenden teile und verschwinde. Der alte Mythus von Saturn, der seine Kinder verschlingt, beruht auf verkehrter Naturauffassung. Nicht der Vater ist es, der seine Sprößlinge aufißt, diese sind es, die sich von den Eltern nähren. Dieses Beispiel urgewaltiger, rücksichtsloser Selbstsucht hat nichts Abstoßendes. Im Gegenteil. Es ist schauerlich und schön zugleich wie jedes mächtige Naturschauspiel. Indem das Gezeugte den Lebenskeim vom Zeuger übernimmt und weiter in die Zukunft hinausträgt, erneuert und verjüngt es den elterlichen Organismus, aber nur das, was an ihm das Wesentliche ist. Diese Arbeit der Erhaltung des Wesentlichen erheischt so viel von der Kraft des neuen Organismus, daß es für die Bewahrung des Unwesentlichen, nämlich der Zufälligkeiten individueller Lebensform, keine übrig behält.

Das Gesetz, welches ich das umgekehrt saturnische nennen möchte, das Gesetz, kraft dessen das Erzeugende in dem Maße in Finsternis taucht, in welchem das Erzeugte in Helle rückt, duldet keine Ausnahme. Wie es das menschliche Wesen nicht giebt, das sich seinen fernen Ahn lebendig erhalten hätte, so giebt es die menschliche Geistesthat nicht, die ihren Lebensweg dauernd in Begleitung ihres Urhebers zurücklegte. Was wissen wir von den Individualitäten, aus deren Geistesarbeit unsere ganze Gesittung und Bildung besteht? Wie groß war der Mensch, der uns zuerst das Feuer gegeben hat! Wer hat sein Andenken bewahrt? Wem fällt es ein, sich seiner dankbar zu erinnern, wenn er sich im Winter an der Ofenwärme labt? Welch ein Genie muß es gewesen sein, das zuerst auf den Gedanken kam, sich vom Zufall eines Pflanzenfundes loszumachen und die notwendigen Körner methodisch vom Boden zu fordern! Segnen wir etwa seinen Namen, wenn wir unser tägliches Brot genießen? Heute kennen wir noch den Erfinder des Telegraphen, der Dampfmaschine, der Eisenbahn. Aber diese Erfindungen sind von gestern. Die Menschen leben zum Teil noch, vor deren Augen sie gemacht wurden. Wie lange dauert es, so sind die Soemmering, Oersted und Ampère, die Graham Bell und Edison, die Papin, Watt und Stephenson ebenso vergessen wie die gleichgroßen oder größeren unbekannten Erfinder der künstlichen Feuererzeugung oder des Ackerbaues und die Menschheit bedient sich ihrer Fernsprecher und Schnellzüge wie des Feuers und Brotes, ohne den kleinsten Zoll dankbarer Erinnerung an ihre Wohlthäter zu entrichten. Und die Erfinder sind nicht übler daran als die Denker, die Menschenbeherrscher, die Staatsmänner, die Gesetzgeber, die Künstler. Eine Wahrheit wird gefunden, sie bleibt ein ewiger Besitz der Menschheit, um ihren Urheber aber kümmert man sich nach wenigen Generationen nicht mehr. Spezialisten wissen heute noch, von wem die einzelnen Fortschritte in der Mathematik, den Naturwissenschaften, der Astronomie herrühren. Wie viele giebt es aber selbst unter den Gebildeten und Hochgebildeten, die zu sagen vermöchten, welchen persönlichen Anteil Phythagoras und Euklid, Hipparchus, Hero von Alexandrien und Descartes, Aristoteles, Roger Bacon und Harvey, ja selbst so nahe Menschenerscheinungen wie Lamarck, Young, Leslie, Bell, Joule und Schwann an unserer Naturerkenntnis und Weltanschauung haben? Von welchen Einzelmenschen rühren die römischen Staatseinrichtungen her, deren Grundriß noch heute in unserem Staatsbau beibehalten ist? Wie hießen die Gesetzgeber (nicht die Kompilatoren), welche die Bestimmungen des römischen Rechts formten, das noch heute unsere Rechtsanschauungen beherrscht? Das Werk steht da, der Urheber ist verschollen oder der Legende anheimgefallen. Die Ilias wird noch gelesen, allerdings hauptsächlich von Gymnasiasten, die sich an ihr wenig erfreuen, aber Homer ist uns so vollständig verloren gegangen, daß seine Existenz geleugnet werden kann. Die Nibelungen leben und blühen, ihr Verfasser ist von der Vergangenheit verschlungen. Wer die Venus von Milo gemacht, können wir ebensowenig vermuten wie den Namen des Bildhauers, der den Apollo von Belvedere gemeißelt hat.

