Max Nordau
Paradoxe
Max Nordau

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Suggestion.

Der Leser hat nun erfahren, wie ich mir den Mechanismus des Menschheitsfortschritts denke. Dieser geschieht nicht in breiter Front mit den Offizieren in Reih und Glied. Eine ganz winzige Minderheit von Pfadfindern geht einzeln vor, durchbricht den Busch, kerbt die Bäume, richtet Wahrzeichen auf und zeigt den Weg; die Menge kommt dann nach, zuerst in kleinen Gruppen, dann in dicken Haufen. Jede Förderung der Menschheit ist das Werk des Genies, das in ihr dieselben Verrichtungen übt wie die höchsten Hirnzentren im Einzelwesen. Das Genie denkt, urteilt, will und handelt für die Menschheit; es verarbeitet Eindrücke zu Vorstellungen, es errät die Gesetze, deren Ausdruck die Erscheinungen sind, es antwortet auf die äußeren Anregungen mit zweckmäßigen Bewegungen und bereichert fortwährend den Inhalt des Bewußtseins. Die Mehrheit thut nichts anderes, als das Genie nachahmen; sie wiederholt, was ihr das Genie vorgethan hat. Die vollkommen normal gebildeten, gut und gleichmäßig entwickelten Individuen thun es sofort und erreichen annähernd das Muster. Man nennt sie Talente. Die in einer oder der andern Richtung zurückgebliebenen, an die Durchschnittsmaße des jeweiligen Menschentypus nicht heranreichenden Individuen gelangen erst später und mühsamer dazu und ihre Nachahmung ist weder geschickt noch treu. Das sind die Philister.

Auf welche Weise wirkt nun aber das Genie auf die Menge? Wie bringt es diese dazu, seine Gedanken nachzudenken, seine Handlungen nachzuthun? Oberflächlichkeit ist mit der Antwort rasch genug bei der Hand. »Beispiel! Nachahmung!« Mit diesen Schlagworten glaubt man alles gesagt zu haben. In Wirklichkeit erklären sie nichts; sie machen weder verständlich, weshalb der Mensch, und übrigens auch das Tier, den Drang hat, nachzuahmen, noch mit welchen Mitteln ein Wesen das andere bestimmt, seine Hirnzentren und Muskeln in ungefähr derselben Weise arbeiten zu lassen wie es selbst. Hier ist ein Mensch, der etwas denkt oder thut. Hier ist ein anderer Mensch, der innerlich denselben Gedanken, äußerlich dieselbe Handlung wiederholt. Ich kann nicht umhin, den Gedanken oder die Handlung des einen als Ursache, den Gedanken oder die Handlung des andern als Wirkung aufzufassen. Ich sehe das Beispiel und die Nachahmung. Aber zwischen den beiden klafft eine Lücke. Ich sehe das Band nicht, das sie verknüpft. Ich weiß noch nicht, womit die Kluft zwischen der Ursache und der Wirkung überbrückt ist. Wir stehen da ungefähr vor derselben Schwierigkeit wie in der Kinematik oder Bewegungs-Wissenschaft, die wohl feststellt, daß Bewegungen vorhanden sind, auch ihre Gesetze mit größerer oder geringerer Sicherheit findet, aber noch niemals auch nur den leisesten Versuch gemacht hat, zu erklären, wie die Bewegung eines Körpers sich auf einen andern überträgt, wie die Kraft von einem Atom durch den nicht mit Stoff ausgefüllten Zwischenraum auf das andere Atom hinüberspringt und auf dasselbe einwirkt. Die Unfähigkeit des menschlichen Geistes, sich vorzustellen, wie Kraft oder Bewegung, die selbst nichts Stoffliches, sondern ein Zustand des Stoffs ist, einen stoffleeren Raum zwischen Stoffteilchen soll durchschreiten können, ist sogar der stärkste Vernunfteinwand gegen die atomistische Theorie, welche feit Anaxagoras die Philosophie beherrscht und unserer heutigen Mechanik und Chemie zu Grunde liegt; sie ist es, die zur Annahme des völlig unverständlichen Äthers, der die Atome umgeben soll, genötigt und zu allen Zeiten, auch in der Gegenwart wieder, einige der tiefsten Geister, wie z.B. Descartes, bestimmt hat, die Theorie der Einheit und Kontinuierlichkeit des Stoffs durch den ganzen Raum der atomistischen Theorie vorzuziehen.

Die Psychologie, glaube ich, wird mit ihrer Schwierigkeit leichter fertig, als die Bewegungswissenschaft. Sie kann sich auf eine erst in neuerer Zeit kennen gelernte Erscheinung berufen, welche eine recht befriedigende Erklärung der Erfahrungsthatsache in sich schließt, daß Menschen aufeinander geistig wirken, daß Menschen andere Menschen nachahmen. Diese Erscheinung ist die Suggestion.

