Max Nordau
Paradoxe
Max Nordau

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Der Staat als Charakter-Vernichter.

Hundertmal hat man sich über das deutsche Rang- und Titelwesen lustig gemacht und der in Prosa und Versen darüber ausgegossene Spott bildet eine ganze Bücherei. Aber der Stoff ist unerschöpft und namentlich gewisse Seiten desselben sind noch kaum berührt worden. So hat man nicht entfernt genug eindringlich auf die Gefahr hingewiesen, die der Entwicklung, ja dem Dasein eines Volkes daraus erwächst, daß es den Mandarinen-Mützenknopf zu seinem privaten und öffentlichen Ideale erhebt.

Gehe in eine deutsche Gesellschaft und sieh dich in ihr um: du findest da Assessoren und Inspektoren, Majore und Räte, namentlich Räte jeder Farbe und jedes Formats, vom unmaßgeblichen Kommissionsrat bis zum hochansehnlichen »wirklichen geheimen«. Jeder Beruf hat seinen besonderen Rat, der gleichsam seine Blüte ist, und man muß sich nur wundern, daß es noch einzelne Berufe giebt, die keine solche Blüte haben, also die Kryptogamen in der Staats-Flora bilden. Es wäre so niedlich, wenn auch die gediegensten Bettler oder Schoppenstecher hoffen dürften, den absteigenden Teil ihrer erfolgreichen Lebensbahn mit dem Schmucke eines passenden Titels, der etwa Fechtrat und Kneiprat lauten könnte, zurückzulegen. Einen schlichten, einfachen Menschen, der es sich an seinem Vor- und Zunamen genügen läßt, suchst du unter all diesen Räten vergebens und wenn du mit einer Diogenes-Laterne herumgingest, die auf der vollen Höhe der neuesten Elektrizitäts-Beleuchtungs-Technik stände. Der Lakai, der die Mandelmilch herumreicht, ist anscheinend der einzige Vertreter des genus Adam Homo ohne Beilage, aber der Schein trügt auch in diesem Falle. Denn so oft der Staat Gelegenheit hat, sich mit ihm amtlich zu beschäftigen, sei es, daß er ihn zur Steuer heranzieht oder ihn wegen nächtlicher Ruhestörung verfolgt oder ihm für langjährige sorgfältige Pflege von Generals- oder Geheimratsstiefeln das allgemeine Ehrenzeichen an die Brust nagelt, spricht er ihn nicht »Friedrich Wilhelm Müller« an, sondern fügt ein unterscheidendes »der Lakai Friedrich Wilhelm Müller« hinzu. Das ist kein besonders auszeichnender Titel, aber doch ein Titel. Er nimmt wenigstens den Platz eines Titels ein und hält ihn warm. Er markiert, daß an der Stelle etwas stehen sollte. Er hält die Gewohnheit lebendig, an den Namen wie an einer Kasserole eine Handhabe befestigt zu sehen. Der Staat hat eine Schamhaftigkeit besonderer Art. Es entsetzt ihn, einen nackten Namen vor sich zu sehen. Pfui der Schande! Geschwind den Mantel eines Titels her! Oder doch wenigstens das Feigenblatt der Berufsangabe! Die Mathematik, die doch sehr auf Genauigkeit hält, erspart sich das Vorzeichen, wo sie kann, und trifft mit uns die Übereinkunft: wenn vor einem Ausdrucke gar nichts steht, so habt ihr euch ein Pluszeichen davor zu denken. Der Staat macht kein derartiges Zugeständnis. Jeder Name muß seinen Griff haben. Wer nichts anderes ist, der erhält wenigstens den Titel »Privatier«. Wie deutsch ist der Herzensschrei jenes Mannes in den Fliegenden Blättern, welcher ausruft: »Wenn ich gar nichts bin, ein Zeitgenosse bin ich doch!«

