Max Nordau
Paradoxe
Max Nordau

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Verallgemeinerung

Wir hatten beim Schoppen Bier von einem gewissen Volke gesprochen und waren dazu gelangt, über seinen Charakter, seine leiblichen und geistigen Eigentümlichkeiten ein weites Urteil zu fällen. Da unterbrach einer von uns das Gespräch mit dem Einwande: »Hüten wir uns vor Verallgemeinerungen.« Die Mahnung wurde allseitig als berechtigt anerkannt und ich mochte an ihr keine Kritik üben. Was aber an einem Kneipabend nicht am Platze gewesen wäre, das ist in der Stille des Arbeitszimmers statthaft.

Hüten wir uns vor Verallgemeinerungen! Die Forderung ist theoretisch unanfechtbar. Sie geht aus der Erkenntnis oder doch wenigstens der richtigen Empfindung hervor, daß eine Erscheinung uns über eine andere keine wirkliche, nur eine scheinbare Auskunft geben kann, daß die Erfahrungen, welche wir aus einer Erscheinung abgeleitet haben, auf keine andere, frühere oder spätere, volle Anwendung finden. Jedes Phänomen steht in der Wirklichkeit für sich allein da; es hat thatsächlich keinen sinnlich wahrnehmbaren Zusammenhang mit einem andern Phänomen und wenn es ihn zu haben scheint, so ist es, weil wir ihn in unserem Geiste künstlich herstellen. Um eine Erscheinung so aufzufassen wie sie ist, das heißt wie sie unseren Sinnen zugänglich ist, um ihr voll gerecht zu werden, um sicher zu sein, daß wir nur das wahrnehmen, was sich thatsächlich vor unseren Sinnen ereignet, müßten mir der Erscheinung gänzlich unbefangen, unwissend und ohne Vorurteil gegenüberstehen, das heißt wir müßten alles vergessen, was uns von früheren Erscheinungen bekannt geworden ist, wir müßten sorgfältig vermeiden, ein vorher empfangenes Bild mit dem neuen zu vermischen und der Erscheinung Züge und Beziehungen anzufügen, die nicht in ihr sind und die wir aus anderen Erscheinungen auf sie übertragen. Das wäre die unerläßliche Vorbedingung, um der Wahrheit so nahe zu kommen, wie unsere Organisation dies überhaupt möglich macht. Das wäre der Weg, um leidlich genau zu erfahren, was außerhalb unseres Ichs vorgeht, und um die Wirklichkeit auf uns wirken zu lassen, statt daß wir die Vorgänge in unserem Ich in die Wirklichkeit hinaus versetzen, diese mit den bunten Bildern der Zauberlaterne unseres Denkens bevölkern und dadurch ihren eigentlichen Inhalt überstrahlen und unsichtbar machen.

Das, wie gesagt, ist die theoretische Forderung. Aber sie ist praktisch unerfüllbar. Die Bedingungen, unter denen unser unvollkommmer Denkapparat allein arbeiten kann, widersetzen sich dem. Wir haben im vorigen Kapitel das sehr zusammengesetzte Gefüge der Denkgewohnheit zerlegt, welche den Menschen zur Erfindung der Symmetrie führte. Wir haben gesehen, wie unser Geist, welcher wahrnimmt, daß die Erscheinungen immer auf einander folgen, sie in einen Zusammenhang bringt, in jeder die Ursache der folgenden, die Wirkung der vorausgegangenen sieht, und wie er dazu gelangt, die Ursache als etwas thatsächlich Vorhandenes, Wesenhaftes, von der Erscheinung Getrenntes sich vorzustehen, das von der Erscheinung nur teilweise und unvollkommen versinnlicht wird; wir haben ferner gesehen, daß das Urteil sich die unsinnliche Ursache, welche es sich als die notwendige Vorbedingung der Erscheinung vorstellt, aus Erinnerungsbildern vorher wahrgenommener Erscheinungen aufbaut und daß es die Erinnerungsbilder selbst durch Vervielfältigung einzelner Züge herstellt, welche die Aufmerksamkeit erweckt haben. Ganz dieselbe Denkgewohnheit führt mit Notwendigkeit auch zur Verallgemeinerung. Denn was ist Verallgemeinerung? Ein Schließen von Erfahrenem auf noch nicht Erfahrenes, von Bekanntem auf Unbekanntes, von Vergangenem und Gegenwärtigem auf Zukünftiges. Alles an dieser Handlung unseres Denkapparates ist willkürlich und fehlerhaft. Wir haben kein wirkliches Recht, vorauszusetzen, daß sich überhaupt neue Erscheinungen ereignen oder daß sie, wenn sie sich ereignen, den früheren ähnlich sein werden. Die Zukunft ist unserer Erfahrung unzugänglich. Wir haben nicht einmal einen einzigen Beweis, daß es überhaupt eine Zukunft geben wird, daß überhaupt unseren Sinneserfahrungen neue Erfahrungen folgen werden. Und dennoch zweifeln wir keinen Augenblick lang, daß morgen auch ein Tag ist und daß er ungefähr die Wiederholung des heutigen Tages sein wird. Wie kommen mir zu dieser Sicherheit? Ausschließlich durch unsere Denkgewohnheit. Weil bisher jeder Wahrnehmung immer eine neue Wahrnehmung gefolgt ist, hat sich unser Geist an die Vorstellung gewöhnt, daß dies immer so sein werde und sein müsse, und wenn er die Leere der unbekannten und unkennbaren Zukunft ausfüllen will, so stattet er sie mit Erinnerungsbildern, das heißt mit Wiederholungen früher wahrgenommener Ereignisse aus.

