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9. Prometheus.

Liszt schreibt am 30. April 1837 an George Sand:

»Glücklich, hundertmal glücklich der Wanderer! Glücklich, wer nicht einmal durchzogene Pfade nochmals zu durchirren und einmal zurückgelassene Spuren wieder zu betreten hat! Rastlos die Wirklichkeit durcheilend sieht er die Dinge nicht anders als sie scheinen, die Menschen nur so, wie sie sich zeigen. Glücklich, wer die warme Freundeshand zu missen weiß, ehe ihr Druck eisig erstarrt, wer den Tag nicht erwartet, an dem der liebeglühende Blick des geliebten Weibes in nichtige Gleichgiltigkeit sich wandelt! Glücklich endlich, wer mit den Verhältnissen zu brechen versteht, ehe er von ihnen gebrochen wird! Dem Künstler insbesondere kommt es zu, sein Zelt nur für Stunden aufzurichten und sich nirgends für die Dauer niederzulassen!«

Dies war der jugendlich stürmende Sonnengott, und manchen Marsyas richtete er auf diesen Reisen der persönlichen Erforschung künstlerischer wie socialer Zustände in ganz Europa, manchem Midas wuchsen vor den Augen der Welt Eselsohren, – man lese die »Reisebriefe eines Baccalaureus der Tonkunst«, etwas geistvoll Humoristischeres, heiter Ernsteres giebt es nicht.

Was aber erlebte kaum zehn Jahre später ein Künstler, dem noch mehr als einem Rossini sein Tenorist Nourrit ein zweiter ergänzender Genius nothwendig war, um das »Meisterwerk, das dem Haupt des olympischen Gottes entsprungen«, nun auch »der Menge übermittelnd, die Kunst der Kunst, den Geist dem Geiste, das Licht dem Lichte zu verbinden,« – Richard Wagner?

»Wunderbar!« schreibt er aus der Verbannung über den Aufenthalt im Mai 1819 in Weimar. »Wunderbar! Durch dieses seltensten aller Freunde Liebe gewann ich in dem Augenblicke, als ich heimatlos wurde, die wirkliche langersehnte, überall am falschen Orte gesuchte, nie gefundene Heimat für meine Kunst: als ich zum Schweifen in die Ferne verwiesen wurde, zog sich der Weitumhergeschweifte an einen kleinen Ort dauernd zurück, um diesen mir zur Heimat zu schaffen.«

Ihm und jedem anderen wahren Künstler seiner Zeit that er dies nach seiner Uebersiedlung im Jahre 1842. Denn er wußte, daß des Künstlers Heimat nur seine – Kunst ist.

»Ist er denn nicht immer unter Menschen ein Fremdling?« fährt er selbst gegen George Sand fort. »Was er auch treibe, wohin er auch gehe, er fühlt sich überall als Verbannter. Ihm ist, als hätte er einen reineren Himmel, eine wärmere Sonne, bessere Wesen gekannt. Und was kann er thun, um diesem unbegrenzten Leide, diesem unbestimmten Schmerze zu entgehen? Singend muß der Tonkünstler die Welt durchschreiten und im Vorbeieilen ihr seine Gedanken zuwerfen, ohne darnach zu fragen, auf welches Erdreich sie fallen, ob Verunglimpfungen sie ersticken, ob Lorbeern sie spottend bedecken. – Traurig und groß ist die Bestimmung des Künstlers. Eine heilige Gnadenwahl drückt bei seiner Geburt ihr Sigel ihm auf. Nicht er wählt seinen Beruf, sondern sein Beruf wählt ihn und treibt ihn unaufhaltsam vorwärts. So ungünstig auch immerhin die Verhältnisse, der Widerstand der Familie und der Welt, des Elendes traurige Beklemmung, die unüberwindlich scheinenden Hindernisse sein mögen: sein Wille steht fest und bleibt unverwandt dem Pole zugewendet. Und dieser Pol ist ihm die Kunst, ist ihm die sinnliche Wiedergabe des Geheimnisvollen, des Göttlichen im Menschen und in der Natur.

»Der Künstler steht allein. Werfen ihn die Ereignisse in den Schoos der Gesellschaft, so schafft seine Seele inmitten des unharmonischen Treibens sich eine undurchdringliche Einsamkeit, zu der selbst die Menschenstimme keinen Eingang mehr findet. Alle Leidenschaften, welche den Menschen bewegen, die Eitelkeit, der Ehrgeiz, der Neid, die Eifersucht, ja selbst die Liebe bleiben außerhalb des magischen Kreises, der um seine innere Welt sich schließt. Hier, zurückgezogen wie in ein Heiligthum, betrachtet und verehrt er das Ideal, welches sein Leben zu verwirklichen trachtet. Hier erscheinen ihm göttlich unfaßbare Gestalten, Farben, wie sein Auge sie an den schönsten Blumen im Glanze des Lenzes nie sah. Hier hört er die Harmonie der Ewigkeit, deren Cadenz die Welten regiert und in welcher sich alle Stimmen der Schöpfung vereinigen zu einem wunderbaren überirdischen Concerte. Dann ergreift ihn ein heißes Fieber, sein Blut wallt und sein Gehirn durchkreisen tausend verzehrende Gedanken, von welchen ihn nur die heilige Arbeit der Kunst erlösen kann. Er fühlt sich als Beute eines unnennbaren Uebels. Eine unbekannte Macht zwingt ihn, in Worten, Farben oder Tönen das Ideal zu offenbaren, das in ihm lebt und ihn mit einem Durst des Verlangens, mit einer Qual nach Besitz erfüllt, wie kein Mensch sie je für einen Gegenstand einer wirklichen Leidenschaft empfunden hat. Aber sein beendetes Werk, und wenn die ganze Welt ihm Beifall zollt, genügt ihm nur halb. Unzufrieden würde er es vielleicht zernichten, wenn nicht eine neue Erscheinung seinen Blick von dem Geschaffenen abzöge, um ihn von neuem in jene himmlischen schmerzhaften Exstasen zu werfen, die sein Leben zu einem beständigen Ringen nach unerreichbarem Ziel, zu einem fortgesetzten Anstrengen aller Geisteskräfte machen, um sich zur Verwirklichung dessen zu erheben, was er in begnadeten Stunden, in denen die ewige Schönheit sich ihm wolkenlos enthüllt, empfangen hat.«