Wenn man dir einen Mann als den Herrn Rat Soundso vorgestellt hat, so weißt du alles, was du von ihm zu wissen brauchst. Nimm dir keine Mühe, seine Persönlichkeit kennen zu lernen; du brauchst dir nicht einmal sein Gesicht anzusehen und noch viel weniger seinen Namen zu merken. Das sind Nebensachen. Das Wesentliche ist der Rat. Dieser giebt die volle Definition des Mannes. Du kannst aus seinem Titel mit unfehlbarer Gewißheit entnehmen, was er ist und was er treibt; was er gelernt hat; was er liebt und was er haßt; wie und wo er seine Tage und Nächte verbringt, wie er über alles, vom Freihandel bis zur Unsterblichkeit der Seele, denkt, ja in vielen Fällen sogar, wie viel Geld er verdient. Es ist ein herrliches Gefühl der Sicherheit, das du einem solchen betitelten Manne gegenüber empfindest. Da giebt es keinen Vexier-Schleier, der das Antlitz einer geheimnisvollen Isis verbirgt. Maya steht in befriedigender Sichtbarkeit da und läßt dir nichts zu suchen und nichts zu erraten übrig. Ich wundere mich nur, daß man noch nicht auf eine Vereinfachung verfallen ist, die sich als sehr praktisch empfiehlt. Wozu den betitelten Herren überhaupt noch einen Eigennamen lassen? Ein solcher erinnert doch noch an eine Persönlichkeit, der höchste Triumph dieser Herren ist ja aber, keine Persönlichkeit zu haben, sondern einen Rang, eine Stellung, einen Titel. Dieser ist doch die Hauptsache, der Mensch ist bloß das unwesentliche Anhängsel. Gut, unterdrücken wir dieses vollständig und bezeichnen wir jeden Titelträger nur noch mit der Seiten- und Zeilenzahl des Staatshandbuchs oder der Rang- und Quartierliste, wo er verzeichnet steht. Oder wenn das unbequem scheinen sollte, so geben wir ihm einen bestimmten leicht zu behaltenden Namen, der für alle Zeiten derjenige des Inhabers einer bestimmten Stelle zu sein hat und mit dem Titel zugleich angenommen wird. Man zieht dann mit der Uniform auch einen Namen an und geht ganz, mit Haut und Haaren, in seinem Rang und Titel auf. Die großen Herren in Frankreich des vorigen Jahrhunderts wußten zu leben. Sie hatten für jeden Lakaien ein für allemal einen Erbnamen, auf den der Bursche zu hören hatte, wenn er in ihren Dienst trat. Der erste Kammerdiener hieß etwa Jeunesse, der Jäger Picardie, der Kutscher Viktor, den Namen übernahm er mit der Livree von seinem Vorgänger und trat ihn an seinen Nachfolger ab und die Herrschaft, der es nicht darum zu thun war, Individualitäten zu unterscheiden, sondern einen gleichmäßigen Dienst gleichmäßig verrichtet zu sehen, ersparte sich auf diese Weise die Notwendigkeit, Gedächtniskünste für die Gesindestube zu üben.

Es wäre übrigens noch nicht so schlimm, wenn bloß die Beamten die kindische Freude an ihrem Titel hätten und ihrer Uniform eine größere Bedeutung beilegten als ihrem Leibe. Aber diese Erscheinung ist ja nicht auf die Kreise beschränkt, in denen der Titel doch mindestens einer Thätigkeit entspricht und die Uniform keine Fastnachtsverkleidung, sondern eine Amtstracht ist; sie ist durch das ganze Volk verbreitet und wird bei zahllosen Leuten beobachtet, die mit dem Staatsdienste höchstens insofern zusammenhängen, als sie bei der Volkszählung zum amtlichen Gesamtergebnis eine Einheit liefern. Auch im bürgerlichen Leben strebt der Deutsche nach irgend einer staatlichen Anerkennung, irgend einer Marke oder einem Brande, der seine Zugehörigkeit zur Elektoral-Herde bezeugt. So lange der Staat nicht durch irgend eine Verleihung von seinem Dasein amtlich Kenntnis genommen hat, glaubt er nicht an sein eigenes Dasein. Ohne eine sogenannte Auszeichnung fühlt er sich nicht als einen Vollmenschen, sondern höchstens als einen Ansatz zu einem solchen. Seinen Beruf sieht er als Unterlage zu einem Titel an und die natürliche Bestimmung seiner Brust scheint ihm, einen Orden zu tragen. Freigeborene, unabhängige Männer haben nicht den Stolz, bloß auf sich selbst gestellt zu sein und niemand etwas verdanken zu wollen, sondern geben ihre Selbständigkeit, die mehr wert ist als Esaus Erstgeburt, für eine Gunsterweisung hin, die weniger bedeutet als das Linsengericht Jakobs. Als sich der Feudalismus entwickelte, da mußten die freien Männer ihren Vollbesitz in die Hände der großen Adeligen legen und ihn von ihnen als Lehen wie ein Gnadengeschenk wieder empfangen. Man thut heute ohne Not und Zwang, was das stolze Geschlecht jener Zeit nur nach hartem Widerstände thun wollte.