»Vom heut'gen Tag, von heut'ger Nacht
Verlange nichts,
Als was die gestrigen gebracht«

sagt Goethe im West-östlichen Divan. Die Mahnung ist tiefsinnig, aber im Grunde überflüssig. Denn selbst wenn wir wollten, könnten wir vom Heute und nun gar vom Morgen nichts verlangen als was uns das Gestern gebracht hat; wir kennen und wissen nichts anderes, als was wir bereits erfahren haben, und was mir Zukunft nennen, ist nichts als ein Spiegelbild der Vergangenheit, welches mir infolge einer Sehtäuschung unseres Denkens vor uns zu erblicken glauben, während es tatsächlich hinter uns liegt.

Es ist wahr, unsere willkürlichen und fehlerhaften Annahmen haben sich bis jetzt immer verwirklicht. Wenn unsere Vorfahren sicher darauf rechneten, daß es eine Zukunft geben werde, so haben sie sich nicht getäuscht, denn ein Teil dieser Zukunft ist seitdem Gegenwart und Vergangenheit, eine Reihe ihrer auf keiner Wahrnehmung beruhenden Voraussagungen Sinneserfahrung geworden. Die Ereignisse treten in der Weise ein, wie wir es vermuten, und das vorausgeworfene Spiegelbild des Geschehenen wird leibhaft. Aber das beweist nicht, daß wir Recht haben. Es war und ist immer nur ein wildes Raten, mit dem wir Glück hatten. Einen überzeugenden und zuverlässigen direkten Beweis dafür, daß es auch ferner, daß es immer so sein werde, können wir nicht anführen.