Und nun schildert er in düsterer Flammenschrift, was heute, in unserem erleuchteten Jahrhundert, social genommen noch immer der Künstler ist und was ihn, den so Gewaltigen und hoch Thronenden, von je und heute mehr denn je, geradezu innerlich verpflichtet, sich auch der geringsten Existenz zu nahen, wenn sie nur wahrhaft nach den Wundern der Kunst lechzt, um diese anderen Wasser des Lebens zu spenden.

»Der Künstler lebt heutigen Tags außerhalb der socialen Gemeinschaft,« schreibt er. »Denn das poetische Element, nämlich das religiöse Ferment der Menschheit, ist aus unseren modernen Staaten verschwunden. Was haben sie, die das Räthsel menschlichen Glücks durch einige ertheilte Privilegien, durch eine unbegrenzte Ausdehnung der Industrie und des egoistischen Wohlseins zu lösen suchen, – was haben sie mit einem Dichter oder Künstler zu schaffen? was kümmern sie sich um diese Menschen, die nutzlos für die Staatsmaschine die Welt durchwandern, um heilige Flammen, edle Gefühle und erhabene Begeisterung zu entzünden, um durch ihre Thaten das unerklärliche Bedürfnis nach Schönheit und Größe zu befriedigen, das mehr oder weniger verschlossen auf dem Urgrunde jeder Seele ruht? Die schönen Zeilen sind nicht mehr, als die blühenden Zweige der Kunst sich über das ganze an ihrem Duft sich berauschende Hellas ausbreiteten. Künstler war damals jeder Bürger. Denn alle, Gesetzgeber, Krieger, Philosophen beschäftigten sich mit der Idee des moralisch, geistig, physisch Schönen. Das Erhabene machte niemanden staunen und große Thaten waren so häufig wie jene Schöpfungen, welche dieselben zugleich darstellten und eingaben.«

»Die mächtige und strenge Kunst des Mittelalters, welche Kathedralen baute und mit Glockenton und Orgelklang die entzückte Bevölkerung zu sich rief,« so endigt er hier, »sie erlosch, als der Glaube sich von neuem belebte. Heute ist die innere Antheilnahme, welche Kunst und Gesellschaft verband, indem sie der einen Kraft und Glanz, der anderen jene tiefen Erschütterungen brachte, sie ist zerstört. Die sociale Kunst ist nicht mehr und ist noch nicht. Wem begegnen wir meistens in unseren Tagen? Bildhauern? Nein, Fabrikanten von Statuen! – Malern? Nein, Fabrikanten von Bildern! – Musikern? Nein, Fabrikanten von Musik! Ueberall Handwerker und nirgends Künstler! Und hieraus entstehen obendrein grausame Qualen für den, der mit dem Stolze und der wilden Unabhängigkeit eines echten Kindes der Kunst geboren ist. Er ist von diesem Fabrikantenschwarm umgeben, der aufmerksam den Launen des großen Haufens und der Phantasie ungebildeter Reichen seine Dienste widmet, vor jedem Winke derselben sich beugt, beugt bis zur Erde, als könnte er ihr nicht nahe genug sein! Er muß sie als seine Brüder aufnehmen, muß sehen, wie die Menge ihn und sie vermengt, ihn und sie mit der gleichen groben Schätzung, mit der gleichen kindischen stumpfen Bewunderung umwindet. Man sage nicht, das seien die Leiden der Eitelkeit und Selbstliebe! Nein, nein, – Sie, die Sie so hoch stehen, daß keine Nebenbuhlerschaft Sie erreichen kann, Sie kennen dies! Die bitteren Thränen, welche unseren Augen entquellen, gehören der Berührung des wahren Gottes, dessen Tempel durch Götzen geschändet ist, um derentwillen das einfältige Volk die Anbetung des lebendigen Gottes verlassen hat, um vor diesen Gottheiten von Schmutz und Stein anbetend ihr Knie zu beugen!«

So redet der Stolz wahrhaft edler Seelen, deren bestes Wollen und Können dem Tand der eitlen Laune und dem glühenden Stier der geistigen Bornirtheit geopfert wird. Und er weiß, daß hier nur helfen kann, was den Griechen half, die persönliche Anschauung edlen Leistens, wahren Könnens.