Ein Wort der Erläuterung für diejenigen, die nicht wissen sollten, was man in der Psychologie unter Suggestion versteht. Wir haben im vorigen Kapitel gesehen, daß alle Bewegung vom Willen veranlaßt wird und daß der Wille auf bewußte Anregungen des Urteils oder auf unbewußte, automatische Anregungen emotioneller Art seine Bewegungsimpulse ausschlägt. Wenn nun diese Anregungen, die den Willen in Thätigkeit versetzen, nicht von dem eigenen, sondern von einem fremden Gehirn ausgehen, wenn sich der Wille eines Individuums zum Diener eines fremden Urteils oder einer fremden Emotion macht und Bewegungsvorstellungen verwirklicht, die in einem andern Zentralnervensystem ausgearbeitet wurden, so sagen wir, daß diesem Individuum seine Handlungen suggeriert sind, daß es unter dem Einflüsse einer Suggestion steht. Am besten ist die Suggestion natürlich zu beobachten, wenn sie krankhaft übertrieben wirkt. Dies ist der Fall im Zustande des Hypnotismus. Ein Individuum, das hypnotisiert werden kann, also in der Regel ein hysterisches, wird in diese seltsame und noch nicht genügend erklärte Verfassung des Nervensystems versetzt. Derjenige, der es hypnotisiert hat, sagt ihm dann: »Du wirst morgen früh um 8 Uhr in die X-straße Nummer Soundsoviel zu Herrn Mayer gehen und ihn mit einem Küchenmesser, das du mitnimmst, erstechen.« Das hypnotische Individuum wird geweckt und geht fort. Es hat nicht die geringste Erinnerung von dem, was während seiner Bewußtlosigkeit mit ihm vorgegangen ist. Es kennt Herrn Mayer nicht, ist vielleicht auch nie in der X-straße gewesen und hat namentlich nie einer Fliege etwas zu Leide gethan. Am nächsten Morgen aber nimmt es ein Küchenmesser, es, wenn es sein muß, einfach irgendwo stehlend, geht in die X-straße, klingelt Schlag 8 Uhr bei Herrn Mayer und würde ihn ganz gewiß erstechen, wenn eben Herr Mayer nicht vom Experiment unterrichtet wäre und die nötigen Vorsichtsmaßregeln getroffen hätte. Man nimmt das Individuum nun fest, entwaffnet es und fragt, was es vorgehabt habe. In der Regel gesteht es sofort seine verbrecherische Absicht, manchmal versucht es anfangs zu leugnen und bekennt erst nach einigem Drängen. Wenn man zu wissen wünscht, weshalb es den Mord habe begehen wollen, so sagt es, sofern es von der Natur einfältig ist, entweder: »Es hat sein müssen«, oder es hüllt sich in ein verstocktes Schweigen; ist es dagegen aufgeweckt oder klug, so ersinnt es die merkwürdigsten Geschichten, um seine Handlungsweise sich selbst und den anderen zu erklären. Herr Mayer ist dann ein alter Feind seiner Familie. Er hat im Geheimen gegen das Individuum gewühlt. Er hat es verleumdet, ihm in seiner Laufbahn geschadet u. dergl. Niemals ahnt es, daß ihm seine Handlung von einem fremden Urteil eingegeben, suggeriert worden ist. Aber die Suggestion wirkt nicht bloß von einem Tage auf den andern, man hat sie ihren Einfluß schon sechs Monate lang bewahren sehen. Eine Handlung, die im hypnotischen Zustande suggeriert wurde, erfuhr ein halbes Jahr später, an dem vorher bestimmten Tage, die volle Verwirklichung, ohne daß das betreffende Individuum während der Zwischenzeit von der Suggestion, unter welcher es stand, auch nur die leiseste Vermutung hatte. Die Suggestion braucht nicht in der Form eines bestimmten Befehls aufzutreten. Eine Andeutung genügt. Man macht eine traurige Miene und spricht in weinerlichem Tone einige gleichgiltige Worte zum hypnotisierten Individuum. Dasselbe gerät sofort in die kläglichste Stimmung und spricht und handelt, wie man es in tiefster Niedergeschlagenheit zu thun pflegt. Man sagt ihm leichthin: »Bist du gern Soldat?« und es hält sich, auch wenn es ein Frauenzimmer ist, sofort für einen Soldaten, beginnt zu kommandieren, zu exerzieren, vielleicht auch zu fluchen, kurz all das zu thun, was nach seiner Auffassung für einen Soldaten wesentlich ist. Man reicht ihm ein Glas Wasser und fragt: »Wie schmeckt dir dieser Wein?« Das Individuum empfindet den Weingeschmack und ist imstande, wenn es ein Kenner ist, Gattung und Jahrgang des Gewächses anzugeben; läßt man es viel davon trinken, so wird es sogar vollständig berauscht. Ich könnte noch hundert derartige Beispiele der Suggestion anführen, über die namentlich in Frankreich bereits eine ganze Litteratur vorhanden ist und mit der sich so hervorragende Beobachter und Versucher wie Charcot, Bernheim, Luys, Dumontpallier und Magnin eingehend beschäftigt haben.

In all diesen Fällen handelt es sich um krankhafte Übertreibung. Bei einem gesunden Menschen kann die Suggestion nicht so grell auftreten. Es ist unmöglich, ihm weis zu machen, Wasser sei Wein, oder er sei ein Kardinal, wenn er in Wirklichkeit ein Referendar ist, und es wird schwerlich gelingen, ihm nahezulegen, daß er mittels rechtsgiltiger Urkunde sein Vermögen einem Fremden schenke, den er nicht einmal dem Namen nach kennt. Allein daß auch bei ihm die Suggestion, wenngleich in weit beschränkterem Maße, ihre Wirkung übt, daß auch seine Vorstellungen und Handlungen unter dem Einflüsse der Suggestion stehen, das ist kaum zu bezweifeln.