Unsere in organischer Mangelhaftigkeit des Denkapparats wurzelnde Geistesgewohnheit der Verallgemeinerung liegt aller Welterkenntnis, allen Naturgesetzen zu Grunde. Diese sind deshalb nichts anderes als Selbsttäuschungen. Denn in Wirklichkeit haben wir vom Wesen der Welterscheinung nicht die leiseste Kenntnis und wir begreifen nicht ein einziges der sogenannten Naturgesetze. Oder kann von Begreifen die Rede sein, wenn wir nicht einmal imstande sind, zu einer Sicherheit darüber zu gelangen, ob die Erscheinungen einen Grund haben? Gäbe es keinen Grund, so könnte es auch keine Gesetze geben, sondern nur Zufälle, die sich wiederholen, wir wissen nicht wie. Angenommen aber, es giebt einen Grund und man kann ihn in Form eines Gesetzes ausdrücken, welches ist dieser Grund und wie lautet das Gesetz, welches ihn nennt und sein Wirken darstellt? Es giebt den lebenden Menschen nicht, der auf diese Frage eine vernünftige Antwort hätte. Wenn wir dennoch von Naturgesetzen sprechen, so ist das ein gefälliges Spiel mit Worten, das wir erfunden haben, um uns über die unleidliche, langweilige Öde unserer Unwissenheit hinwegzuhelfen. Das, was wir ein Naturgesetz nennen, ist einfach die Feststellung, daß gewisse Erscheinungen sich immer ereignet haben; aber es erklärt weder, wie dies geschah, noch schließt es einen Beweis in sich, daß dieselben Erscheinungen sich immer ereignen werden. Wir sagen: es ist ein Naturgesetz, daß die Körper einander anziehen, und zwar steht die Stärke der Anziehung in geradem Verhältnisse zur Masse der Körper und in umgekehrt quadratischem zu ihrer Entfernung. Das ist falsch. Richtig wäre es, zu sagen: man hat bisher stets beobachtet, daß die Körper einander angezogen haben und zwar in geradem Verhältnisse zu ihrer Masse und in umgekehrt quadratischem zu ihrer Entfernung. Eine Erklärung der Beobachtungsthatsache giebt das angebliche Gesetz nicht; es ist nur eine wichtigthuende Art, sie auszudrücken. Die mathematischen Formeln sind ja auch keine Erklärungen mechanischer Erscheinungen, sondern bloß Umschreibungen derselben in einer besondern Sprache. So giebt der komische Arzt in Molière Geronte, der ihn fragt, weshalb seine Tochter stumm sei, die Auskunft: »Sie ist ihrer Sprache beraubt und das ist der Grund, weshalb Ihre Tochter stumm ist.« Ein Gesetz ist ein Befehl, der eine Handlung oder Enthaltung vorschreibt. Die Naturgesetze, das heißt das, was wir so nennen, sind Befehle, welche wir erteilen, nachdem wir gesehen haben, daß die betreffende Handlung oder Enthaltung stattgefunden hat.

Wir finden es natürlich, daß die Erscheinungen, die wir stets beobachtet haben, sich immer wiederholen, und würden uns überaus wundern, wenn sie nicht mehr vorkämen und durch andere, abweichend geartete ersetzt würden. Dies zeigt wieder, wie unvernünftig unsere Denkgewohnheit ist. Wenn wir logisch wären, so müßten wir uns gerade über die Wiederholungen verwundern und die Abweichungen natürlich finden, wir müßten über die Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen stets von neuem staunen und nur bei der Regellosigkeit gleichmütig bleiben. Denn unsere Sinne lehren uns, daß die Erscheinungen selbständig und für sich abgegrenzt sind und keinen wahrnehmbaren Zusammenhang miteinander haben; da wäre es dann viel natürlicher und vernünftiger, daß jede Erscheinung eine neue und eigenartige Sinneserfahrung veranlaßte, als daß sie frühere Erfahrungen erneuerte und vertiefte. Da jede Erscheinung etwas Individuelles ist, wie kommt es dann, daß sie mit anderen eine gewisse Ähnlichkeit hat? Das Naturgesetz, das heißt die prätentiöse Feststellung der Thatsache, daß sich die Erscheinungen wiederholen, ist nicht die Erklärung derselben, sondern ihr Geheimnis.