In Rußland nennt man die Leiter mit den Rang-Sprossen des Beamtentums den Tschin. Auf irgend einer Sprosse dieser Leiter muß jeder Russe stehen, wenn er in der Welt etwas mehr gelten soll als ein Hering in seiner Bank. Der Tschin ist aber keine russische Einrichtung geblieben, sondern hat seinen Weg über die Grenze gefunden. Die Leiter ist auch in Deutschland aufgelichtet und die Welt hat das wunderliche Schauspiel vor Augen, wie das erste und mächtigste Kulturvolk der Erde sein Leben damit hinbringt, gleich einer Anzahl abgerichteter Laubfrösche feierlich von einer Sprosse zur andern an derselben emporzuklettern. Die Entwicklung des Individuums geschieht nicht von innen heraus, sondern durch äußern Ansatz; nicht wie bei einem von Lebenskraft erfüllten selbstthätigen Organismus, sondern wie bei einem toten, trägen Steine. Der Staat ist es, der dem Individuum neue Zolle zu seinem natürlichen Maße hinzufügt und es von Zeit zu Zeit um einen Kopf größer macht. Das Wachstum besteht nicht in einem Höherwerden des Charakters, sondern in einem Längerwerden des Titels. Die Persönlichkeit verliert eine Eigenschaft, der Titel gewinnt ein Beiwort. Das Temperament wird ärmer, der Ordensschmuck wird reicher.

Und wehe dem Einzelnen, der sich dieser allgemeinen freiwilligen Knechtschaft entziehen will! Er wird angesehen wie in der Fabel der freie Wolf von den Haushunden. Oder richtiger: er wird gar nicht angesehen. Grimmelshausen erzählt von einem wunderbaren Vogelneste, das denjenigen, der es bei sich trug, unsichtbar machte. Der Titel hat die umgekehrte Wirkung des wunderbaren Vogelnestes. Er macht seinen Träger erst sichtbar. So lange man ihn nicht hat, wird man von der Gesellschaft gar nicht bemerkt, ist man ein Schemen, ein Luftgebilde. Der Mensch, der aus eigener organischer Kraft und seinem innern Wachstumsgesetze gehorchend sich zu einer Individualität gebildet hat, die für sich betrachtet und gemessen sein will und in ihrer Eigenart und Schönheit bloß begriffen werden kann, wenn sie frei ist von allen äußerlichen, willkürlichen Zuthaten, welche nur die Linien stören und die Gesamterscheinung verwirren, ein solcher Mensch verschwindet hinter gleichgiltigen Gliederpuppen, die nur als Träger von Uniformen und Rangabzeichen Verwendung finden! Das Kind in der Anekdote sagt, es wisse nicht, ob badende Kinder, die es gesehen, Knaben oder Mädchen gewesen seien, da sie keine Kleider angehabt. Die Gesellschaft steht auf dem Standpunkte dieses Kindes. Sie begreift das Menschliche nicht, wenn es nicht in einer bestimmten Tracht auftritt. Sie erkennt einen Mann nur, wenn er in vollem Wichs von Rang und Titel vor ihr erscheint. Diese Auffassung zwingt jeden, der den berechtigten Wunsch hat, bei seinen Mitbürgern etwas zu gelten, seine natürliche Entwickelungsbahn zu verlassen und sich der Menge anzuschließen, die sich im staatlich gezogenen, rechts und links von Schutzmännern beaufsichtigten Geleise in schläfrigem Gleichschritte vorwärts schiebt. So entsteht im Individuum die Anschauung, daß sein ursprüngliches Leben, welches es von der Natur hat, nicht zählt, daß es, um ins eigentliche Dasein einzutreten, zum zweiten Male mit Hilfe des Staats als irgend ein Rat geboren werden muß, wie in Indien die Angehörigen der drei höchsten Kasten »Dhwitschas« sind, das heißt sich als erwachsene Menschen einer symbolischen Zeremonie der Wiedergeburt unterziehen müssen, die darin besteht, daß sie, ganz weiß gekleidet, unter allerlei Förmlichkeiten durch ein schmales Pförtchen treten.