Ich wollte erklären, wie ein Mensch auf den andern wirkt, wie einer Gedanken und Handlungen des andern nachahmt, ich habe aber bis jetzt bloß an die Stelle eines Wortes ein anderes gesetzt, statt »Beispiel und Nachahmung« »Suggestion« gesagt. Was ist nun aber das Wesen der Suggestion und auf welche Weise kommt sie zu stande? Die Antwort, welche ich auf diese Frage zu geben habe, ist natürlich nur eine Hypothese, aber sie scheint mir ausreichend und es wird ihr von keiner bisher beobachteten Thatsache widersprochen. Suggestion ist die Übertragung der Molekularbewegungen eines Gehirns auf ein anderes in der Weise, wie eine Saite ihre Schwingungen auf eine benachbarte Saite überträgt, wie eine heiße Eisenstange, wenn man sie gegen eine kältere hält, dieser ihre eigenen Molekularbewegungen mitteilt. Da alle Vorstellungen, Urteile und Emotionen Bewegungsvorgänge der Hirnmoleküle sind, so werden natürlich durch die Übertragung der Molekularbewegungen auch die Urteile, Vorstellungen und Emotionen übertragen, deren mechanische Unterlage jene Bewegungen sind.Herr Karl du Prel hat 1891 ein Buch veröffentlicht, welches die Erscheinung des Gedankenlesens mittels einer Hypothese zu erklären sucht, die meine obige hypothetische Erklärung der Suggestion beinahe wörtlich wiederholt. Ich könnte geradezu von Plagiat sprechen, will aber lieber annehmen, daß meine sechs Jahre vor der seinigen veröffentlichte Arbeit dem doch so ungewöhnlich belesenen Herrn Karl du Prel unbekannt geblieben ist.

Um diesen Vorgang ganz deutlich zu machen, habe ich nur noch einige kurze Ausführungen hinzuzufügen. Wie wir schon im vorigen Kapitel gesehen haben, besitzt unser Organismus nur ein einziges Mittel, um Zustände seines Bewußtseins, also Urteile, Vorstellungen und Emotionen, auch für andere sinnlich wahrnehmbar zu machen, nämlich Bewegungen.

Bestimmte Zustände des Bewußtseins veranlassen bestimmte Bewegungen, die also ihr Ausdruck sind. Wir gewöhnen uns daran, die Bewegungen mit den sie veranlassenden Bewußtseins-Zuständen zu verknüpfen und von jenen auf diese zu schließen. Eine Bewegung ist entweder ein direkter oder ein symbolischer Ausdruck eines Bewußtseins-Zustandes. Wenn ein Mensch einem andern einen Faustschlag versetzt, so ist diese Muskelhandlung der direkte Ausdruck eines Bewußtseins-Zustandes, der die Vorstellung in sich schließt: »Ich will schlagen«. Wenn man dagegen den Kopf hängen läßt und seufzt, so sind diese Bewegungen der Hals- und Brustmuskeln der symbolische Ausdruck eines Bewußtseins-Zustandes, den wir Niedergeschlagenheit oder Trübsinn nennen können. Die Symbole der Bewußtseins-Zustände zerfallen wieder in zwei Gruppen, in natürliche und konventionelle. Die natürlichen Symbole sind solche, die organisch mit bestimmten Bewußtseins-Zuständen verknüpft sind. Diese können nicht bestehen, ohne jene hervorzurufen. Gähnen, Lachen sind natürliche Symbole der Ermüdung und Heiterkeit. Die Einrichtung unseres Organismus bringt es mit sich, daß im Zustande der Ermüdung, das heißt bei einer durch Arbeit hervorgerufenen Anhäufung von Zersetzungsprodukten (z. B. Milchsäure) in den Geweben, die Nervenzentren, welche die Atemmuskeln innervieren, gereizt werden und den Krampf dieser Muskeln veranlassen, den wir mit dem Ausdrucke Gähnen bezeichnen. Da die großen Züge des Organismus in der ganzen Menschheit, ja teilweise in allen Lebewesen dieselben sind, so bleiben auch die natürlichen Symbole durch die ganze Menschheit dieselben, sie werden von allen Menschen, zum Teil sogar von den höheren Tieren, verstanden und die Erfahrung, welche man durch bloße Selbstbeobachtung erlangt, genügt, um ihre Bedeutung erkennen zu lassen, um zu erraten, welchen Bewußtseins-Zustand die betreffenden Symbole ausdrücken. Die konventionellen Symbole dagegen sind solche, die nicht organisch mit den Bewußtseins-Zuständen, welche sie ausdrücken sollen, verknüpft sind, von diesen nicht notwendig hervorgerufen werden, sondern nur durch menschliche Übereinkunft ihre Bedeutung erlangt haben. Kopfnicken, Heranwinken mit dem Finger sind konventionelle Symbole der Bewußtseins-Zustände, welche die Vorstellungen in sich schließen: »Ich stimme zu« oder »komm her«. Es ist eine willkürliche Verabredung, daß wir diesen Bewegungen eine solche Bedeutung geben (ganz willkürlich ist sie freilich auch nicht, vielmehr sind die konventionellen Symbole ebenfalls aus natürlichen hervorgegangen, doch ist hier nicht der Ort, dies zu entwickeln), und sie haben auch nicht bei allen Völkern dieselbe Bedeutung. Die Orientalen beispielsweise bewegen bei der Bejahung den Kopf nicht wie wir von oben nach unten, sondern von rechts nach links und zurück. Das beste und wichtigste Beispiel einer konventionellen symbolischen Bewegung ist das Wort, dieses Ergebnis der Muskelthätigkeit in den Atmungs- und Sprachwerkzeugen. Um den Bewußtseins-Zustand, dessen Ausdruck das Wort ist, zu erraten, muß man gelernt haben, beide mit einander zu verknüpfen, und die durch Selbstbeobachtung gewonnene Erfahrung reicht dazu nicht aus. Der klügste Mensch wird nicht vermuten, daß »Fu« Seligkeit bedeutet, wenn er nicht chinesisch kann.