Als kleiner Junge habe ich ein Spiel gekannt und geübt, das mir damals recht anregend schien. Es bestand darin, daß ich oder ein Altersgenosse auf ein weißes Blatt Papier willkürliche Punkte hinsetzte und der andere dann diese Punkte durch Linien so verband, daß vernünftige Figuren entstanden. Einer meiner kleinen Kameraden zeichnete sich in dieser Übung besonders aus. Wenn ich die Punkte noch so boshaft und toll hinsetzte, einen ganzen Schwarm in eine Ecke und nichts in die anderen, oder einen Wirbel, oder eine Anzahl Punkte in gleichmäßigen Abständen, er brachte es immer fertig, daß mit seinen Verbindungslinien irgend etwas herauskam, was einen Sinn hatte, einmal ein Löwe, ein andermal ein Haus oder eine ganze Schlacht mit den merkwürdigsten Zwischenfällen. Ja er trieb die Kunst so weit, daß er die Punkte mit verschiedenfarbigen Tinten in verschiedener Weise verband und sie zugleich zu einem roten Hunde, einer blauen Schwalbe, einem grünen Kehrbesen und einer gelben Alpenlandschaft anordnete. Unsere ganze Weltanschauung ist nichts anderes als dasselbe Spiel im Großen und mit tragischem Ernste geübt. Die Erscheinungen, die wir mit den Sinnen wahrnehmen, sind die gegebenen Punkte. Sie stellen nichts Vernünftiges vor und lassen keinen verständlichen Zusammenhang erkennen. Sie sind das Chaos und der Tumult. Wir aber ziehen geduldig und kunstvoll Linien von einem Punkte zum andern und siehe da, es entstehen Figuren, die etwas Bekanntem ähnlich sehen. Wer nicht weiß, wie es gemacht wird, der könnte glauben, die Figuren seien auf dem Papiere gegeben, durch die Punkte bereits vorgezeichnet gewesen. Man muß ihm dann erst zeigen, daß das, was aus den Punkten erst Figuren macht, von der Menschenhand hinzugefügt ist und daß der Punkt auf dem Papier stand, rätselhaft und undeutbar, ein Selbstzweck, ehe ihn die Linie mit seinem Nachbar verknüpfte und dienend in den Umriß einer im Kopfe des spielenden Knaben entstandenen Gestalt einfügte. Die Philosophie thut sogar, was mein Spielgefährte gethan hat, sie verbindet mit verschiedenfarbiger Tinte dieselben gegebenen Punkte zu den verschiedensten Gestalten und jede Weltanschauung, jedes System giebt von denselben rätselhaften und undeutbaren Erfahrungs-Thatsachen ein anderes Zusammenhangs-Bild und wenn man mich dazu zwingt, so werde ich mich herbeilassen, jedes System und jede Weltanschauung gleich berechtigt, das heißt gleich willkürlich und subjektiv, nur mehr oder weniger hübsch und geschickt zu finden.

Die Namen, die wir für unsere willkürlichen Verallgemeinerungen ausgesonnen haben, klingen gut und treten mit vertrauenerweckendem Aussehen auf. Wir sprechen von Hypothesen, von Naturgesetzen. Was ist eine Hypothese? Eine Linie, die wir von einem gegebenen Punkte aus in beliebiger Richtung ziehen. Was ist ein Naturgesetz? Eine Linie, welche zwei gegebene Punkte verbindet und in derselben Richtung weiter hinaus verlängert ist, ins Unbekannte, ins Unendliche. Eine einzige beobachtete Thatsache genügt uns, um sie zu einer Hypothese zu verallgemeinern, die nicht bewiesen und nicht widerlegt werden kann und die aus dem festen Mittelpunkte nach allen Richtungen der Windrose laufen mag, wie es der Phantasie des Verallgemeiners beliebt; zwei beobachtete Thatsachen, zwischen denen wir eine Ähnlichkeit wahrnehmen, sind ausreichend, um sie in der Form eines Gesetzes auszudrücken, von dem wir annehmen, daß es nachfolgende Erscheinungen bis ins Unendliche bestimmen wird. Es ist immer das Spiel meiner Kindheit, die Verbindung selbständiger Punkte zu zusammenhängenden Figuren!