Welch ein kläglicher Rückschritt zu überwundenen Entwickelungsstufen! Welch ein Widerspruch zu allen Grundgedanken und treibenden Kräften der Zeit! Je höher ein Organismus ausgebildet ist, um so eigenartiger, um so differenzierter ist er, um so mehr tritt in ihm die Gattung hinter dem Individuum zurück. Unter diesem Gesetze stehen nicht bloß die Einzelwesen, sondern auch die Gesellschaften. Im Altertum, im Mittelalter war das Gemeinwesen als geschlossene Gesamtheit organisiert und der Einzelne galt nur als ein Teil des Ganzen. Da konnte und durfte man nicht eigenartig sein, sondern hatte sich in den genau gezeichneten Bauplan des Staates, der Gesellschaft, der Zunft oder Gilde zu fügen. Wen Behörden oder privilegierte Genossenschaften nicht in ihren Verband aufgenommen hatten, der war ein rechtloser fahrender Mann und vogelfrei. Die gesellschaftliche Entwicklungsstufe entspricht derjenigen eines Polypenstocks, wo die einzelnen Individuen zusammengewachsen, unvollständig ausgebildet, organisch unfrei sind, für sich allein weder leben noch sich herumbewegen können und nie über ein untergeordnetes und verkümmertes Teildasein hinausgelangen. Wir sind heute weiter. Wir bilden nicht mehr einen Korallenbau, sondern doch wohl schon eine Herde. Jedes Individuum führt ein Sonderdasein, wenn auch alle für gewisse Verrichtungen auf einander angewiesen sind. Das Band der Solidarität, das uns alle verknüpft, läßt uns doch ein genügendes Maß von Selbständigkeit und es ist jedem von uns die organische Möglichkeit gegeben, für sich zu grasen. Diesen Individualismus, die Errungenschaft der Neuzeit, opfert man freiwillig für den alten Kollektivismus, in welchem das Einzelwesen nur eine Zelle, weniger als ein Organ, ein zuckendes, sinnloses Nichts ist. Denn dahin gelangt man mit Naturnotwendigkeit, wenn man erkennt, daß aller Wert und alle Würde einem Manne nur von der Staatsgewalt kommen können und für seinen Platz inmitten der Menschen eine Ernennungs- oder Verleihungs-Urkunde maßgebender sei als eigener Wert, geistige Bedeutung und Handlungen, die nicht im Hinblick auf das Amtsblatt gethan wurden.

Was ist das, der Staat? Theoretisch heißt das: wir Alle! Praktisch aber ist es eine herrschende Klasse, eine kleine Anzahl von Persönlichkeiten, manchmal nur eine einzige Person. Die Anerkennung des Staats über alles stellen heißt, ausschließlich einer Klasse, wenigen Personen, einer einzigen Person gefallen wollen. Es heißt, sich nach einem Ziele hin entwickeln, das nicht von der eigenen Natur gegeben, sondern von einem fremden Gedanken, vielleicht sogar bloß einer fremden Laune aufgestellt ist. Es heißt, auf sein innerstes Wesen verzichten und sich nach einem äußern Muster formen, dem vielleicht alle ursprünglichen Anlagen und Neigungen widerstreben. Die ganze Bildungsschichte einer Nation verwandelt sich auf diese Weise in eine Art Jesuitenorden, der das »Opfer der Vernunft« gebracht und darauf verzichtet hat, mit dem eigenen Kopfe zu denken und mit dem eigenen Gewissen über Recht und Unrecht zu urteilen. Man gestaltet sich nicht nach dem organischen Drange, sondern tröpfelt sich wie weiches Metall in eine behördlich hergerichtete Gußform hinein und setzt seinen Stolz darein, statt eines Lebewesens mit eigener Physiognomie eine billige Dutzend-Zinkfigur für Standuhren zu sein. Durch diesen Schmelz- und Gußprozeß wird das kristallinische Gefüge eines Volkes aufgelöst und sein fester Kern zerstört. Die schöne und reiche Mannigfaltigkeit natürlicher Entwickelungen weicht einer aufgezwungenen armseligen Uniformität. Wenn man den Einzelnen meuchlings fragt, wie er über irgend einen Gegenstand denke, so weiß er es nicht aus dem Stegreife zu sagen, sondern muß erst rasch nach dem Kastanienwäldchen gehen und sich die ausgegebene Parole holen. Millionen entsagen ihrer Mündigkeit und stellen sich mit all ihrem Denken und Handeln unter eine Vormundschaft, deren enge Tyrannei sie bald gar nicht mehr fühlen.