Die Molekularbewegungen im Gehirn, welche Bewußtseins-Zustände geben, regen also Muskel-Bewegungen an. Diese werden in einem andern Gehirn mit Hilfe seiner Sinne zur Wahrnehmung gebracht; und zwar können dazu alle Sinne dienen. Manche Bewegungen und die von denselben zurückgelassenen Spuren, z. B. die Schrift, wenden sich an den Gesichtssinn, andere an das Gehör, noch andere an das Gefühl. Der Sinn nimmt den Eindruck auf, leitet ihn weiter, regt den Vorgang der Deutung an, das heißt bestimmt ein Zentrum, den Eindruck in eine Vorstellung umzuarbeiten, und versetzt das Bewußtsein in denselben Zustand, dessen Ausdruck die vom Sinne wahrgenommene Muskel-Bewegung war. Mit Anknüpfung an mechanische Vorstellungen kann man denselben Vorgang so darstellen: Durch Bewegungs-Erscheinungen angeregte Veränderungen in den Sinnesnerven veranlassen ihrerseits Veränderungen in den Sinneswahrnehmungs-Organen des Gehirns, welche wieder die Bewußtseinszentren zu Molekularbewegungen bestimmen, deren Form und Stärke bedingt ist durch die Natur der Anregung, also durch die Form und Stärke der Molekularbewegungen des andern Gehirns, welches die Muskelbewegungen veranlaßt hat. So wird mit Hilfe der Muskeln einerseits, der Sinne andererseits der Zustand eines Gehirns auf ein anderes mechanisch übertragen, das heißt die Suggestion ausgeübt.

Damit ein Gehirn auf die geschilderte Weise die Molekularbewegungen eines anderen Gehirns annehme, also dessen Urteile, Vorstellungen, Emotionen und Willensimpulse wiederhole, darf es selbst nicht der Schauplatz eigener Molekularbewegungen von anderer Form und ebenso großer oder größerer Stärke sein, das heißt es darf nicht selbst kräftige Gedankenarbeit liefern, wie ja auch eine schwingende Saite nur eine ruhende oder schwächer bewegte, jedoch weder eine stärker noch eine anders schwingende Saite zum Hervorbringen ihres eigenen Tones anregen kann. Je organisch unbedeutender also ein Gehirn ist, um so leichter folgt es der Bewegungs-Anregung, die von einem andern Gehirn ausgeht; je vollkommener und mächtiger es ist, je lebhafter seine eigenen Bewegungsvorgänge sind, um so größere Widerstände setzt es den fremden entgegen. Unter normalen Verhältnissen übt also das vollkommnere Individuum auf das unvollkommnere eine Suggestion aus, nicht aber umgekehrt. Freilich können sich die Bewegungsvorgänge auch minder vollkommener Gehirne summieren und dadurch eine solche Stärke erlangen, daß sie die Bewegungsvorgänge selbst eines sehr vollkommenen Gehirns besiegen. Wenn große Menschenmassen dieselbe Emotion empfinden und ausdrücken, so können sich selbst geistesstarke und eigenartige Individuen ihr nicht entziehen. Sie werden gezwungen, die Emotion zu teilen, und wenn sie sich noch so sehr anstrengen wollten, das Zustandekommen dieses Bewußtseins-Zustandes durch abweichende Vorstellungen und Urteile zu verhindern. Daß die Suggestion bei hypnotischen Individuen am leichtesten und mit größtem Erfolge geübt wird, erklärt sich daraus, daß in diesem Zustande des Nervensystems die Gehirnmoleküle die geringste eigene Bewegung vollziehen und in einer besonders unstäten Gleichgewichtslage sind, also schon durch den leisesten Anstoß in die durch die Form und Stärke der Anregung bedingte Bewegung versetzt werden können.