»Es ist Thatsache, daß gegenwärtig nur wenigen eine gründliche musikalische Bildung eigen ist,« gesteht er sich daher. »Die Majorität ignorirt die ersten Elemente der Kunst und nichts ist selbst in den höheren Kreisen seltener als ernstes Studium unserer Meister. Man begnügt sich von Zeit zu Zeit und ohne Wahl unter einer Menge erbärmlichen Zeugs, das den Geschmack verdirbt und das Ohr an kleinliche Armuth gewöhnt, einige gute Werke zu hören. Im Gegensatz zum Dichter, welcher die Sprache aller spricht und sich überdies nur an Menschen wendet, deren Geist durch classisches Studium gebildet ist, ergeht sich der Musiker in einer geheimnisvollen Sprache, deren Verständnis, wenn nicht besonderes Studium doch zum mindesten einen langgewohnten Umgang mit ihr voraussetzt. Und außerdem hat er noch dem Maler und Bildhauer gegenüber den Nachtheil, daß diese sich mehr an das Formgefühl wenden, welches viel allgemeiner ist als das innerste Verständnis für die Natur und das Gefühl für das Unermessene, welche das Wesen der Musik sind.«

Ebenso sicher ist aber schon damals sein auf persönlichster Erfahrung begründetes Bewußtsein, daß wie die Photographie heutzutage allen und jeden Kreisen auch den Bildungsschatz vermittelt, der in den bildenden Künsten ruht, das Clavier dazu geeignet sei, »den Säenden ernten, den Schätzesammelnden genießen und Denjenigen, welcher Gedanken des Heils empfängt, auch ihr Lebendigwerden erleben zu lassen.«

Er schreibt schon mit 25 Jahren an Adolf Pictet, warum derselbe erstaunt sei, ihn ausschließlich mit dem Claviere beschäftigt zu sehen? Er ahne kaum, daß damit ein empfindlicher Punkt seines ganzen Daseins berührt werde. »Sie wissen nicht,« sagt er, »daß mir vom Verlassen des Clavieres sprechen so viel ist als mir einen Tag der Trübsal zeigen, mir das Licht rauben, das einen ganzen ersten Theil meines Lebens erhellt und untrennbar mit ihm verwachsen ist. Denn sehen Sie, mein Clavier ist mir, was dem Seemann seine Fregatte, dem Araber sein Pferd ist, – mehr noch, es war ja bis jetzt mein Ich, meine Sprache, mein Leben! Es ist der Bewahrer alles dessen, was mein Innerstes in den heißen Tagen meiner Jugend bewegt hat. Ihm hinterlasse ich alle meine Wünsche, meine Träume, meine Freuden und Leiden. Seine Saiten erbebten unter meinen Leidenschaften und seine gefügigen Tasten haben jeder Laune gehorcht. Können Sie wollen, daß ich es verlasse, um nach glanzvolleren und klingenderen Erfolgen aus dem Theater oder im Orchester zu jagen? O nein! Selbst angenommen, daß ich für derartige Harmonien schon reif genug wäre, selbst dann bleibt es mein fester Entschluß, das Studium und die Entwicklung des Clavierspieles erst aufzugeben, wenn ich alles gethan haben werde, was nur irgend ausführbar ist, was mir heutzutage zu erreichen möglich ist.«

Dabei deckt er nun tiefe Ahnungen auf, die uns Heutigen von um so lebendigerem Interesse und höherer Bedeutung sind, als wir wissen, daß sie ihn – nicht getäuscht haben.

»Vielleicht befängt mich der geheimnisvolle Zug, der mich sosehr an dasselbe fesselt,« schreibt er, » aber ich halte das Clavier für sehr wichtig! Es nimmt nach meiner Ansicht die erste Stelle in der Hierarchie der Instrumente ein: es wird am meisten gepflegt und ist am weitesten verbreitet. Diese Wichtigkeit und Popularität verdankt es der harmonischen Macht, welche es fast ausschliesslich besitzt und infolge deren es auch die Fähigkeit hat, die ganze Tonkunst in sich zusammenzufassen und zu verdichten. Im Umfang seiner sieben Octaven umschließt es den ganzen Bereich eines Orchesters, und die zehn Finger genügen, um die Harmonie wiederzugeben, welche durch den Verein von Hunderten von Musicirenden hervorgebracht werden. Durch seine Vermittelung wird es möglich Werke zu verbreiten, die sonst von den Meisten wegen der Schwierigkeit ein Orchester zu versammeln ungekannt bleiben würden. Es ist sonach der Orchestercomposition das, was der Stahlstich der Malerei ist, welche er vervielfältigt und übermittelt. Und entbehrt es gleich der Farbe, so ist es doch im Stande Licht und Schatten wiederzugeben.«

Und um so das Ziel zu erreichen, die »segenduftenden Schwingen« einer Kunst, welche man mit Recht als die Idee der Welt, die Seele der Menschheit selbst bezeichnet hat, auch über die ganze lebende Mitwelt und Nachwelt ausgebreitet zu sehen, setzte er sich dann nach seiner Virtuosenlaufbahn zur Ruhe, nein zurecht, und gründete jenes »Weimar.« Denn es mußte dasselbe Deutschland sein, von dem er selbst schon 1838 an seinen Freund Berlioz geschrieben hatte, das Studium der Kunst sei hier im allgemeinen weniger oberflächlich, das Gefühl wahrer, die Gewohnheiten besser: »Mozarts, Beethovens und Webers Ueberlieferungen sind nicht verloren gegangen, diese drei Genien haben in Deutschland mächtig Wurzel gefaßt!« Ohne dieses Weimar aber bestände heute gewiß keine Vortragskunst, welche der Anschauung und Leistung wie der modernen so der classischen Production ebenbürtig wäre. Ja selbst »München« und »Bayreuth«, wie wären sie ohne die Meister-Schüler möglich gewesen, die von diesem Claviere aus Liszt zu jeder Art ausdrucksvoller, schwunghafter, zündender Darstellung des Einzelnsten wie des Ganzen bildete!