Man wende mir nicht ein, daß das nicht anders sein könne und daß ich ja selbst lang und breit nachgewiesen habe, wie die große Masse zu eigenartiger, selbständiger Geistesarbeit unfähig sei, wie diese ausschließlich von den Ausnahmemenschen verrichtet und durch die Suggestion von der winzigen Minderheit auf die ungeheure Mehrheit übertragen werde. Es ist eben ein gewaltiger Unterschied, ob das Denken eines Einzigen oder Weniger einem ganzen Volke durch natürliche Suggestion oder durch Zwang und Gewalt ins Gehirn getrichtert wird.Siehe auch die Anmerkung 3 zu Seite 188. In dem einen Falle wird kein organischer Vorgang gestört; nur diejenigen, die individuellen Denkens unfähig sind, fallen unbewußt dem Einflusse des überlegenen Geistes anheim und werden notwendig dessen Nachbeter. In dem andern Falle dagegen wird eine natürliche Entwickelung verhindert und unterdrückt, auch begabte und starke Geister, die dazu angelegt sind, eigene neue Gedankenarbeit zu liefern und den geistigen Besitz ihres Volkes und der Menschheit zu vermehren, lähmen absichtlich und mit bewußter Willensanstrengung ihre Hirnthätigkeit, um den der ganzen Nation vorgebuchten amtlichen Normal-Gedanken unverändert nachdenken zu können und sich dadurch einer staatlichen Anerkennung würdig zu machen. Es ist derselbe Unterschied wie zwischen der Unthätigkeit kleiner Kinder und der Arbeitsschwänze von Männern im Alter des Hervorbringens. Jene ist vorgesehen und selbstverständlich und richtet keinen wirtschaftlichen Schaden an; diese bringt, wenn sie allgemein ist, ein Volk an den Bettelstab.

Das Regieren erleichtert ein solcher Massenverzicht aus menschliche Unabhängigkeit natürlich in hohem Grade. Der Pudel verhält sich nie so vollkommen ruhig, wie wenn man ihm das Stück Zucker auf die Schnauze legt und ihm als Lohn für braves Aufwarten die Erlaubnis es zu schnappen in Aussicht stellt. Ein Volk, das einen Menschen nur dann achtet, wenn er im Staatsanzeiger seine obrigkeitliche Wiedertaufe empfangen hat, und durch diese Gewohnheit allen seinen bedeutenderen Mitgliedern den Wunsch nahelegt, ja sie zwingt, um jeden Preis ins Heiligtum des Amtsblatts einzudringen, ein solches Volk ist ganz in der Hand seiner Regierung, das heißt seiner herrschenden Klasse. Der Gedanke: »was wird man hohen Orts dazu sagen?« ist der stete Begleiter aller seiner Bürger und guckt ihnen bei ihren geheimsten Arbeiten, Vorsätzen und Gesprächen über die Achsel. Unablässig bewacht von diesem Aufpasser, verliert der Bürger die notwendige und fruchtbare Übung des Alleinseins mit sich selbst und dem eigenen Gewissen und wird so unsicher, so komödiantenhaft, so augendienerisch, wie man es werden muß, wenn man sich beständig von einem krittlichen Zeugen beobachtet weiß. Aber die Regierung hat natürlich das größte Interesse, einen solchen Zustand zu unterhalten. Er verhindert unbequeme Widerstände des öffentlichen Gedankens. Er legt ein großes Land zu den Füßen eines Ministers und einiger vortragenden Räte. Er drückt die unabhängigen Männer zu Bürgern zweiter Klasse hinab, denen ein Makel anhaftet, da sie nie zu betitelten und mit Orden ausgezeichneten Vollmenschen heranreifen können, und giebt jeder politischen Gegnerschaft gegen die Regierung in den Augen der Menge den Charakter des Unehrenhaften, den Charakter einer Handlung, welche dem Verüber die als die wertvollsten angesehenen Ehrenrechte nimmt, nämlich die, eines Tages sein Knopfloch farbig zu schmücken und seinem Namen einen Titel aufzusetzen.