Die Sinneseindrücke, durch welche die Suggestion vermittelt wird, können mit Bewußtsein wahrgenommen werden, es ist aber möglich, ja wahrscheinlich, daß im Gehirn fortwährend Molekularbewegungen auch durch solche Sinneseindrücke angeregt sind, deren man sich in keiner Weise bewußt wird. Die Londoner Gesellschaft für psychologische Untersuchungen hat Berichte über Versuche veröffentlicht, die diese Thatsache unzweifelhaft feststellen. Ein Individuum, das in einem Raume mit einem andern ist, zeichnet auf eine schwarze Tafel Figuren, welche sich dieses denkt. Wohlgemerkt, das zeichnende Individuum wendet dem denkenden den Rücken, das letztere spricht auch kein Wort und es findet zwischen den beiden überhaupt kein sinnlich wahrnehmbarer Verkehr statt. In anderen Versuchen schrieb das eine Individuum Worte, Zahlen oder Buchstaben auf, die sich ein anderes dachte. Manchmal gelangen diese Versuche, andere Male mißlangen sie. Immerhin war das Gelingen so häufig, daß man den Zufall ausschließen muß. Die Gesellschaft ist eine ernste und besteht aus Männern von anerkannter Ehrbarkeit und zum Teil von gelehrtem Rufe. Sie giebt sich mit spiritistischem Schwindel nicht ab und wenn sie sich auch durch ihre Forschungen über Geistererscheinungen in ein etwas ungünstiges Licht gesetzt hat, so hätte man dennoch Unrecht, deshalb ihre übrigen Arbeiten gleichfalls gering zu schätzen. Die unbewußte Suggestion kann um so leichter zugegeben werden, als sie einer befriedigenden Erklärung durch sichergestellte Thatsachen zugänglich ist. Jede Vorstellung, die eine Bewegung in sich schließt (und andere Vorstellungen giebt es nicht, da selbst die abgezogensten in letzter Linie sich aus Bewegungs-Bildern zusammensetzen), regt diese Bewegung, wenn auch im denkbar schwächsten Maße, tatsächlich an. Die Muskeln, welche die betreffende Bewegung auszuführen haben, erhalten einen ganz leisen Impuls und die höchsten Zentren werden sich desselben durch den Muskelsinn bewußt, welcher den empfangenen Impuls zurückmeldet. Man muß sich den Vorgang so vorstellen, daß das Gedächtnis, der Verstand und das Urteil, wenn sie eine Vorstellung ausarbeiten, eine Innervation der bei jener eine Rolle spielenden Muskeln anregen und daß die Vorstellung ihre volle Intensität erst erlangt, wenn das Urteil die Mitteilung von der erfolgten Innervation empfängt. Stricker in Wien ist es, der diese Thatsache zuerst genau beobachtet und dargestellt hat, allerdings zunächst bloß im Hinblick auf das Zustandekommen von Lautvorstellungen. Wenn man sich, sagt der gelehrte Experimental-Pathologe, beispielsweise den Buchstaben B denkt, so wird durch diese Vorstellung eine Innervation der Lippenmuskeln angeregt, die am Zustandebringen des Buchstaben B mitwirken. Die Vorstellung »B« ist also thatsächlich ein Bild der Lippenbewegung, durch welche das B hervorgebracht wird, und die Bewegung wird auch, natürlich nur ganz diskret, in den Lippen gespürt. Was Stricker von den Bewegungen der Muskeln des Sprachapparats sagt, das gilt wohl auch von denen aller anderen Muskeln. Wenn im Bewußtsein die Vorstellung des Laufens erscheint, so hat man eine Bewegungsempfindung in den Muskeln der unteren Gliedmaßen u.s.w. Daß nicht jede Vorstellung einer Bewegung sofort die Bewegung selbst zur Folge hat, liegt daran, daß erstens der Impuls, den das bloße Bewegungsbild in die betreffenden Muskeln sendet, zu schwach ist, um deren wirksame Zusammenziehung zu veranlassen, und daß zweitens das Bewußtsein allen Bewegungsbildern, deren Verwirklichung nicht beabsichtigt wird, eine Hemmungsvorstellung entgegensetzt. Ist die Vorstellung eine sehr lebhafte oder hat das Bewußtsein nicht die Kraft und Übung, Hemmungsvorstellungen von hinreichender Intensität auszuarbeiten, so genügt das Bewegungsbild in der That, um wenigstens eine deutlich wahrnehmbare Skizzierung der Bewegung selbst anzuregen. Das gedachte Wort wird gemurmelt; es entsteht ein Selbstgespräch; die gedachte Reihe von Bewegungen wird mit den Händen und Armen angedeutet; man gestikuliert. Selbstgespräch und Gestikulation, diese Eigenschaften lebhafter oder ungenügend zur Selbstbeherrschung erzogener Personen, die aber auch an kaltblütigen und wohlerzogenen Individuen bei besonders starken Erregungen beobachtet werden, sind naheliegende Bestätigungen der Richtigkeit und Allgemeinheit des Strickerschen Gesetzes von den »Bewegungs-Bildern«. Was aber im Selbstgespräch und in der Gestikulation grobsinnlich wahrnehmbar wird, das geschieht fortwährend und bei jeder Vorstellung in ganz geringem, mit unseren Sinnen gewöhnlich in bewußter Weise nicht wahrnehmbarem Maße. Das Wort, das wir uns denken, formen wir thatsächlich mit unseren Sprachorganen; die Bewegung, die wir uns vorstellen, wird von unseren Muskeln andeutungsweise thatsächlich ausgeführt. Da wir nun bloß in Worten und anderen Bewegungsbildern denken, so kann ich sagen, daß wir eigentlich all unsere Gedanken mit Wort und Geberde aussprechen. Die Regel ist freilich, daß dieses unbewußte Selbstgespräch, dieses unbeabsichtigte Geberdenspiel nicht gehört und gesehen wird. Sie würden dies aber sofort werden, wenn wir entweder genug feine Sinne hätten oder Werkzeuge nach Art des Mikroskops und Mikrophons besäßen, welche winzigste Bewegungen der Muskeln des Sprachapparats und der Gliedmaßen, des Gesichts u.s.w. deutlich sicht- und hörbar machten. Wer sagt uns nun, daß unsere Sinne, oder doch die Sinne mancher besonders gearteten Individuen, diese schwächsten Bewegungen nicht dennoch wahrnehmen? Bewußt wird man sich dessen freilich nicht, aber das kann noch nicht als Beweis dienen, daß es nicht wirklich geschieht. Denn wir wissen aus Erfahrung, daß ein Sinneseindruck schon eine gewisse Stärke haben muß, um vom Wahrnehmungszentrum dem Bewußtsein mitgeteilt zu werden, und daß selbst recht starke Sinneseindrücke vom Bewußtsein unbemerkt bleiben, wenn dasselbe ihnen nicht seine Aufmerksamkeit zuwendet, daß aber diese vom nicht genügend angeregten oder nicht aufmerksamen Bewußtsein unbeachtet gelassenen Sinneseindrücke dennoch stattfinden und vom Gehirn außerhalb des Bewußtseins automatisch in emotioneller Weise verarbeitet werden. So ist es also nicht bloß möglich, sondern sehr wahrscheinlich, daß unser Geist ununterbrochen von allen anderen Menschengeistern beeinflußt ist. Vom Bewußtsein unbemerkt, doch von den Hirnzentren wahrgenommen, redet und gestikuliert unsere ganze nahe und ferne menschliche Umgebung auf uns los, Millionen und Millionen leiser Stimmen und seiner Geberden dringen auf uns ein und wir hören im verwirrenden Durcheinander buchstäblich unser eigenes Wort nicht, wenn es nicht mächtig genug ist, um das Gesumme zu übertönen. Das Bewußtsein aller Menschen wirkt auf das unsrige ein, die Molekularbewegungen aller Gehirne teilen sich dem unsrigen mit und es nimmt deren Rhythmus an, wenn es ihnen nicht einen andern von größerer Lebhaftigkeit entgegensetzen kann, obwohl auch ein solcher wohl modifiziert, wenn schon nicht ganz den auf ihn einschwirrenden Rhythmen angepaßt werden dürfte. Das wäre die unbewußte Suggestion. Lassen wir diese nun und kehren zur bewußten zurück, die vielleicht nicht die wichtigere, aber jedenfalls die sicherer zu unserer Kenntnis gelangende ist. Sie wird durch alle Kundgebungen geübt, mittels deren Bewußtseins-Zustände sich ausdrücken, am häufigsten durch das Wort, doch auch durch Handlungen, die man beobachten kann. Der ausgesprochene Gedanke regt nach dem oben erklärten Mechanismus im Gehirn des Lesers oder Hörers denselben Gedanken, die vollzogene Handlung im Willen des Zuschauers dieselbe Handlung an. Nur die Minderheit der Eigenartigen, der Genies, wird sich diesem Einflusse ganz entziehen können. Suggestion ist alle Erziehung, aller Unterricht. Das noch unentwickelte Gehirn des Kindes bildet sich nach den Molekularbewegungs-Anregungen, die ihm von den Eltern und Lehrern beigebracht werden. Durch Suggestion wirkt das Beispiel der Sittlichkeit wie der Verderbtheit. Die Masse eines Volks übt Thaten der Liebe oder des Hasses, der Bildung oder Rohheit, der Menschlichkeit oder Bestialität, je nachdem ihm die einen oder anderen von den gewaltigen Individuen der Epoche suggeriert werden. Was redet man da von Volksseele oder nationalem Charakter? Das sind sinnlose Worte. Der nationale Charakter ist in jedem Zeitalter ein anderer. Die Volksseele wechselt von Tag zu Tag. Will man Beispiele? Hier sind einige. Das deutsche Volk war in der vorigen Generation weichlich sentimental, romantisch schwärmerisch, kurz emotionell. Es ist in der gegenwärtigen hartpraktisch, kühl erwägend, mehr handelnd als sprechend, mehr rechnend als duselnd, kurz kogitationell. Das englische Volk war im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts sittlich entartet; es soff, fluchte, trieb Unzucht und breitete seine Laster im Tageslichte aus; heute ist es zimperlich, nüchtern bis zur Enthaltsamkeit und im höchsten Grade ehrbar; es findet seine Volksideale in Mäßigkeitsvereinen, in Liebeswerken zur Rettung Gefallener, in augenverdrehender Andacht; es vermeidet anstößige Ausdrücke in der Rede und unbescheidene Auffälligkeiten im Thun. Solcher Umschwung ist das Werk kurzer dreißig oder fünfzig Jahre. Wie kann man da glauben und behaupten, die Denkungs- und Handlungsweise eines Volkes sei das Ergebnis bestimmter organischer Eigentümlichkeiten desselben? Solche Eigentümlichkeiten könnten sich nur sehr allmählich in langen Zeiträumen ändern. Es handelt sich da um etwas ganz anderes, was die Völkerpsychologen von Beruf bisher nicht gesehen haben. Es handelt sich um Suggestion. Die großen Menschenerscheinungen innerhalb eines Volkes suggerieren diesem das, was man die Volksseele und den nationalen Charakter nennt und fälschlich für ein Dauerndes und Unwandelbares hält, da es doch fortwährend von einzelnen Geistern umgemodelt wird. Man muß sich den Hergang so vorstellen, daß eine ganz kleine Anzahl von Ausnahmemenschen vor einem Volke oder selbst vor einer Rasse so steht wie Bernheim vor einer hypnotisierten Hysterischen und dem Volke oder der Rasse Gedanken, Gefühle und Handlungen suggeriert, die ohne Widerstand und Kritik nachgedacht, nachempfunden und nachgethan werden, als wären sie im eigenen Bewußtsein der Menge entstanden. Suggerieren jene Ausnahmemenschen Tugend und Heldenmut, so sieht die Welt ein Volk von Gralsrittern und Winkelrieden; suggerieren sie Laster und Erbärmlichkeit, so hat die Weltgeschichte von einem Byzanz der Verfallszeit zu erzählen. Confutse erzieht ein Volk zu Feiglingen, Napoleon der Erste zu Streitern und Siegern. Das Genie formt das Volk nach seinem Ebenbilde und wer die Volksseele studieren will, der hat dies nicht in der Masse, sondern im Gehirn der Führer zu thun. Das, was allerdings im Volke organisch vorgebildet ist, das ist seine größere oder geringere Tüchtigkeit. Wohl wird ihm all sein Denken und Thun suggeriert, aber wenn es ein starkes Volk ist, so wird es der Suggestion intensiv, wenn ein schwächliches, flau gehorchen. Es ist ein Unterschied wie zwischen der Dampfmaschine von tausend und der von einer Pferdekraft: dieselbe Einrichtung, dieselben bewegenden Kräfte, dieselbe Form; aber die eine versetzt Berge und die andere treibt eine Nähmaschine. So ist das eine Volk gewaltig in Tugend und Laster, das andere unbedeutend im Guten wie im Bösen; das eine Volk stellt große, das andere kleine Kräfte in den Dienst seiner Genies. Aber das, was diesen organischen Kräften die Verwendung vorschreibt, ist die Suggestion, die von den Ausnahmemenschen ausgeht. Man spreche darum nicht von der Volksseele, sondern höchstens vom Volksleibe, von der Volksfaust oder dem Volksmagen. Dagegen glaube ich allerdings, daß es organisch in einem Volke liegt, seltener oder, häufiger Genies hervorzubringen, doch ist dies ein Punkt, den ich in einem späteren Kapitel behandeln will.