Wir geben, um nun zum Schlusse auch die gleichsam sinnenhafte Anschauung dieses moralisch nur künstlerisch gleich fruchtbringenden und weitreichenden persönlichen Einwirkens des stets jugendlichen Altmeisters zu bereiten, zunächst die lebendig schildernde Skizze eines Kindes dieser Weimarer Hochschule selbst und dann die Reihe der Meister-Schüler, die Liszt gebildet hat und die ihm fortwährend mehr sein ideales Wünschen und Hoffen zur That und Wahrheit machen helfen.

» Musikstudien in Deutschland«, so berichtete die Allgemeine deutsche Musikzeitung von 1881, »betitelt sich ein in Amerika sehr verbreitetes, elegant und geistvoll geschriebenes kleines Buch. Es ist kürzlich auch deutsch erschienen (Berlin, R. Oppenheim). Es sind Briefe, welche die amerikanische Verfasserin, Miß Amy Fay, von Deutschland aus, während ihrer Studien bei Tausig, Kullak, Deppe, Liszt in ihre Heimat gerichtet hat. Sie bekunden nicht nur ein großes Verständnis für Musik und Kunst im allgemeinen, sondern auch eine außergewöhnliche Menschenkenntnis. Miß Fay hat Empfinden für die feinsten Regungen der Seele. Mit wahrhaft stereoskopischer Treue versteht sie die großen Eigenschaften und die kleinen Eigenheiten der bedeutenden Männer, mit denen das Glück sie in Berührung brachte, zu zeichnen. Von dem vielen Schönen und Reizvollen, das die Briefe enthalten, müssen natürlich diejenigen, die von Liszt erzählen, das größte allgemeinste und auch nachhaltigste Interesse erwecken. Wir wählen aus ihnen einige kleine Proben, weil wir wissen, daß die Gefühle der Verehrung, der Liebe, der staunenden Bewunderung, welche die Verfasserin für Liszt hegt, in tausend und aber tausend Herzen mächtig wiederklingen werden.

»Miß Fay sah den Meister zuerst in Weimar im Theater mit drei Damen, von denen eine sehr hübsch war. Er saß, so erzählt sie, mit dem Rücken gegen die Bühne, augenscheinlich dem Spiele nicht die leiseste Aufmerksamkeit schenkend, denn er plauderte beständig, und doch entging ihm auch die kleinste Nuance nicht, wie ich an seinem Gesichtsausdruck wahrnehmen konnte. Liszt ist der denkbar interessanteste und dabei sofort den bedeutendsten Eindruck machende Mann, groß und schlank, mit tiefliegenden Augen, buschigen Augenbrauen und langem grauen Haare. Sein Mund geht an den Winkeln etwas in die Höhe, was ihm, sobald er lacht, einen feinen mephistophelischen Ausdruck giebt. Seine Hände sind sehr schmal, mit langen schlanken Fingern, die aussehen, als hätte er doppelt so viel Gelenke wie andere Leute. Sie sind so beweglich und biegsam, daß es einen fast nervös macht, sie anzusehen. Die Eleganz seiner Manieren ist unvergleichlich. Wenn er in der Loge aufstand, z. B. legte er, nachdem er sich von den Damen verabschiedet, die Hand auf sein Herz und machte eine leichte Verbeugung, – nicht mit Affektation oder aus bloßer Galanterie, nein mit jener ruhigen Höflichkeit, die einem das Bewußtsein gab, daß keine andere Form sich vor einer Dame zu verbeugen, recht und geeignet wäre. Es war ganz charakteristisch. Aber das Außerordentlichste an Liszt ist der wunderbare Wechsel seines ausdrucksvollen Mienenspiels. Einen Augenblick sieht er dichtend, träumerisch, tragisch aus, den nächsten einschmeichelnd, liebenswürdig, ironisch, sarkastisch. Immer aber dieselbe fesselnde Grazie seiner Manieren! Er ist eine vollkommene Studie. Er ist ganz Geist, aber ich möchte glauben, die Hälfte der Zeit wenigstens ein spottender Geist. Ganz Weimar betet ihn an und sie sagen, daß die Frauen noch immer vollkommen närrisch um ihn werden. Wenn er ausgeht, grüßt ihn wie einen König Jedermann. Liszt sieht aus, als wäre er durch Alles gegangen. Sein Antlitz ist gleichsam mit Erfahrungen bedeckt. Er trägt einen längeren Abbe-Rock, der fast bis zu seinen Füßen reicht. Er gemahnt mich an die Magier alter Zeiten, und es war mir, als könnte er mit einer Berührung seines Zauberstabes uns alle verwandeln.