Das ist ein Zustand, der nicht bloß kläglich, nicht bloß unsittlich, sondern auch für die Zukunft eines Volks überaus gefährlich ist. Ich glaube, ich habe in Vasari gelesen, daß Michel Angelo, als er zweiundzwanzig Monate lang an der Decke der sixtinischen Kapelle gemalt hatte, so gewöhnt war, aufwärts zu blicken, daß er gar nicht mehr geradeaus oder rechts und links schauen konnte wie ein natürlicher Mensch, sondern selbst die Schrift, die er lesen wollte, sich mit hochgehobenen Händen über die Augen halten mußte. So ergeht es einem Volke, das die Gewohnheit angenommen hat, immer nach oben, immer nach den Häuptern der Regierung zu schielen. Es verliert die Fähigkeit des freien Um- und Ausblicks; es verlernt, die von den Seiten herankommenden Gefahren wahrzunehmen. Die Männer, die für das Gemeinwohl arbeiten oder zu arbeiten vorgeben, bemerken weder ihre Nachbarn noch die Wirkung ihrer Worte und Handlungen auf dieselben, sondern haben in ihrem ganzen künstlich beschränkten Gesichtskreise nur das Bild einer Persönlichkeit oder Gruppe, an deren Lippen und Augenbrauen sie wie Hampelmänner hängen. Sie sehen das Gemeinwesen gar nicht mehr und nicht diesem zu nützen und zu gefallen ist ihr Ziel, sondern vom Gewaltigen eine herablassende Handbewegung oder ein Lächeln zu erlangen.

Ich weiß wohl, was zu Gunsten eines solchen Zustandes gesagt zu werden pflegt. Er soll die Zusammenfassung der ganzen Volkskraft zu großen Thaten erleichtern, ja erst ermöglichen, deren Zersplitterung in hundert Richtungen verhüten, eine einheitliche und zielbewußte Leitung der nationalen Geschicke unterstützen. In einem Lande, wo man den Bürger nur dann schätzt, wenn er von der durch die Regierung vertretenen Gesamtheit sichtbar ausgezeichnet worden ist, fühlt sich der Bürger angespornt, seine Kraft der Gesamtheit zu widmen und sich um sie verdient zu machen; die Selbstsucht, wird bekämpft und der Gemeinsinn großgezogen; eine enge Solidarität verknüpft alle Glieder der Nation und die straffe Mannszucht, ohne die selbst die mächtigsten Anstrengungen der Massen erfolglos sind, wird zu einem Grundcharakterzuge des Volkes. So sagt man, aber das ist ein Trugschluß vom ersten bis zum letzten Worte. Die Kraft einer Gesamtheit beruht in letzter Linie doch auf der Kraft ihrer einzelnen Bestandteile. Sind diese schwach, so wird aller Zusammenschluß, alle Manneszucht und Unterordnung unter einheitliche Leitung sie nicht stark machen. Tausend Schafe haben gut sich zur äußersten Solidarität erziehen, sie werden nie einem einzigen Löwen widerstehen oder gar ihm gefährlich werden können. Wenn man systematisch in einer Nation die mannhafte Selbständigkeit verkümmert und ausrottet, wenn man mit mächtigem Drucke die Charaktere zermalmt, so bleibt zuletzt kein lebendiger Volksorganismus übrig, sondern nur noch ein atomistischer Staub, durch den ein spielendes Kind mit dem Finger fahren kann. Eigenartiges Wesen gelangt nicht zur Entwickelung, die Mannigfaltigkeit verschwindet, die Quellen der Wahrheit, die dem Volke sonst in tausend Einzelköpfen zu sprudeln pflegten, versiegen und von einer Landesgrenze bis zur andern begegnet man nur noch Kommiß-Nachbildungen einer einzigen Figur, die von Amtswegen als der allein echte und richtige Nationaltypus verkündet worden ist.