Die Gleichartigkeit der Anschauungen und Empfindungen innerhalb eines Volks erklärt sich also nicht aus organischer Gleichartigkeit, sondern aus der Suggestion, die auf alle Angehörigen des Volks durch die gleichen Beispiele der Geschichte, die gleichen lebenden Häupter der Nation, das gleiche Schrifttum geübt wird. So erhalten die Bewohner großer Städte die gleiche geistige Physiognomie, obwohl sie in der Regel die verschiedensten Ursprünge haben und einer Unzahl von Stämmen angehören. Ein Berliner, ein Pariser, ein Londoner hat psychologische Eigenschaften, die ihn von allen seiner Stadt fremden Individuen unterscheiden. Können dieselben organisch begründet sein? Unmöglich. Denn die Bevölkerung dieser Städte ist ein Gemisch der mannigfaltigsten ethnischen Bestandteile. Aber sie steht unter dem Einflüsse derselben Suggestionen und zeigt darum notwendig die allen Beobachtern auffallende Übereinstimmung im Thun und Denken. Verirrungen des Geschmacks und der Sitte, moralische Epidemien, Strömungen des Hasses oder der Begeisterung, die zu einer gegebenen Zeit ganze Völker unwiderstehlich fortreißen, werden erst durch die Thatsache der Suggestion begreiflich.