Vergebens schmeicheln sich die Genies von heute, daß es von nun ab anders sein werde. Der persönliche Ruhm steht auf Zeitungen und Büchern und Buchstabenbildern in Erz und Stein. All das verweht die Zeit wie die Asche eines verbrannten Blattes. Einige tausend Jährchen und alles ist verschwunden. Die Menschheit aber hat vielleicht noch Millionen Jahre vor sich. Bismarck wird das Schicksal der vergessenen Staatengründer des Altertums teilen, Goethe und Shakespeare werden zum Verfasser des Buches Job und zum Sänger der Veden hinabtauchen, das deutsche Volk aber wird sich mächtig weiterentwickeln und Faust und Othello werden den Menschen tiefe Emotionen geben, solange man auf Erden deutsch und englisch verstehen wird.

»Es kann die Spur von meinen Erdetagen nicht in Äonen untergehn!« sagt sich Faust mit tröstender Selbstüberredung. Er hat buchstäblich Recht. Seine Spur, das heißt das, was er gewirkt hat, geht nicht bald unter, wenn es bedeutend ist. Aber er hat Unrecht, wenn er mit der Dauer der Spur die Vorstellung von der Dauer seiner Individualität verknüpft. Er hat dem Meer ein Land entrissen? Gut. Eine fröhlich wimmelnde Menge bewohnt es und erfreut sich darauf des Lebens und Sonnenscheins. Aber dem Menschen danken, der die Dämme aufgeführt und den Ackerboden geschaffen? Mit Nichten. Der Dank macht die Ernte nicht reicher und das Land nicht blühender; man ist nicht gezwungen, ihn zu empfinden, und darum empfindet man ihn nicht.

Die Volkswirtschafts-Lehre hat festgestellt, daß nicht ihre Unentbehrlichkeit fürs Menschenleben den Wert der Dinge bestimmt, sondern die größere oder geringere Leichtigkeit, mit der man sich sie verschaffen kann. Die Luft ist das Nötigste, was der Mensch braucht; sie hat aber keinen Wert, weil er sie jederzeit ohne Mühe haben kann, weil er, um seinen Bedarf an Lebenslust zu schöpfen, keine Arbeit leisten muß. Man kann die Hervorbringung des Genies in diesem Sinne den Gütern gleichstellen, die keinen Wert haben. Einmal vollendet, einmal objektiv geworden, bildet sie einen Bestandteil der Natur selbst, ist sie wie die Luft, die man atmen, das Wasser, das man schöpfen kann, ohne Mühe, ohne Gegenleistung, ohne Dank. Die Wahrheit, die ein Mensch gefunden und ausgesprochen, ist allen Menschen zugänglich; in dem dichterischen Kunstwerk, das ein Mensch geschaffen, können alle Menschen sich Emotionen holen, wenn es sie danach dürstet; die Erfindung, die staatliche und gesellschaftliche Einrichtung, die ein Menschenhirn ersonnen und ein Menschenwille verwirklicht hat, finden alle Menschen bei ihrer Geburt fertig vor wie die Erde, auf der sie dahin wandeln, und die Jahreszeiten, deren Wechsel die Einförmigkeit der Zeit unterbricht. Was der Einzelne von diesen Wahrheiten und Schönheiten, Erfindungen und Einrichtungen für sich braucht und nimmt, das vermindert ihre Menge nicht, das nutzt sie nicht ab, das entzieht sie keinem andern. Er hat darum Recht, sie ohne Dank und Lohn zu benutzen.

Und die Menschen, die für die Masse arbeiten, haben dennoch keinen Grund, über Undankbarkeit zu klagen, wenn man sie über ihren Leistungen vergißt, wenn Mitwelt und Nachgeborene ein von ihnen entdecktes Amerika besiedeln und für den Columbus des neuen Nährbodens nicht einmal ein Andenken übrig behalten. Ihr Organismus hat seine Schöpfungen hervorgebracht, wie ein mütterlicher Organismus ein Kind gebiert: weil er sie nicht in sich bergen konnte, sie ausstoßen mußte, als sie reif waren. Überdies hat jedes Genie auch für die größte Leistung eigentlich seinen Lohn dahin, ja es arbeitet sogar erst nach Vorausbezahlung. Denn ihm kommt die Arbeit aller vorausgegangenen Genies zu Gute, jener namenlosen Männer, welche die Urheber aller unserer Bildung und Gesittung, all unserer Bequemlichkeiten und Triumphe über die Natur gewesen sind. Es tritt auf die Schultern seiner Vorgänger, es ist billig, daß die Nachfolger auf seine Schultern treten. Es ist den vergessenen Führern und Förderern der Menschheit nicht anders dankbar, als indem es deren hinterlassene Schätze benutzt, es darf nicht erwarten, daß seine Erben ihm in anderer Weise danken werden. Die geistigen Güter, die es vorfindet und in denen es schöpfen kann, tragen längst nicht mehr die persönliche Marke ihrer Erzeuger an sich; warum sollte das Genie sich da nicht darüber trösten, daß auch die Güter, die es selbst hervorbringen wird, ohne Ursprungszeichen zum Erbgut der Menschheit geschlagen werden und deren Reichtum vermehren?


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