»Die Empfehlungen der Frau Gräfin von Schleinitz verschafften der Verfasserin Zutritt zu Liszt. Sie fährt fort: Morgen soll ich ihm meine Aufwartung machen, obgleich ich nicht weiß, wie der Löwe sein wird, wenn ich ihn in seiner Höhle aufsuche. Ich brachte die H-moll-Sonate von Chopin und wollte nur den ersten Theil spielen, denn er ist sehr schwierig und es bedurfte schon all meiner Arbeitskraft, um nur diesen vorzubereiten. Aber Liszt vorspielen erinnert mich an den Versuch, den Elephanten im zoologischen Garten mit Stücken Zucker füttern zu wollen. Er herrscht über alle Dinge, als wenn sie ihm nichts wären, und verlangt ernsthaft noch mehr. Glücklicherweise begann einer meiner Finger zu bluten und dies gab unreinen schicklichen Vorwand um aufzuhören. Liszt setzte sich selbst hin und spielte die drei letzten Sätze. Es war das erste Mal, daß ich ihn hörte, und ich wußte nicht, welchem Theile ich den Vorzug geben sollte, dem Scherzo mit seiner wundervollen Beweglichkeit und Leichtigkeit, dem Adagio mit seiner Tiefe und seinem Pathos oder dem Finale, bei dem die ganze Claviatur zu donnern und zu blitzen schien. So völlig Leben ist alles, was er spielt, daß es scheint, als sei es nicht nur Musik, der wir lauschen, sondern als hätte er eine wirkliche Gestalt wach gerufen, die wir vor unseren Augen athmen sehen. Es giebt mir allemal eine geisterhafte Empfindung ihn zu hören, ich glaube die Luft mit Geistern bevölkert. Ach! er ist ein vollkommener Zauberer! Es ist aber ebenso anziehend, ihn zu sehen wie ihn zu hören. Denn sein Gesicht verändert sich bei jeder Modulation des Stückes: er sieht genau so aus, wie er spielt. Etwas ist in ihm, das vollständig gefangennimmt: eine Art zartfeiner, zufälliger Lustigkeit, die hie und da auf euch herableuchtet. Es ist etwas ganz Eigenthümliches und wenn er in dieser Weise spielt, so kommt der bezauberndste Ausdruck über sein Antlitz. Es scheint, als ob ein kleiner neckischer Kobold hervorblitzte und Versteckens mit euch spielte.

»Freitag kam Liszt und machte mir einen Besuch, spielte sogar ein wenig auf meinem Clavier. Denkt nur, solche Ehre! Gleichzeitig lud er mich für den Sonntag zu einer Matinée ein, die er zu Ehren einer durchreisenden Gräfin gab ... Er spielte fünfmal, die letzten Male vierhändig mit Kapellmeister Lassen, und forderte mich auf, die Noten umzuwenden. Großer Gott! Wie liest er! Es ist schwer ihm umzublättern. Er liest immer so weit voraus und übersieht mit einem Blick fünf Takte, so daß man errathen muß, wenn man glaubt, daß er das Blatt umgewendet haben will: einmal drehte ich zu spät, das andere Mal zu früh um. Nicht ganz die Situation für mich Schüchterne!

»Zu Hause trägt Liszt den längeren Abbe-Rock nicht, sondern einen kurzen, der ihm ein viel künstlerischeres Aussehen giebt. Es ist so köstlich in diesem seinem Heim. Die Frau Großherzogin von Weimar selbst hat es für ihn möbliren und einrichten lassen. Die Wände sind lichtgrau mit goldenen Leisten, die rings um das Zimmer laufen. Es sind eigentlich zwei Zimmer, welche durch rothe Vorhänge in der Mitte getheilt, aber nicht getrennt werden. Die Möbel sind dunkelroth, und jedes einzelne ist so comfortabel, ein großer Gegensatz zu der gewöhnlichen deutschen Dürftigkeit und Steifheit. Ein prachtvoller großer Flügel steht an einem Fenster. Ein anderes Fenster ist stets weit offen und geht auf den Park, da ist ein Taubenschlag gegenüber, und die Tauben promeniren auf und nieder auf dem Dache und fliegen auf und schwirren mitunter bis zum Fenstersims, das erfreut Liszt. Sein Schreibtisch ist reizend ausgestattet mit Dingen, die alle übereinstimmen. Alles ist von Bronce: Tintenfaß, Briefbeschwerer, Feuerzeug u. s. w. Stets ist eine der Kerzen angezündet, an der die Herren ihre Cigarren anzünden können. Ein Teppich – Seltenheit in Deutschland! – bedeckt den ganzen Fußboden. Liszt geht gewöhnlich umher, raucht, spricht und ruft den Einen oder den Anderen von uns zum Spielen auf. Von Zeit zu Zeit setzt er sich auch hin und spielt selbst, wenn ihm eine Passage nicht recht ist, und wenn er guter Laune, macht er die ganze Zeit über kleine humoristische Bemerkungen. Sein Spiel war eine vollkommene Offenbarung für mich und hat mir eine ganz neue Einsicht in die Musik verschafft. Ihr könnt nicht begreifen, ohne ihn zu hören, wie poetisch er ist. Und die tausend Schattirungen, die er über das simpelste Ding ausstreut! Er ist gleich groß nach allen Seiten. Vom Zephyr bis zum Sturm gebietet er über die ganze Skala.

»Aber Liszt ist nicht im geringsten wie ein Lehrer und kann auch nicht als ein solcher angesehen werden. Er ist ein Monarch, und wenn er sein königliches Scepter ausstreckt, so mögt ihr euch hinsetzen und ihm vorspielen. Ihr dürft ihn niemals auffordern euch etwas vorzuspielen, so heiß euer Herz auch darnach verlangt. Ihr könnt euch auch nicht anbieten, selbst zu spielen. Ihr legt die Noten auf den Tisch, damit er sieht, ihr wünscht zu spielen und setzt euch. Er geht auf und ab, betrachtet die Noten, und wenn ein Stück ihn interessirt, ruft er euch auf.