Wir haben gesehen, daß das Hauptmittel der Übertragung von Vorstellungen aus einem Bewußtsein in ein anderes das Wort ist. Das Wort ist aber nur ein konventionelles Symbol von Bewußtseins-Zuständen und hierin liegt eine große, manchmal unbesiegbare Schwierigkeit für die Versinnlichung ganz neuer Vorstellungen. Ein Genie arbeitet in seinem Bewußtsein eine Vorstellung aus, die vor ihm noch nie in einem Gehirn kombiniert worden ist. Wie wird es versuchen, diesen neuen und eigenartigen Bewußtseins-Zustand auszudrücken und anderen sinnlich wahrnehmbar zu machen? Offenbar durch das Wort. Die Bedeutung des Wortes ist aber eine durch Übereinkommen festgestellte. Es versinnlicht einen Bewußtseins-Zustand, der von früher her bekannt ist. Es erweckt im Hörer bloß eine alte, von jeher damit verknüpfte Vorstellung. Wenn der Hörer oder Leser es als Symbol nicht der Vorstellung, welche das Wort bis dahin ausgedrückt hat, sondern einer anderen, ihm noch völlig unbekannten, erfassen soll, so muß mit ihm ein neues Übereinkommen getroffen werden, das Genie muß streben, ihm auf anderem Wege, durch Hinweis auf Ähnlichkeiten oder Gegensätze, den neuen Begriff beizubringen, für den es das alte Wort angewandt hat. Das kann meist nur annähernd, fast nie vollkommen geschehen. Unsere Sprache trägt beinahe in jedem Worte, in jeder Redewendung Spuren dieses Bemühens der eigenartigen Ausnahmemenschen, neue Vorstellungen mit Hilfe der alten Symbole in die Gehirne der Masse zu übertragen. Alle Bildlichkeit des Ausdrucks leitet sich daraus ab. Wenn dieselbe Wurzel, etwa in Minne, zuerst Erinnerung und dann Liebe bedeutet, so läßt sie die Gedankenarbeit eines eigenartigen Geistes erkennen, der, um eine neue Vorstellung, die der selbstlosen, treuen Zärtlichkeit, auszudrücken, sich eines Wortes bedienen mußte, welches bis dahin eine andere, gröbere, aber immerhin mit ihr oberflächlich verwandte Vorstellung ausdrückte, die des bloßen Gedenkens. Jedes Genie bedürfte eigentlich einer neuen, eigenen Sprache, um seine neuen Vorstellungen richtig zu versinnlichen. Dadurch, daß es sich der von ihm vorgefundenen Sprache, das heißt der Symbole von früheren Bewußtseins-Zuständen anderer Individuen, bedienen muß, richtet es oft genug Verwirrung an, da es seinem Worte einen andern Sinn giebt als der Hörer, für den es bis auf weiteres bloß die herkömmliche Bedeutung haben kann. Das Genie füllt recht eigentlich neuen Wein in alte Schläuche, mit dem erschwerenden Umstande, daß der Empfänger des Schlauchs den Wein bloß nach dem Aussehen des Schlauches beurteilen, nicht aber diesen öffnen und seinen Inhalt kosten kann.