In friedlichen Zeitläuften kann ein Volk einen derartigen Verfall lange erleiden, ohne sich seiner beängstigenden Lage bewußt zu werden und den Abgrund zu sehen, an dessen Rande es sich entlang bewegt. Es kann auch das Glück haben, von einem mächtigen und erleuchteten Geiste regiert zu werden, der sich hohe Aufgaben vorsetzt und große Thaten verrichtet. Dann geht alles leidlich gut, die Streber triumphieren, der Erfolg giebt denen Recht, die vom Volke verlangen, daß es einen einzigen Kopf für sich denken und einen einzigen Arm für sich handeln lasse, und das allgemeine Buhlen nach dem Regierungswohlwollen, das bloß durch vorbehaltlose Rückkehr zum Standpunkte des beschränkten Unterthanenverstandes zu erlangen ist, scheint dem Staate zum Heile zu gereichen. Aber auch das Genie lebt nicht ewig, nicht jedes Zeitalter bringt ein neues hervor und selbst das größte Volk ist nicht sicher, daß es an der Spitze seiner Regierung immer außerordentliche Männer haben wird. Die Geschichte lehrt, daß im Rate der Mächtigen die »winzige Weisheit«, von welcher Oxenstierna spricht, weit häufiger ist als große Geisteskraft. Wie dann, wenn die Mittelmäßigkeit oder gar die Beschränktheit, die Leichtfertigkeit, die Selbstsucht, der Eigennutz, das niedrige Laster die Geschicke des Volks in die Hände bekommt? Die alte Gewohnheit, die Regierung für sich denken und handeln zu lassen und ihre Ansichten als unfehlbare Offenbarungen zu verehren, bleibt bestehen, denn sie ist organisch geworden; die Menge fährt fort, nur den Rat für einen Vollmenschen und Bürger erster Klasse anzusehen, die Bildungsschichten der Nation fahren fort, sich um Titel und Orden zu bemühen, die Regierung fährt fort ihre Gunst nur denen zuteil werden zu lassen, die ihr Beifall klatschen. Wer also nach Ansehen bei der Menge trachte der fährt fort, vor der hohen Obrigkeit in Bewunderung um Verehrung zu ersterben, die Kritik verstummt, der Widerstand der wenigen Unabhängigen ist wirkungslos und in eine Idylle selbstzufriedenen Regierens und bewundernden Gehorchens kann ohne Warnung über Nacht die furchtbarste Katastrophe einbrechen. Dann zeigen sich die Folgen des Systems allgemeiner Minister-Anbetung. Man hat es verlernt, an das Gemeinwohl zu denken und im eigenen Verstande und Gefühle zu suchen, was demselben frommen möchte; man hat immer nur an die Regierung gedacht und diese mit dem Volke, mit dem Vaterlande verwechselt; man hat sich gewöhnt, um Lohn und Anerkennung Augendienst zu treiben, nicht durch Auslebung des eigensten Wesens Selbstachtung und Selbstzufriedenheit zu erringen; das Unheil findet darum das ganze Volk unvorbereitet und wehrlos und dieses geht endgiltig zu Grunde, wenn es nicht noch in seinen Tiefen gesunde und urwüchsige Elemente enthält, die ihre eigenen Entwicklungswege gehen gekonnt, weil sie nie um Titel und Orden gesorgt, und deren unverwüstete Kernhaftigkeit in den Stunden der äußersten Gefahr alle Verbrechen einer blödsinnigen, Regierung und einer schranzenhaften Elite wieder gutmacht. Eine Nation, die das Staatshandbuch mit abgöttischer Verehrung umgiebt, hat nur, was sie verdient, wenn man ihr das Pferd Incitatus als Senator vorsetzt. Sie züchtet sich ihre Bedrücker und Entmanner selbst groß. Auf diese Weise geschieht es, daß man mit Roßbach einschläft und mit Jena erwacht.


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