»Gestern hatte ich Au bord d'une source vorbereitet. Ich war nervös und spielte schlecht. Er wurde gleichwohl nicht ärgerlich, sondern setzte sich hin und spielte das ganze Stück selbst, ach! so wundervoll! Ich kam mir wie ein Holzhacker vor. Die Noten schienen sich von seinen Fingerspitzen zu kräuseln mit fast unmerklicher Bewegung. Als er sich dem Ende näherte, sah ich den feinen schalkhaften Ausdruck über seine Züge gleiten, den er immer annimmt, wenn er überraschen will, und plötzlich greift er einen unerwarteten Ton und extemporirt einen poetischen kleinen Schluß, ganz verschieden von dem geschriebenen. Könnt ihr euch verwundern, daß die Menschen verrückt werden über ihn? –

»Eine bedeutende Schülerin Henselt's war angekommen und hatte sich bei Liszt unter großem Beifall hören lassen. Miß Fay fährt fort: Sie spielte mit vielem Aplomb, obgleich ihr Anschlag eine gewisse Härte hatte. Aber – alles Spiel klingt trocken neben dem Liszts, denn seines ist lebende, athmende Verwirklichung von Poesie, Leidenschaft, Grazie, Witz, Koketterie, Trotz, Zärtlichkeit und allen nur denkbaren bezaubernden Eigenschaften.

»Wenn ich bei ihm war, bin ich meist geneigt, mich aufzuhängen. Ach! er ist nach allen Richtungen hin das phänomenalste Wesen. Was ihr auch je gehört haben mögt, es kann euch doch nichts eine Idee von ihm geben. Kurz und gut, er repräsentirt die ganze Skala menschlicher Leidenschaften. Er ist ein vollständiges Prisma und strahlt das Licht in allen Farben zurück, gleichviel wie ihr ihn erblickt. Seine Schüler beten ihn an, wie in Wahrheit jedermann thut. Denn etwas Anderes ist ganz unmöglich, gegenüber einem Wesen, dessen Genius zu allen Zeiten und überall hervorbricht und dessen Charakter ein so überaus einnehmender ist.

»An einem Tage dieser Woche, als wir bei Liszt waren, fanden wir ihn so gut gelaunt, daß es schien, als wäre er plötzlich um zwanzig Jahre verjüngt. Ein Schüler des Stuttgarter Conservatoriums, Herr V., spielte ein Concert. Während der ganzen Zeit unterhielt Liszt ein kleines satyrisches Feuer, aber in gutmüthiger Weise. Alles, was er sagt, ist so treffend. An einer Stelle, als V. die Melodie schwach, fast undeutlich spielte, nahm Liszt plötzlich seinen Sitz am Flügel ein und sagte: ›Wenn ich spiele, so spiele ich allemal für das Volk auf der Galerie, sodaß die Leute, die nur fünf Groschen für ihren Platz zahlen, auch was hören.‹ Dann begann er, und o! wie wünschte ich, daß ihr es vernommen hättet! Der Ton schien nicht laut zu sein, aber er war weittragend und drang durch. Als er geendet hatte, hob er eine Hand in die Luft und man glaubte ordentlich das Volk auf der Galerie zu sehen, wie es den Ton aufsog. Dies ist die Art, wie Liszt lehrt. Er vergegenwärtigt euch eine Idee und diese nimmt Besitz von eurem Geiste und haftet da fest. Musik ist ein so wirkliches sichtbares Ding für ihn, daß er stets augenblicklich auch in der wirklichen Welt ein Sinnbild findet, nur seine Ideen auszudrücken.

»Wie er es ertragen kann, uns spielen zu hören, ist mir unbegreiflich. Ich versichere euch, wie schön wir auch irgend ein Stück wiedergeben, im Augenblick, da Liszt es spielt, ist es nicht wiederzuerkennen. Sein Anschlag und die besondere Art des Pedalgebrauchs sind zwei Geheimnisse seines Spieles, und dann dringt er tief in die verborgensten Gedanken des Componisten und holt sie herauf an die Oberfläche, sodaß sie herunterleuchten auf euch, einer nach dem andern, gleich Sternen.

»Je mehr ich von Liszt sehe und höre, um so mehr wächst mein Erstaunen! Ich kann weder essen noch schlafen an den Tagen, an denen ich zu ihm gehe. – – Ich muß oft an das denken, was Tausig eines Tages zu mir sagte: ›Ach, mit Liszt verglichen, sind wir andern Künstler doch nur Lumpen.‹ Damals glaubte ichs nicht, aber jetzt sehe ich, daß er Recht hatte.

»Liszt macht oft so bezaubernde kleine Sachen! Neulich z. B. spielte Fräulein Gaul ihm etwas vor und da kamen zwei Läufe und nach jedem Laufe zwei Staccatoaccorde. Sie machte sie sehr schön und schlug die Accorde unmittelbar darauf an.

»Nein, nein! sagte Liszt. Nachdem Sie einen Lauf gemacht haben, müssen Sie eine Minute warten, bevor Sie den Accord anschlagen, wie in Bewunderung Ihrer eigenen Ausführung. Sie müssen pausiren, als wollten Sie sagen, wie nett habe ich das gemacht! – Dann setzte er sich nieder und machte selbst einen Lauf, wartete eine Secunde und schlug dann zwei Accorde scharf an, gleichzeitig sagend: ›Bra-vo,‹ spielte wieder, nahm die anderen Accorde und sagte abermals: ›Bra-vo!‹ Und wirklich es war, als ob das Clavier sanft applaudirt hätte! In dieser Art spielt er jedes Stück; und es ist als ob das Instrument mit menschlicher Zunge redete.