Und doch – es hilft nichts, wir können der Verallgemeinerung nicht entbehren. Wir wissen, daß sie willkürlich und unberechtigt ist. Wir wissen, daß sie uns täuscht, daß sie für Zukunft ausgiebt, was Vergangenheit, und für Erraten, was Erinnern ist, daß sie als Erfahrung hinstellt, was Zusammenstoppelungs-Arbeit der Einbildungskraft ist, aber unsere organische Unvollkommenheit zwingt uns dennoch, uns ihrer unausgesetzt zu bedienen, und mir müssen sogar anerkennen, daß sie vielleicht die Grundbedingung aller Erkenntnis ist, jedenfalls aber diese erleichtert. Jede Wahrnehmung wird dem Bewußtsein deutlicher, wenn sie an Erinnerungen anknüpft und diese wachruft. Wenn wir einen Gegenstand wiederholt gesehen und seine Erscheinung unserem Gedächtnisse eingeprägt haben, so daß wir ihn uns bei geschlossenen Augen vorstellen können, so brauchen wir ihn nur ganz kurz und flüchtig zu erblicken, um ihn sofort mit der größten Deutlichkeit wahrzunehmen, während wir einen andern Gegenstand, der uns unbekannt wäre, viel schärfer und näher sehen und viel länger betrachten müßten, um von ihm ein annähernd ebenso deutliches Bild zu erhalten. Deshalb lesen wir unsere eigene Sprache leicht und schnell, eine fremde, uns unbekannte Sprache dagegen viel schwerer und langsamer, obwohl sie uns in denselben Lettern und unter denselben Bedingungen von Druck, Papier, Beleuchtung und Abstand vom Auge entgegentritt. Deshalb erkennen wir einen Freund auf eine Entfernung, in welcher mir noch kaum die Züge eines Unbekannten unterscheiden könnten. Wundt ist es, der in seiner Logik diese Thatsachen vortrefflich darstellt und sie als eine der Bedingungen der Gedanken-Gesellung auffaßt. Wir bekommen eben von den wenigsten Erscheinungen bei unserer ersten Begegnung mit ihnen einen klaren Sinneseindruck, der hinreicht, um dem Bewußtsein eine scharfe Vorstellung von ihnen zu geben. Wir müssen sie wiederholt wahrnehmen und dem Gedächtnis einprägen. Was wir von ihnen dann sehen oder hören, das sind weit weniger sie selbst als die Erinnerungsbilder, die sie im Gedächtnis heraufbeschwören. Das ist so wahr, daß unserem Denkapparate oft genug allerlei Verwechselungen widerfahren. Wir lesen z. B. eine Anführung in einer uns ganz vertrauten fremden Sprache inmitten eines deutschen Textes und glauben auch die Anführung deutsch zu sehen. Da steht »sunt denique fines« und ich lese in Gedanken: »Es hat Alles seine Grenze!« Die lateinischen Wörter werden vom Auge nur flüchtig gesehen und das Bewußtsein nimmt nicht ihre wirkliche Form wahr, sondern nur das Erinnerungsbild ihres Sinnes, das der optische Eindruck im Gedächtnis geweckt hat.

Durch diesen Mechanismus erklärt es sich, daß die Verallgemeinerung uns manchmal die Wahrnehmung der Erscheinungen erleichtert. Wir behalten von einer wahrgenommenen Erscheinung ein Bild im Gedächtnisse; wir gestalten dieses Erinnerungsbild zu einem Schema oder Gesetze aus; wenn dann auch nur ein Zipfel einer ähnlichen Erscheinung vor unseren Sinnen auftaucht, so genügt das, um das Erinnerungsbild im Bewußtsein heraufzubeschwören und uns die ganze Erscheinung wahrnehmen zu lassen. Gewiß ist dieser Vorgang nicht eine Erleichterung allein, sondern auch zugleich eine Fehlerquelle. Denn er macht, daß wir »Es hat Alles seine Grenze« vor uns zu sehen glauben, während tatsächlich »sunt denique fines« dasteht; daß wir unserem inneren Schema mehr Aufmerksamkeit schenken als der äußern Erscheinung. Aber andererseits würden zahllose Erscheinungen, die wir auf diese Weise doch mindestens mangelhaft und verfälscht wahrnehmen, ganz unbemerkt an uns vorübergehen, wenn wir nicht schon ein schematiches Bild von ihnen im Geiste hätten.