Die Natur der Sprache, der Umstand, daß dieselbe alte und älteste Vorstellungen symbolisiert und den Wortwurzeln eine bildliche Bedeutung geben muß, um sie zur Bezeichnung neuer Bewußtseins-Zustände schlecht und recht tauglich zu machen, ist ein mächtiges Hindernis der Übertragung des Denkens eines genialen Gehirns in die Gehirne der Menge. Diese ist notwendig geneigt, die neue bildliche Bedeutung des vom Genie vertieften und in eigenartigem Sinne angewandten Wortes mit dessen alter buchstäblicher Bedeutung zu verwechseln. Die alten und ältesten Vorstellungen leben störend und verwirrend unter den neuen fort, der Volksgeist denkt bei der Erdachse an ein Ding,' das ungefähr wie eine Wagenachse beschaffen sein mag, und beim elektrischen Strome an eine Flüssigkeit, die im Innern eines Drahts dahinströmt wie Wasser in Bleiröhren, und wo das Genie mit dem Worte zu erklären geglaubt hat, da hat es manchmal verdunkelt, da hat es nicht seine eigenen Vorstellungen im fremden Geiste erweckt, sondern solche, die ihnen oft gerade entgegengesetzt sind. Doch das ist wieder eine menschliche Unvollkommenheit, die wir nicht ändern können. Vielleicht entwickelt sich unser Organismus noch so weit, daß die Bewußtseins-Zustände sich nicht mehr durch konventionelle Symbole, sondern direkt ausdrücken. Dann wird das eigenartige Gehirn nicht mehr des Wortes bedürfen, um seine Molekularbewegungen anderen Gehirnen mitzuteilen, es wird möglicherweise genügen, eine Vorstellung klar und bestimmt zu denken, um sie wie Licht oder Elektrizität durch den Raum zu verbreiten und anderen zu suggerieren, und man wird nicht mehr nötig haben, sie in die alten Flicken einer Sprache zu kleiden, die uns zwingt, beispielsweise die Vorstellung eines Alls, dessen Teile wir sind, mit dem Worte Natur auszudrücken, welches ursprünglich die Gebärende bedeutet, uns also die Vorstellung einer Mutter mit allen Attributen der bei der Fortpflanzung nach Säugetierart notwendigen Geschlechtlichkeit nahelegt. Bis wir aber diese fabelhafte Vollkommenheit erreicht haben werden, müssen wir uns schon mit dem Worte begnügen und wir sollten nur ehrlich trachten, einander zu verstehen, so weit uns dies eben möglich ist.Die Wissenschaft schreitet rasch. Als dieses Kapitel im Jahre 1885 geschrieben wurde, war meine Hypothese von der Suggestion etwas ganz neues, ein richtiges Paradoxon. Seitdem sind bloß wenige Jahre verflossen und dieser kurzer Zeitraum hat genügt, um das kühne Paradoxon in eine allgemein angenommene Banalität zu verwandeln, die selbst von der amtlichen Gelehrsamkeit in Akademien und Universitäten nicht mehr bestritten wird.


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