»Nichts kommt seinem Beethoven-Spiele gleich. Wenn er eine Sonate spielt, so ist es, als wenn die Composition vom Tode auferweckt würde und verklärt vor euch stände. Man fragt sich: ›Habe ich das je gespielt?‹

»Einst bat Miß Fay den Meister, ihr zu sagen, wie er einen ganz bestimmten Effect bei einer seiner großen Passagen hervorbringe. Er lächelte und spielte sofort die ganze Passage. ›O, ich habe viele Dinge erfunden,‹ sagte er leicht hin, › dies zum Beispiel!‹ Und nun begann er einen doppelten chromatischen Octavenlauf im Basse. Es war großartig und wiederhallte durch das ganze Zimmer. ›Herrlich, herrlich‹ sagte ich. ›Haben Sie mich je den Sturm nachahmen hören?‹ fragte er. ›Nein.‹ ›Ah, Sie sollten mich einen Sturm spielen hören, Stürme sind meine Force!‹ Dann zu sich selbst zwischen den Zähnen, während sein Auge leuchtete wie das eines Zauberers, als ob er in Wirklichkeit dem Winde gebieten könnte: › Da krachen die Bäume.‹ Wie heiß wünschte ich, er möchte den Sturm spielen. Aber er that es nicht. Ach, daß wir armen Sterblichen hier unten so oft Moses' Schicksal theilen müssen und nur einen Blick in das verheißene Land werfen dürfen, und dies noch ohne den Trost, ein Moses zu sein.

»Mitunter spielt Liszt auch einmal einen falschen Ton, aber das beirrt ihn nicht im geringsten. Im Gegentheil, es vergnügt ihn eher, wenn er einmal fehl greift, da es ihm Gelegenheit giebt, sein Genie zu entfalten und der Sache eine solche Wendung zu geben, daß die falsche Note als der Leitton zu neuer unerwarteter Schönheit dient. Etwas Aehnliches passirte ihm in einer der Sonntags-Matinéen, als das Zimmer voll des gewähltesten Publicums und seiner Schüler war. Er arpeggirte in großartiger Weise vom Baß nach oben über die Claviatur, wobei er einen halben Ton tiefer ankam, als er beabsichtigte. Ich hielt den Athem an und war neugierig, ob er uns mitten in der Luft, die Harmonie unaufgelöst lassen oder ob er sich der Demüthigung unterwerfen werde, sich zu verbessern, gleich gewöhnlichen Sterblichen. Ein halbes Lächeln glitt über sein Gesicht, als ob er sagen wollte: ›Denkt nur nicht, daß solch eine Kleinigkeit mich bekümmert,‹ und augenblicklich rollte er das Clavier herunter, in Harmonie mit dem fälschlich angeschlagenen Ton, und dann ging er frei hinauf in einer zweiten großen Passage, aber diesmal bis zur richtigen Note. Niemals habe ich eine herrlichere Probe von Sicherheit gesehen. Es war so klug gewandt und so völlig charakteristisch für Liszt! Statt daß er euch Gelegenheit gab zu sagen: ›Er hat einen Fehler gemacht,‹ zwang er euch zu sagen: ›Er zeigt uns, wie man sich aus der Verlegenheit ziehen müsse.‹

»An einem andern Tage hörte ich ihn von einem Stücke ins andere gehen, indem er aus dem Finale des ersten ein Vorspiel zum zweiten machte. So wunderbar waren die beiden ineinander gewebt, daß man kaum wahrnehmen konnte, wo das eine aufhörte und das andere anfing. – Ach, welch leichte Grazie! Niemand wird ihm je gleichkommen! In solch rollenden Bässen, solch duftigem Discant ( Those rolling basses and those flowery trebles). Und dann seine Adagios! Wenn man ihn da hört, so fühlt man, daß sein Spiel auf einer Höhe steht, wo es von allen Erdenschlacken geläutert, nur mehr ein Aushauchen der gerade zum Himmel emporsteigenden Seele ist.

»Das kleine Buch bringt noch so viel des Schönen, daß wir uns gewaltsam zwingen müssen, aufzuhören. Aber einen reizenden Zug Liszts noch wiederzugeben, können wir uns zum Schlusse nicht versagen.