Wir können ohne Übertreibung sagen: wir sehen in der Regel nur, was wir schon gesehen haben und zu sehen erwarten. Sowie wir eine Erscheinung, die uns genugsam aufgefallen ist, um unsere Aufmerksamkeit zu erwecken, zu einer Hypothese oder einem Gesetze verallgemeinert haben, fällt uns plötzlich eine Fülle von Thatsachen in die Augen, die bis dahin vollkommen unbemerkt geblieben sind. Davaine und Villemain bemerken, daß im Blute von Tieren, die am Milzbrand erkrankt sind, mikroskopische Organismen auftreten und daß die Tuberkulose mit den Auswurfstoffen von einem Tiere auf das andere übertragen werden kann. Es vergehen keine zehn Jahre und man hat in fünfzehn oder sechzehn Tier- und Menschenkrankheiten und in etwa einem Dutzend außerhalb des Organismus vor sich gehender Gärungsprozesse Spaltpilze gefunden, welche dieselben veranlassen. Ein Arzt beobachtet eine neue Krankheit, die vor ihm nie gesehen oder beschrieben worden ist. In wenigen Monaten berichten hundert andere Ärzte über Fälle der neuen Krankheit, die ihnen in der kurzen Zeit vorgekommen sind. Heidenhain findet, daß man gewisse empfindliche Individuen in einen seltsamen Zustand versetzen kann, den er Hypnotismus nennt. Heute, wenige Jahre später, wissen wir, daß ungefähr jeder vierte Mensch hypnotisierbar ist, und auf Schritt und Tritt stolpern wir förmlich über hypnotische Erscheinungen. Haben diese früher nicht bestanden? Gewiß. Aber wir haben sie nicht wahrgenommen. Warum? Weil wir nicht schon im voraus ein Bild von ihnen im Geiste hatten. Das ist der Wert der Verallgemeinerung. Indem wir von einer sinnlich wahrgenommenen Thatsache auf eine andere, die wir noch nicht erfahren haben, schließen, beschwören wir diese thatsächlich vor uns herauf. Die Erscheinungen umwimmeln uns, aber sie tragen Tarnkappen, die sie uns unsichtbar machen. Durch die Hypothese reißen wir ihnen die Tarnkappe vom Haupte. Das Naturgesetz ist ein Vorstehhund, mit dem wir die listig verborgene Erscheinung aufspüren. Die Gefahr ist nur, daß unser Hund vor einem schlafenden Hirten vorsteht, wenn wir auf Rebhühner pürschen. Das widerfährt manchmal selbst den besten englischen Hühnerhunden. Die meisten Menschen sind ungenaue Beobachter, weil sie keines genügend hohen Grades von Aufmerksamkeit fähig sind. Sie sehen deshalb auch nur, was sie sehen wollen. Sowie darum eine Hypothese auftaucht, bauen sie sich mit Hilfe derselben im Bewußtsein ein Bild von Erscheinungen auf und übertragen dieses auf alles, was ihnen vor die Augen kommt, so daß sie überall nur noch Thatsachen sehen, die zu ihrer Hypothese zu passen scheinen. Es giebt einen einfachen Versuch, den jeder wiederholen kann. Man zeichne auf ein Blatt Papier oder eine Schiefertafel vier gleichlange und möglichst genau gleich stark aufgetragene Linien in der Weise, daß sie sich sämtlich im Mittelpunkte rechtwinkelig schneiden und ein lateinisches (gerades) und ein Andreas- (liegendes) Kreuz bilden. Diese Figur betrachte man mit der vorgefaßten Vorstellung, daß man in ihr hauptsächlich eins der beiden Kreuze, entweder das gerade oder das liegende sehe. Man wird thatsächlich das Kreuz, das man sehen will, stark hervor-, das andere, das doch gleich deutlich gezeichnet ist, zurücktreten, blasser und schmaler und zu einem bescheidenen Anhängsel des ersten werden sehen. Eine falsche Hypothese, die Mode wird, schafft sich ihr Beweismaterial haufenweise herbei und herrscht auf einem festen Unterbau angeblich mit den Sinnen wahrgenommener Thatsachen Jahrzehnte und Jahrhunderte lang, bis ein stärkeres Gehirn kommt, das größerer Aufmerksamkeit fähig ist, die Erscheinungen mehr mit den Sinnen als mit dem fertigen Erinnerungsbilde seines Bewußtseins beobachtet und herausfindet, daß die Erscheinungen sich mit der Hypothese nicht decken.