»Miß Fay berichtet: Gottschalg, Organist in Weimar, sagte mir, daß Tausig einmal, als er in Geldverlegenheit war, die Partitur zu Liszts ›Faust‹ und einen Haufen eigener Noten für fünf Thaler einem Diener verkauft habe. Gottschalg, der zufällig davon hörte, kaufte sie sofort zurück. Dann ging er zu Liszt in der Absicht, ihm zu sagen, daß er die Partitur habe. Zufällig hatte am selben Tage der Verleger darum geschrieben, und Liszt suchte überall darnach und kehrte das ganze Haus um. – – – Er befand sich in einer entsetzlichen Stimmung, weil die Partitur sich nirgends fand. ›Die Arbeit eines ganzen Jahres verloren,‹ rief er und war in solcher Wuth, daß er, als Gottschalg ihn zum dritten Male fragte, wonach er suche, sich umwandte, mit dem Fuße aufstampfte und sagte: ›Sie verwünschter Kerl, können Sie mich nicht in Frieden lassen, müssen Sie mich mit Ihren dummen Fragen quälen?‹ Gottschalg wußte wohl, was fehlte, aber wollte seinen kleinen Scherz haben. Endlich hatte er Mitleid mit Liszt und sagte: ›Herr Doctor, ich weiß was Sie verloren haben, die Partitur zum Faust.‹ ›O –‹ sagte Liszt, augenblicklich seinen Ton ändernd – ›wissen Sie etwas von ihr?‹ ›Natürlich!‹ – sagte Gottschalg – und erzählte Tausigs Streich und wie er die kostbare Musik wieder erlangt hatte. Liszt war außer sich vor Freude und rief aus: ›Wir sind gerettet, Gottschalg hat uns gerettet.‹ Und dann berichtete Gottschalg, daß Liszt ihn in seinem Entzücken umarmt und sich nicht habe genug thun können, um seine vorige Heftigkeit wirklich gut zu machen. Nun, man sollte denken, daß es jetzt mit Meister Tausig aus gewesen wäre! Aber ganz und gar nicht! Wenig Tage darauf war Tausigs Geburtstag. Madame C. nahm Gottschalg bei Seite und bat ihn die Sache mit den gestohlenen Noten fallen zu lassen, denn Liszt hänge so an seinem Carl, daß er die Geschichte zu vergessen wünsche. Kurz, Liszt küßte Carl und gratulirte ihm zu seinem Geburtstage, er tröstete sich mit seiner alten Behauptung: ›Du wirst entweder ein großer Lump, mein kleiner Carl, oder ein großer Meister!‹

»O – du liebenswürdiger großer Meister Liszt!«

So schließt unser Bericht über das liebenswürdige Buch, dem seit den »seelenvollen Phantasien« Bettina's über Beethoven von Frauenhand nichts an die Seite zu setzen ist.

So folge denn zuletzt und zwar nach des Meisters eigener Approbation, wie sie als Facsimile unser Werkchen krönt, ein Verzeichnis der hauptsächlichsten Schüler Liszts. Wir leiten dasselbe mit einem Spruche des Meisters ein, welcher beweist, wie sehr in jeder Weise ihm jenes Wort Beethovens gegen Bettina über die Musik: »Auch ihr liegen die hohen Zeichen des Moralsinns zu Grunde!« Wahrheit und Wollen zugleich geworden. Es lautet:

»Zu den höheren Aufgaben der Kunst gehört es, den Heldenmuth nicht nur darzustellen oder zu besingen, – sondern einzuflößen. Dafür sollen die Künstler ihn empfinden, bewahren und als segnende Flamme verbreiten.

Weymar, März 18[***]9.
F. Liszt.«

Die Hauptschüler Liszts.

Hans von Bülow, Intendant in Meiningen.

Carl Tausig. †

Franz Bendel. †

Hans von Bronsart, Intendant in Hannover.

Carl Klindworth, Professor am Moskauer Conservatorium.

Alexander Winterberger, Professor am St. Petersburger Conservatorium.

Julius Reubke.

Theodor Ratzenberger. †

Robert Pflughaupt. †

Friedrich Altschul.

Nicolaus Neilissoff. †

Carl Bärmann, Professor am Münchener Conservatorium.

Dionys Pruckner, Professor am Stuttgarter Conservatorium.

Ferdinand Schreiber.

Louis Rothfeld.

I. Sipoß, Leiter einer Musikschule in Budapest.

George Leitert.

Julius Richter.

Louis Jungmann in Weimar.

William Mason, New-York.

Max Pinner, New-York.

Jules Zarembsky, Professor am Brüsseler Conservatorium.

G. Sgambati, Professor am Liceo di Roma.

Carlo Lippi, Professor am Liceo di Roma.

Siegfried Langgaard, Dänemark.

Carl Pohlig.

Arthur Friedheim.

L. Marek in Lemberg.

F. Reuß in Baden-Baden.

Bertrand Roth, Professor am Frankfurter Conservatorium.

Kellermann.

Carl Stasny.

Josef Wieniawsky.

Ingeborg Stark-Bronsart.

Sophie Menter-Popper.

Sophie Pflughaupt. †

Aline Hundt. †

Pauline Fichtner-Erdmannsdörfer.

Ahrenda Blume.

Anna Mehlig.

Vera Timanoff, Rußland.

Martha Rennnert.

Sara Magnus-Heinze.

Dora Petersen.

Ilonka Kavacz, Ungarn.

Cäcilia Gaul, Amerika.

Marie Breidenstein in Erfurt.

Amy Fay, Amerika.

Sowohl hier wie bei dem letztverzeichneten der Schüler hat der Meister selbst »etc. etc.« hinzugeschrieben. – Ueber sein segensreiches praktische Wirken ins Große und Ganze der Kunst als Präsident des »Allgemeinen deutschen Musikvereins« giebt noch einen Einblick wenigstens für das letzte Lustrum das Kapitel »Liszt und die Gegenwart« in dem Buche » Mosaik. Für Musikalisch-Gebildete« (Leipzig 1882). Seine erste ausführliche Biographie heißt » Franz Liszt. Als Künstler und Mensch. Von L. Ramann«, 1. Band. Leipzig 1880. Ihr sind ebendaselbst seine so werthvollen Gesammelten Schriften gefolgt.

 

Ende

 


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