Ich kann mir bei diesem Sachverhalte nichts Erstaunlicheres denken, als daß die Philosophen sich Jahrhunderte lang darüber herumzanken konnten, ob die induktive oder die deduktive Methode die vorzüglichere sei. Die Induktion soll darin bestehen, daß man die Thatsachen vorurteilslos beobachtet und aus ihnen ein Gesetz ableitet, die Deduktion darin, daß man sich im Geiste ein Gesetz ausdenkt und es dann schlecht und recht auf die Thatsachen anwendet. Bacon von Berulam gilt als der Vater der übrigens schon von Aristoteles geübten Induktion, die scholastischen Philosophen des Mittelalters sieht man als die besten Beispiele deduktiver Denker an, obwohl eigentlich das erste Beispiel wissenschaftlicher Deduktion in der pythagoräischen Komposition der Welterscheinung nach vorgefaßten Zahlenvorstellungen zu sehen sein dürfte. Aber im Grunde genommen handelt es sich ja da bloß um ein eitles Spiel mit Worten, die ganz dasselbe bedeuten! Wie kommt man zu einer Deduktion, das heißt zu einer verallgemeinernden Vorstellung von den Dingen? Offenbar nur durch einen Sinneseindruck von den Dingen, wenn auch durch einen flüchtigen; durch eine Beobachtung der Dinge, wenn auch durch eine ungenaue. Die wildesten Begriffe, die man sich von den Erscheinungen macht, können nur entstehen, wenn man die Erscheinungen wahrgenommen hat. Sie sind also Induktionen, nichts als Induktionen. So ist selbst die pythagoräische Vorstellung von der Rolle der Drei, Sieben und Zehn aus der sinnlichen Wahrnehmung der drei Dimensionen, der Mondphasen und der Finger abgeleitet. Und was ist Induktion? Die Ableitung eines Begriffs von einem Sinneseindrucke. Die Verarbeitung einer wirklich wahrgenommenen Thatsache zu einem Schema, einer Verallgemeinerung, einer fertigen Vorstellung, mit welcher der Geist an alle ähnlichen künftigen Thatsachen herantreten wird. Diese fertige Vorstellung, die wir noch vor dem neuen Sinneseindruck in uns haben, die nicht von der individuellen Erscheinung, sondern von einer andern, ihr vorausgegangenen abgeleitet ist, mit der sie thatsächlich nicht das geringste gemein hat, ist Deduktion, nichts als Deduktion. Laßt mich also mit eurem Kauderwälsch zufrieden, denn es bedeutet nichts. All unser Denken ist immer zugleich Induktion und Deduktion; es beginnt mit Sinneseindrücken und Wahrnehmungen, also mit Induktion, und es schreitet zu deren Verallgemeinerung, zu ihrer Verarbeitung in von da ab vorbestehende Begriffe vor, also zur Deduktion. Der Astronom, der auf Grund des Newtonschen Anziehungsgesetzes eine Planetenbahn ausrechnet, und der Kongoneger, der überzeugt ist, daß die Europäer auf dem Meeresgrunde wohnen und von demselben auftauchen, um zu ihm zu kommen, weil er von den anlangenden Schiffen zuerst die Mastspitzen, dann allmählich die tieferen Teile am Horizonte aufsteigen und die sich entfernenden Schiffe in umgekehrter Ordnung nach und nach bis zu den Mastspitzen verschwinden sieht, üben ganz dieselbe zugleich induktive und deduktive Geistesthätigkeit. Beide beobachten Erscheinungen und leiten von ihnen eine Hypothese ab. Beide fügen den sinnlich wahrnehmbaren Thatsachen Züge hinzu, die ihnen in Wirklichkeit nicht eigen sind, die sie an ihnen nicht thatsächlich wahrgenommen haben, die nur in ihrer Einbildungskraft existieren. Wir sagen allerdings: der Astronom hat Recht und der Kongoneger hat Unrecht. Was ist aber unser Kriterium? Die Hypothese, mit welcher der Astronom arbeitet, stimmt zu allen Thatsachen, die wir kennen, diejenige des Kongonegers thut dies nicht. Wüßte der Letztere, daß der Europäer ganz so beschaffen ist wie er selbst und nicht am Grunde des Meeres leben kann; wüßte er ferner, daß die Erde rund ist und ihre Krümmung ihm allmählich den Anblick des sich entfernenden Schiffes entzieht; oder wäre er endlich einmal selbst nach Europa gekommen, so sähe er ein, daß er sich irrt, und er würde für die Erscheinung des allmählichen Verschwindens der Seeschiffe von unten an und ihres allmählichen Sichtbarwerdens von oben an eine andere Hypothese finden. Und wer weiß, ob uns die Hypothese des Astronomen nicht bloß darum genügt, das heißt wahr scheint, weil wir die Thatsachen nicht kennen, die ihr widersprechen. Wer weiß, ob mir sie nicht aufgeben müßten, wenn sich unsere Kenntnis von Thatsachen erweitern würde! Wer weiß, ob nicht einst besser unterrichtete Menschen alle unsere heutigen Hypothesen so belächeln werden, wie wir heute die des Kongonegers belächeln, trotzdem sie mit derselben Methode erdacht ist wie die von der Anziehungskraft, trotzdem sie ebenfalls auf der Beobachtung einer sinnlich wahrnehmbaren Erscheinung beruht, nämlich des Versinkens fortsegelnder Schiffe im Meere und des Aufsteigens der ankommenden aus demselben, trotzdem sie also wirkliche Induktion ist.

Die Methode des Denkens ist bei allen Menschen dieselbe, bei den Kongo-, ja bei den Australnegern ganz so wie bei einem Universitätsprofessor der Naturwissenschaften. Das, was allein einen Unterschied zwischen ihnen macht, das ist die Menge der ihnen bekannten Thatsachen und die Fähigkeit der genauen Beobachtung, das heißt der Aufmerksamkeit, die wieder der Ausdruck größerer und geringerer Entwickelung des Gehirns ist. Je aufmerksamer wir zu sein vermögen, um so genauer werden wir die Erscheinungen wahrnehmen; je mehr Thatsachen wir kennen, um so leichter werden wir es vermeiden, ihnen Züge anzudichten, deren Unrichtigkeit und Unmöglichkeit durch andere Thatsachen bewiesen wird. Aber wir alle haben den Drang, die von uns wahrgenommene einzelne Erscheinung zu verallgemeinern, sie mit anderen zu verknüpfen, mit denen kein sinnlich wahrnehmbarer Zusammenhang sie verbindet, und ihnen Züge anzufügen, die nicht in ihnen liegen. Diese Denkgewohnheit, eine Folge unserer organischen Unvollkommenheit, ist die Quelle aller unserer Irrtümer. Ließen wir die Erscheinungen auf unsere Sinne wirken, ohne ihnen mit fertigen Erinnerungsbildern anderer, vorausgegangener, ihnen mehr oder weniger oberflächlich ähnlicher Erscheinungen entgegenzukommen, wir könnten unwissend sein, aber uns nicht irren; wir könnten Thatsachen übersehen oder unvollkommen wahrnehmen, aber sie nicht falsch deuten; mir hätten in unserem Bewußtsein vielleicht wenig Vorstellungen, aber keine unrichtigen; denn der Irrtum ist nie die Wahrnehmung, sondern die Deutung, diese aber ist das, was nicht in der Erscheinung liegt, sondern was wir ihr aus eigenen Mitteln hinzufügen, was nicht die Sinne dem Gehirn mitteilen, sondern was das Gehirn den Sinnen weismacht. Wir halten aber auf unsere fehlerhafte Denkgewohnheit, denn sie giebt uns ein angenehmes Gefühl des geistigen Reichtums, indem sie unser Bewußtsein mit einem Gedränge von Vorstellungen erfüllt, die durch keinen ihnen angeborenen Zug erraten lassen, ob sie richtig oder unrichtig, Schemen oder Wirklichkeiten sind.

Ein Irländer, den sein ganzes Dorf als Bettler kannte, kam eines Tages in die Kneipe und ließ sich einen Schweinebraten und viel Whisky vorsetzen. Als ihm der Wirt seine Verwunderung über diese Üppigkeit ausdrückte, sagte Paddy stolz: »Ein Mann, der ungefähr hundert Pfund Jahreseinkommen hat, kann sich das erlauben.« »Wie, du hättest hundert Pfund Einkommen?« »Gewiß, ein englischer Herr, dem ich den Handkoffer zum Bahnhof trug, schenkte mir fünf Schilling, und fünf Schilling auf den Tag machen gegen hundert Pfund auf das Jahr.«

Jedesmal, wenn wir eine Wahrnehmung verallgemeinern, ahmen wir den Paddy dieser Anekdote nach und es könnte wohl sein, daß unser Reichtum an Erkenntnis den hundert Pfund Jahreseinkommen dieses zugleich induktiven und deduktiven Irländers gleichwertig sei.


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